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Richard Wagner ┼
Der Schriftsteller und Essayist aus dem Banat gestorben
Foto: Bodil Zalesky
Am 14. März 2023 verstarb nach langer Krankheit in Berlin, wo er seit der Ausreise aus Rumänien wohnte, der aus Lowrin im Banat gebürtige und in Permajosch (Periam) aufgewachsene Schriftsteller, Lyriker und Essayist Richard Wagner. Wagner war Mitbegründer und primus inter pares der Schriftstellergruppe Aktionsgruppe Banat im kommunistischen Rumänien und etablierte sich nach seiner Ausreise 1987 in der Bundesrepublik und danach im vereinigten Deutschland als Autor von Romanen, Gedichtbänden und ebenso geistreicher wie scharfzüngiger Kritiker der neudeutschen Verhältnisse.
Als Schüler im Lyzeum von Großsanktnikolaus machte Wagner bereits durch Gedichte und Erzählungen auf sich aufmerksam, ebenso wie einige seiner Mitschüler, mit denen er 1972 die Aktionsgruppe Banat ins Leben rief. In dieser Gruppe von 9 Autoren wurden mit Unterstützung von Kritikern wie dem kürzlich verstorbenen Gerhardt Csejka erstaunlich moderne und aktuelle Formen von Literatur entwickelt und publiziert. Kritisch setzten sich die Aktionsgruppler mit ihrer Realität auseinander, indem sie eigene Ansprüche an die Literatur und Gesellschaft ihrer Gegenwart entwickelten und deutlich formulierten. 1973 erschien mit Klartext der erste Gedichtband Wagners, dem noch mehrere in Rumänien folgten (Hotel California I u. II). Zudem betätigte sich der mittlerweile Studierende zu einem vielseitigen Publizisten und Autor, der im Sog der Jugendrevolution findig und mutig die Grenzen des Sag- und Machbaren im kommunistischen Regime austestete. Nach der Zerschlagung der Aktionsgruppe 1975 unternahm bis zur Ausreise 1987 mit seiner damaligen Ehefrau Herta Müller Wagner noch mehrere Versuche der Weiterführung der Freundesgruppe in den literarischen Institutionen Temeswars.
In der Bundesrepublik angekommen stand mit dem Niedergang des Ceaușescu-Regimes vielfach das politische Engagement und
die Aufklärung einer weitgehend ahnungslosen bundesrepublikanischen Gesellschaft über Geschichte und Politik Rumäniens im Fokus der Aktivitäten Wagners und auch seiner früheren Kollegen aus der
Aktionsgruppe. So entstanden im Rotbuch Verlag mehrere aktuelle Darstellungen, in denen bereits zahlreiche Motive und Gedanken Wagners über die europäischen Verhältnisse aufscheinen (Sonderweg Rumänien. Bericht aus einem Entwicklungsland (1991); Völker ohne Signale. Zum Epochenbruch in Osteuropa
(1992); Mythendämmerung. Einwürfe eines Mitteleuropäers (1993)).
Bekannt wurde der geistreich-reflexive Banater aber einem großen Publikum durch seine vielfach mit Rumänien verflochtenen Romane, die vor und nach der Jahrtausendwende erschienen. Die Muren von Wien (1991), In der Hand der Frauen (1995) Miss Bukarest (2001) u.a. profilierten einen Romanautor, der vor allem die mehr oder weniger gelingende Neuankunft südosteuropäicher Figuren im neuen Deutschland thematisierte. Sein erfolgreichster Roman wurde der mit viel Lob aus den Feuilletons bedachte Habseligkeiten (2004), in dem am deutlichsten die Banater Bezugnahme und das Thema der Ausreise nach Deutschland sich finden. Eine zeitgemäß-schräge Mischung aus Familien- und Heimatroman.
Waren es auch die Romaninhalte oder die essayistische Beschäftigung mit den europäischen Fragen – Aufsehen erregte ebenso seine scharf beobachtete voluminöse Sezierung der deutschen Eigenheiten, die er mit der Publizistin Thea Dorn schrieb: Die deutsche Seele. (Knaus Verlag 2011), ein Buch, das bis nach China seine Kreise zog.
Eines seiner schönsten Bücher schrieb Wagner über die Habsburger, über jenes bereits Anfang der 1990er Jahre thematisierte Mitteleuropa, über die Verluste des 20. Jahrhunderts und des sogenannten Fortschritts, zwischen Ost und West: Habsburg. Bibliothek einer verlorenen Welt (Hoffmann und Campe 2014). Miniaturen über die Dobosch- und Nusstorte, über Wien, Kafka, 1989, das Lied vom Prinzen Eugen, über Sartre und Cioran, über eine Banater Elegie, – wie Joseph Roth, nostalgisch und ganz klar sah Wagner die durch den Blick auf die Vergangenheit scharf umrissenen Probleme der Gegenwart. Und der hier noch leichte Drall weg von den aufgeklärten Weisheiten der Jugend nahm den Weg hin zur Schärfe der Altersurteile, die er in den aufkommenden Debatten über political correctness und den deutschen Zustand, über Ausländer und Inländer in Pamphlete wie Es reicht. Gegen den Ausverkauf unserer Werte (Aufbau Verlag 2008) oder Der deutsche Horizont. Vom Schicksal eines guten Landes (Aufbau Verlag 2006) presste. Nicht wenig Anteil dürfte die sich verfestigende Einsicht in die geringe Empathie gegenüber den osteuropäischen Neuankömmlingen und das Unverständnis eines nur allmählich zusammenwachsenden Europas an Wagners schrillen Urteilen ausmachen.
Dann kam die Krankheit: Herr Parkinson (Aufbau 2015) hieß seine Auseinandersetzung mit dem
Nicht-mehr-möglich-Macher, ein letzter Kampf gegen etwas; letzte Gedichte Gold (Aufbau Verlag 2017) gab die Germanistin Christina Rossi heraus, die auch wissenschaftlich das Werk Wagners
betreute. Der für die Wahrnehmung Rumäniens so bedeutende Publizist und sensible Worteverdichter aus dem Banat erhielt für sein Werk und Wirken zahlreiche Preise, darunter den
Georg-Dehio-Preis und den Neuen Deutschen Literaturpreis.
Koudelka, Zigeuner
Männer und Frauen tanzen eine weiße Wand entlang
Das Saxophon bläst Stille
Peitschen
Hände
Mutter Gottes
Münzen auf den Augen
aus: Schwarze Kreide (Luchterhand Literaturverlag 1991)
Fragilität und Bedrohung
Die Republik Moldau als Spielball im Krieg?
Der Zusammenhang schien evident: Als die moldauische Ministerpräsidentin Natalia Gavriliță am 10. Februar 2023 zurücktrat, war für viele westliche Medien der unmittelbare Zusammenhang mit dem russischen Einfluss in dem Land offensichtlich. Hatte doch zuvor der ukrainische Präsident Selenskyj bekannt gemacht, dass es einen Plan Russlands gebe, die Republik Moldau zu destabilisieren und von dem abrünnigen Teil PMR ("Transnistrien") aus anzugreifen. Präsidentin Maia Sandu stimmte Selenskyjs Analyse zu und bestätigte den Verdacht gegenüber Russland. Und als Bestätigung ließ sie vorsichtshalber das Fußball-Conference-League-Spiel in Chișinău von Sheriff Tiraspol gegen Partizan Belgrad ohne Zuschauer stattfinden, da befürchtet wurde, dass unter den russenfreundlichen Belgrader Ultras sich leicht Aktivisten mit destabilisierenden Absichten finden könnten.
So einfach scheint der Fall aber nicht gelagert zu sein. Der Rücktritt Gavrilițăs war seit einiger Zeit erwartet worden. "Letztlich wurde seit langem über die Notwendigkeit eines Wechsels gesprochen und jetzt ist er eingetreten", erklärte im Jurnal Național der politische Analyst Anatol Țăranu. Hintergrund sei ein Konflikt innerhalb der Spitze der Regierungspartei PAS (Partidului Acțiune și Solidaritate), der auch Staatspräsidentin Maia Sandu angehört. Der Experte Veaceslav Berbeca sieht es ähnlich: "Der Rücktritt dieser Regierung hat mehrere Erklärungen. Einer wäre die Bedeutung der Stimulierung des Reformprozesses in der Republik Moldova, weil viele Entscheidungen konfus waren und keine klare Vision in dieser Regierung existierte. Zweitens glaube ich, dass ein Druck in der Gesellschaft besteht, dem Rechnung getragen werden muss."
Die Premierministerin betonte bei ihrem Rücktritt die Erfolge der Regierung seit 2021 wie die Bekämpfung der Korruption, den Widerstand gegen die Machenschaften der Oligarchen und deren juristische Sanktionierung, aber auch die besondere Krisensituation seit dem Beginn des Überfalls Russlands auf das Nachbarland Ukraine: Es sei der Moldau gelungen, in der Energiekrise mit internationaler Hilfe neue Wege der Versorgung aufzubauen und mit der Gasleitung ins rumänische Iași (Jassy) sich unabhängig von GAZPROM zu machen. Als weiteren Pluspunkt der Regierung nannte sie den Erwerb von internationalem Vertrauen und die damit möglich gewordene Bewerbung zur Aufnahme in die Europäische Union. Sie betonte aber auch, dass die Republik Moldova nun in eine neue Phase eintrete, die der Sicherheitsproblematik.
Insofern bietet auch die Wahl des Nachfolgers Dorin Recean einen Hinweis: Er bekleidete bisher u.a. das Amt des Innenministers und zuletzt des Generalsekretärs des Obersten Sicherheitsrates (Consiliul Suprem de Securitate) und betonte bei Amtsantritt unter der Dominante der EU-Orientierung neben der Funktionsfähigkeit der Institutionen und der Unterstützung der Wirtschaft als dritten Punkt die Sicherheit des Landes als Priorität. "Wir haben das größte Risiko von Provokationen. Folglich müssen wir den Bereich der Sicherheit konsolidieren."
Präsidentin Maia Sandu wies mehrfach in den vergangenen Tagen auf die besondere Situation der Republik Moldau hin. In der Süddeutschen Zeitung erklärte sie: "Es ist nichts Neues, dass Russland die Republik Moldau destabilisieren will und korrupte Gruppierungen unterstützt. Erst im vergagngenen Herbst haben sie Leute bezahlt, damit sie demonstrieren. Moskau hoffte, die Energiekrise ausnutzen zu können. Nun haben wir neue Erkenntnisse, dass geplant war, Leute aus dem Ausland ins Land zu bringen, um zu provozieren." ( 24.2.2023) In der Tat haben seit einiger Zeit die permanenten, von der Partei des verurteilten Milliardendiebs Ilan Șor organisierten und bezahlten Demonstrationen an Größe zugenommen. Wo sich vor Wochen nur wenige Menschen heranziehen ließen, um die wirren Erklärungen der Partei "Șor" anzuhören, zeigen sich jetzt mehrere Tausend, die die vorgegebenen Parolen mit der Aufforderung zum Rücktritt von Präsidentin Sandu rufen. Und weisen darauf hin, dass die Zahl derjenigen, die ein wie auch immer begründetes Interesse an einer Ausrichtung an Russland haben, wachsen könnte. Und dass dies einher geht mit den Absichten der kriminellen Oligarchen, ihren Einfluss im Land wiederherzustellen. Anfang Märze wurde berichtet, dass 80 junge Leute aus Istanbul nach Chișinău zurückkamen, die angeblich auf Kosten von Șor in der Türkei als Demonstranten und Aufruhrstifter ausgebildet worden seien.
Mittlerweile wirft Russlands Pressesprecher Peskov der Ukraine vor, sie wolle durch Provokationen ihre Absicht vertuschen, Transnistrien anzugreifen, was umgehend aus der Ukraine dementiert wurde.
Mihai Șora gestorben
Philosoph und später Aktivist
Im Alter von 106 Jahren starb am 25. Februar 2023 in Bukarest der Nestor der rumänischen Philosophie Mihai Șora. Șora wurde im österreichisch-ungarischen Banat geboren, besuchte das Lyzeum in Temeswar, studierte dann in Bukarest Mathematik und Philosophie bei den rechtsgerichteten Professoren Nae Ionescu und Mircea Vulcănescu, aber auch bei Tudor Vianu sowie bei Ionescus damaligem Assistenten Mircea Eliade. 1939 heiratete er Mariana Klein, mit der er 74 Jahre verheiratet blieb und mit einem Stipendium des französischen Staates nach Paris ging. Hier kam er in Kontakt mit den rumänischen Exilanten und Studenten Ionescus, Cioran, Ionescu, Constantin Noica. Der Einmarsch der deutschen Truppen veranlasste das junge Paar nach Süden zu flüchten und die Kriegsjahre in Grenoble zu verbringen. Hier hatte der junge Philosoph Kontakte zur kommunistischen Résistance und schrieb an seiner Dissertation zu Pascal. Nach dem Krieg fiel Șora mit ersten Arbeiten auf Französisch auf (Du dialogue intérieur. Fragment d’une anthropologie métaphysique) und kam 1948 allein nach Rumänien zurück, um seine Eltern wieder zu sehen. Allerdings machten die kommunistischen Machthaber ihm eine Rückkehr nach Frankreich unmöglich, so dass seine Familie ebenfalls nach Rumänien kam. Sein Arbeitsplatz wurde nach einer kurzen Tätigkeit im Aussenministerium unter Ana Pauker die Editura de Stat pentru Literatură şi Artă, wo er die populär-legendäre Taschenbuchreihe Biblioteca pentru toți ins Leben rief; für sein Buch Sarea pământului erhält er 1979 den Preis des Schriftstellerverbandes. Șora gehörte nach der Wende, als er kurze Zeit auch Kulturminister in der ersten Regierung Petre Roman war, zu den Begründern des einflussreichen zivilgesellschaftlichen Grupul pentru Dialog Social. Seine aus einer früheren linken Orientierung entwickelte zivile Haltung wurde mehrfach deutlich im Engagement gegen die Kandidatur des Rechtsextremen Vadim Tudor und vor allem in den letzten Jahren in der Unterstützung der #rezist!-Bewegung gegen die PDS-Versuche des Umbaus des Staates zugunsten der eigenen Machterhaltung. Sei es persönlich auf der Straße, sei es durch Mitteilungen in den sozialen Medien nahm Șora lebhaft teil an dem Widerstand gegen die Abschaffung von politischen Rechten.
Nach dem Tod von Mariana 2011 im Alter von 94 Jahren, die bereits 1979 mit den drei Kindern nach Deutschland gegangen war, heiratete Șora
2014 die 47-jährige Schriftstellerin Luiza Palanciuc. Der Philosoph und Essayist, Ehrenmitglied der Rumänischen Akademie und Ehrenbürger der Stadt Bukarest, wurde auf dem Friedhof Bellu in Bukarest
beigesetzt.
Eine englische Zeitkapsel
III. Freunde und Helden
Der Abschluss der Balkan-Trilogie (und Beginn der Levante-Trilogie)
Guy Pringle ist noch in Rumänien tätig, als seine Frau Harriet bereits in das rettende Flugzeug nach Griechenland steigt. In Athen angekommen wartet sie
nun auf Guys Ankunft und muss sich mit der fremden Stadt auseinandersetzen. Hier wird ihr Prinz Jakimov zur Hilfe, obwohl sie ihn in Bukarest lange kaum ausstehen konnte und er auf mysteriöse Weise plötzlich verschwand.
Die griechische Hauptstadt wird nach Guys Ankunft für das Ehepaar zum weiteren bedrohten Fluchtpunkt, nachdem in Bukarest deutsche Einheiten quasi einmarschiert sind. Auch in dem Mittelmeerland ist die Lage wenig stabil, wenn es auch lange Zeit Erfolgsmeldungen von der Front gegen Italien an der Grenze nach Jugoslawien gibt. Es findet sich ein Großteil des englischen Personals aus Bukarest wieder ein, um, so lange es geht, englische Repräsentanz aufrecht zu erhalten. Es spinnen sich Intrigen gegen das junge Paar, das bald erkennen muss, dass die Entwicklung des Krieges ihren Aufenthalt nicht von langer Dauer sein werden lässt. Die Widrigkeiten der Egoismen mancher Mitglieder der englischen Kolonie, die Beobachtung der griechischen Bevölkerung, die permanente Auseinandersetzung mit der bedrohlichen Kriegslage und vor allem die Erkundung des Zustands ihrer jungen Ehe zählen zu den Belastungen der jungen Harriet, die immer wieder für Aufregungen und Spannungen sorgen. Hinzu kommen Luftangriffe und der Aufenthalt in Luftschutzbunkern. Athen erweist sich als eine Art Spiegelbild der Bukarester Situation. Es sind die bekannten Charaktere, die kaum verändert neue Konstellationen, aber auch einige Überraschungen produzieren. Und es macht den nicht geringen Reiz der erzählten Geschichte aus, dass das neue Umfeld zahlreiche Problemfelder bereit hält, die Manning mit der ihr eigenen Meisterschaft gekonnt zum Teppich des Romans verwebt.
Auch in Athen steht am Ende wie in Bukarest die Flucht: Wieder geht es nach Süden, über das Mittelmeer – nach Ägypten. "Sie traten vor, um das neue Land zu betrachten, das sie, wenn auch widerwillig, dankbar erreichten. Sie erblickten flach und weiß am südlichen Horizont die Küste Afrikas." (512)
Die so spannende und lebhaft-eindringliche Balkan- geht über in die Levante-Trilogie. Uns bleibt zu wünschen, dass Rowohlt sich übersetzerisch auch dieser so lebendigen Ereignisse in bedrohter Zeit zur Erkenntniserweiterung und Lesefreude der Leserschaft annehmen werde. Manning ist einfach unglaublich gut lesbare und fundierte Literatur mit historischem Hintergrund.
Olivia Manning: Freunde und Helden. Roman. (Friends and Heroes, 1964). [Dritter Band der Balkan-Trilogie]
Aus dem Englischen von Silke Jellinghaus.
Rowohlt Verlag Hamburg, 2021, 512 Seiten, ISBN 978-3-498-00152-0
„Bucureștiul meu"
von Jan Koneffke
DADA damals
In seiner TV-Kolumne über die Geschichte(n) Bukarests ist der Schriftsteller Jan Koneffke am 11. November 2022 der Geschichte des Architekten, Malers und Autors Marcel Iancu und der Entstehung von DADA nachgegangen. In Aufnahmen aus Bukarest und Zürich führt der in Darmstadt geborene Autor gekonnt und einsichtsvoll in dieses wichtige Kapitel der rumänischen Kultur ein, das immer wieder ins Gedächtnis gerufen zu werden würdig ist.
Der Beitrag ist in der deutschsprachigen Sendung "Aspekte" von TVR+ im Internet ab Minute 22:08 abrufbar.
Tickets for the 2023 edition of the George Enescu International Festival go on sale on February 1st
Foto: Alex Damian
One of the most anticipated informations at the moment: on February 1, starting at 12:00 pm, individual tickets for the 2023 edition of the George Enescu International Festival, which takes place between August 27 and September 24 in Bucharest and in several cities in the country, go on sale.
The price for a ticket varies between 250 lei and 35 lei, depending on the category.Tickets will go on sale through Eventim, on the website www.eventim.ro. The full program of the Festival is already available for viewing in order to select and purchase tickets on www.festivalenescu.ro. Ticket go on sale at 12.00 pm, Romanian time. Both local and foreign audiences have access to the sales process.
Quelle: artexim
Demographische und
juristische Komplexität
Eine juristische Studie über die Minderheiten in Rumänien
Es hat sich herumgesprochen, dass Rumänien nicht nur eine große Zahl von ethnischen, sprachlichen und religiösen Minderheiten in seinem Staatsgebiet aufweist, sondern dass diese auch die Möglichkeit besitzen, im Parlament mit mindestens 1 Abgeordneten vertreten zu sein. Wie aber der juristische und politische Status der unterschiedlich großen Minderheiten genau beschrieben werden kann, ist im Detail sehr viel komplizierter und facettenreicher. Daher ist diese Diss., die sich der juristischen Lage des Minderheitenschutzes in Rumänien widmet, sehr willkommen.
Die Autorin bietet zunächst ausführlich den Rahmen des Themas im Referat einmal der unterschiedlichen, als Minderheiten in Rumänien anerkannten Gruppen. Dies geschieht vor dem Hintergrund eines kurzen Überblicks über die Entstehung des modernen Rumäniens im 19. Jahrhundert, in dem bereits die Frage des Umgangs mit der jüdischen Bewohnerschaft bzw. ihrer Zuwanderung eine zentrale Problematik der Staatsverständnisses darstellte. Interessant ist in der kurzen Auflistung bereits, dass sich in den Volkszählungen 2002 und 2011 im Detail unterschiedliche Bilder präsentierten: 2002 wurden noch einige kleine Gruppen erwähnt (Gagausen, slawische Mazedonier, Slowenen, Albaner), die unter 0,01% der Bevölkerung ausmachten - 2011 tauchen diese nicht mehr auf, dafür aber Chinesen, Tschangos, Mazedonier. Moldovan nennt Tschangos und Aromunen "besondere Gruppen" (34), da sie einerseits in der Herkunft nicht eindeutig zu bestimmen sind, zum anderen aber zu größeren Gruppen gezählt werden (Ungarn; Rumänen). Was "andere Ethnien" sind, kann also variieren, stillschweigend werden die Lippowaner zu den Russen gezählt und die Székler zu den Ungarn.
Der Anteil der Gruppen an der Gesamtbevölkerung betrug 2011 11,1% (36; aktuell sind es 10,39 %). 20 Gruppen sind 2011 als ethnische Minderheit anerkannt, davon sind 2022 19 im Parlament repräsentiert, wobei Tschangos und Aromunen wie gesagt nicht als ethnische Minderheit anerkannt sind.
Es wird somit beim Einstieg in die Lektüre bereits deutlich, dass "Minderheit" kein fester Begriff sein kann/muss und diese Einsicht bereitet vor auf die folgenden Abschnitte mit der Diskussion von Definitionen von "Minderheit". Kurz gefasst: Es gibt keine einheitliche Definition. Die Autorin zeigt an exemplarischen Ansätzen, dass bereits die Bezeichnung "nationale Minderheit" nicht selbstverständlich ist und in Konkurrenz zu religiösen, sprachlichen, ethnischen und "rassischen" Minderheiten stand. (Der Begriff "rassisch" wurde nach dem Zweiten Weltkrieg weitgehend durch "ethnisch" ersetzt.) Obwohl seit den Konfessionskriegen im 16. Jahrhundert das Problem erkannt wurde, waren es besonders im 19. Jahrhundert die nationalen Bestrebungen, die den Schutz von bestimmten Bevölkerungsgruppen in den neuen Nationalstaaten erforderlich machten. Mit dem Zusammenbruch der Imperien im Ersten Weltkrieg hatten die Pariser Friedensverhandlungen erstmals den Begriff "Minderheit" vielfach verwendet. Auf die dadurch ausgelöste Minderheitendiskussion in Europa mit dem "Europäischen Nationalitätenkongress" geht die Autorin allerdings nicht ausführlicher ein.
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Im linearen TV der Öffentlich-Rechtlichen: Arte, Freitag, 13. Januar 2023, 20.15 Uhr
In der Mediathek: https://www.arte.tv/de/videos/099582-000-A/blutholz/
Siebenbürgen, Rumänien – Der Manager einer deutschen Holzfirma verschwindet spurlos. Als privater Ermittler kehrt der Ex-Soldat Hans widerwillig in seine alte Heimat zurück. Der lukrative Auftrag entpuppt sich als Albtraum ... - Packender Kriminalfall 2022, Regie: Torsten C. Fischer) in den atemberaubend schönen Karpaten. Mit Joachim Król, Désirée Nosbusch u.a.
Vor 40 Jahren hat Hans Schüssler Rumänien verlassen. Die schmerzhaften
Erinnerungen an seine alte Heimat und seine Vergangenheit ertränkt er in Alkohol. Doch als Jens Baumann, Manager einer deutschen Holzfirma, spurlos verschwindet, erhält er den Auftrag, nach
Kronstadt am Fuße der rumänischen Karpaten zurückzukehren. Als ehemaliger Soldat, der darauf spezialisiert war, Menschen im Ausland aufzuspüren, soll Hans für Aufklärung sorgen. Keine einfache
Aufgabe, denn weder die junge Anwältin der Firma, Katja Schöne, noch seine rumänischen Kollegen geben sich kooperativ.
Zudem wird Hans von seiner traumatischen Vergangenheit eingeholt: Beim Schmuggel illegaler Westwaren geriet er einst in rumänische Haft, wurde jedoch durch die BRD freigekauft. Bis heute sind ihm
die Hintergründe unklar. Bei seinen Ermittlungen stößt Hans auf Widerstände und wird massiv bedroht. Er trifft seine alte Jugendliebe Sylvia wieder, die für das Bürgermeisteramt von Kronstadt
kandidiert, sich in ihrem Karrierestreben aber suspekt verhält. Allen Drohungen zum Trotz ermittelt Hans im Fall Baumann weiter: Ein Erdrutsch infolge illegaler Abholzungen in den Karpaten, ein
verschüttetes Roma-Dorf, Unstimmigkeiten bei der Rückübertragung der Eigentumsrechte der einst staatlich annektierten Gebiete von Europas größtem Urwald – in all das scheint Baumanns Holzfirma
verwickelt zu sein. Inmitten eines Strudels aus Veruntreuung, Gewalt und den Intrigen einer skrupellos agierenden Holzmafia muss Hans sich schließlich auch von den eigenen Illusionen seiner
Vergangenheit trennen …
Regie: Torsten C. Fischer
Drehbuch :Torsten C. Fischer Alexander Buresch
Produktion :Schiwago Film
ZDF
ARTE
Produzent/-in :Martin Lehwald Marcos Kantis
Kamera :Hannes Hubach
Schnitt :Kai Minierski
Musik :Fabian Römer
Mit :
Joachim Król (Hans Schüssler) Désirée Nosbusch (Silvia Dancu) Alina Levshin (Katja Schöne) Geo Dobre (Rednic) Anja Schneider (Karin Baumann) Peter Franke (Michael) Alexander Beyer (Dr. Gerd Sasse) Orodel Olaru (Chivu) Bogdan Ciubuciu (Jens Baumann)
Quelle: https://www.arte.tv/de/videos/099582-000-A/blutholz/
Interview mit Joachim Król hier.
Invasion Anfang 2023?
Screenshot TVRMoldova
Eine Aussage des moldauischen Geheimdienstchefs Alexandru Musteață hat es in die westeuropäischen Medien geschafft und verstärkt die Befürchtung vor einem möglichen neuen Angriff Russlands auf die Ukraine. Dem TVR Moldova sagte Musteață (SIS) am 19.12.2022 unverblümt: "Die Frage ist nicht ob Russland eine neue Offensive auf das Territorium der Republik Moldova machen, sondern wann dies geschehen wird: sei es Anfang des Jahres, Januar, Februar, sei es später, März, April. Aber nach der Information, die wir haben, hat Russland vor, weiter zu gehen. Mit dem Ziel, einer Verbindung mit dem transnistrischen Gebiet, das Territorium der Republik Moldova ist, und mit Klarheit können wir sagen, dass ja, sie haben die Absicht hierher zu kommen, die Verbindung zu machen. Was danach folgt, ihre Absichten in Bezug auf Chişinău, können wir diskutieren, aber dies ist ein reales und sehr hohes Risiko."
Diese Sätze schlugen in der moldauischen Bevölkerung hohe Wellen, so dass der Direktor des Serviciu de Informație și Informație eine Präzisierung veröffentlichte, wonach der reale Zeitpunkt und die Vorgehensweise vom Ablauf des Krieges in der Ukraine abhänge. In einem weiteren ausführlichen Gespräch des Senders am gleichen Tag erklärte Musteață seine Aussagen noch einmal. Er verwies bei dieser Gelegenheit auf Nachfrage auf das riesige Munitionslager in Cobasna auf dem Gebiet der abtrünnigen PMR hin, das seit Jahren eine große Zahl von Waffen und Munition beherberge (20000 t), von denen nicht bekannt sei, in welchem Zustand sie sich befänden und damit gerade in der aktuellen Kriegssituation eine besondere Gefahr darstellten.
Dietmar Müller
Russisch-rumänische Beziehungen
Zwischen geopolitischem Determinismus und Westorientierung
Reni, Sulina-Arm, Donau, Getreide, Schwarzes Meer, Weltmarkt – diese Begriffe tauchten im Frühsommer 2022 in den Weltnachrichten auf. Sie bilden ein Wortfeld für ein Phänomen, das gegenwärtig durch den russischen Angriff auf die Ukraine entstanden ist, das aber bereits für den Krimkrieg vor rund 170 Jahren eine wichtige Ursache darstellte: der russische Versuch, das Schwarze Meer zu beherrschen und somit auch den Zugang des regionalen Getreides auf den Weltmarkt über die Untere Donau nach Belieben zu regulieren. Stand in den 1850er Jahren freilich das Getreide der rumänischen Fürstentümer Moldau und Walachei in Frage, so ist es heute das der Ukraine.
Im Kern ist in dieser historischen Analogie eine geopolitische Konstante angesprochen, die das rumänisch-russische Verhältnis der letzten 200 Jahre charakterisiert. Wohin auch immer sich das politische Bukarest ausrichtete, im Norden des Landes stellte Russland jederzeit eine politische, militärische und wirtschaftliche Macht dar, die nicht leicht zu übergehen war. Zu der russischen Komponente kam hinzu, dass Rumänien sich – mit der Ausnahme von Ungarn – von weiteren slawischen Staaten und Kulturen im Süden (Serbien/Jugoslawien, Bulgarien) umgeben sah. Diese geopolitische Konstellation war eine der wichtigsten Gründe für die Selbstverortung der Eliten, die das rumänische Volk in historisch unterschiedlichen Konstellationen als Verteidiger der europäischen Zivilisation, als Bollwerk gegen den Bolschewismus, als nationalkommunistische Alternative und bis vor kurzem als Atlantiker im südlichen Ostmitteleuropa positionierten. Auffällig ist dabei, und dies konstituiert eine weitere Konstante im rumänisch-russischen Verhältnis, dass es niemals nur eine bilaterale Beziehung sein konnte, immer war es Teil eines mehrere Pole umfassenden Beziehungsgeflechtes.1
Angesichts der hier nur umrissenen Bedeutung Russlands für Rumänien, ist der Kenntnisstand im Land über den großen Nachbarn im Norden erstaunlich gering. Die Medien berichten oberflächlich und aus zweiter Hand. In der Geschichtswissenschaft dominieren die BeziehungshistorikerInnen, während die RussistInnen innerhalb der Slawistik eine Randexistenz fristen. Aus der geringen Zahl von ZeithistorikerInnen, PolitikwissenschaftlerInnen und AnalystInnen, die sich mit Russland beschäftigen, können dies wiederum nur eine Handvoll auf der Grundlage von einschlägigen Sprach- und Regionalkenntnissen.
Historischer Überblick (18. bis 20. Jahrhundert)
Der Resonanzboden für philorussisch-kulturelle Nähe und pro-russische politische Sympathien ist in Rumänien im südosteuropäischen Vergleich schwach ausgebildet, liegt zeitlich tief in der Vergangenheit und ist seitdem gründlich zugeschüttet worden. Man muss dafür bis zum Beginn des 18. Jahrhundert zurückgehen, als Teile der bojarischen Oberschicht und der sich herausbildenden Öffentlichkeit Hoffnungen in das Russische Reich auf seinem Weg nach Konstantinopel investierten, im Verlauf dessen auch die rumänischen Fürstentümer größere Autonomie oder gar die Unabhängigkeit vom Osmanischen Reich zu erlangen hofften.2 Die Grundlage für den erwartungsvollen Blick nach St. Petersburg stellte dabei die geteilte orthodoxe Religion. In einer langen Reihe von Feldzügen gegen das Osmanische Reich im Laufe des 17. und 18. Jahrhunderts etablierte sich das Russische Reich als diplomatisch-militärische Schutzmacht der rumänischen Fürstentümer sowie als Regionalmacht im Schwarzmeerraum, wofür emblematisch die Verträge von Küçük Kainarca (1774) und Adrianopol (1829) stehen.3 Der beschleunigte Machtverfall des Osmanischen Reiches seit Anfang des 19. Jahrhunderts bewirkte in den Fürstentümern jedoch keine uneingeschränkte Hinwendung der Eliten zum russischen Modell, vielmehr setzte eine kulturell-politische Umorientierung ein, im Zuge derer Russland zunehmend als imperiale Macht, als Hort der Reaktion und Autokratie verstanden wurde, Westeuropa aber als Vorbild für die eigene Modernisierung und Demokratisierung.
Die Abwendung von St. Petersburg hatte wesentlich mit der harten Besatzungszeit von 1806 bis 1812 zu tun, als auch ein Teil der Moldau (später Bessarabien genannt) vom Russischen Reich annektiert wurde,4 aber auch mit den Organischen Reglements von 1831/32, als unter russischer Ägide ein konservatives Modernisierungsmodell in den rumänischen Fürstentümern implementiert wurde. In der rumänischen Historiographie ist dabei oft übersehen worden, dass die mehr einem Entwicklungsprogramm denn einer Verfassung gleichenden Organischen Reglements für St. Petersburg eine Art Testlauf für eigene staatliche Modernisierungsprojekte darstellten, und dass sie in vielen Aspekten in den Fürstentümern Elemente moderner Staatlichkeit nach westeuropäischen Mustern einführten.5
Die Hinwendung zu westlichen Modellen vollendete sich 1848, als die rumänischen Revolutionäre maßgeblich von russischen Truppen besiegt und ins Pariser Exil getrieben wurden. Die von dort zurückgekehrte Politikergeneration erlangte die Staatsgründung nach dem Krimkrieg in den Jahren 1859/66 in Anlehnung an west- und mitteleuropäische Modelle und explizit gegen Russland gerichtet, welches Bessarabien und den Zugang zum Schwarzen Meer über die untere Donau wieder abtreten musste. Spätestens 1877/78 hatte sich in der rumänischen Öffentlichkeit das Bild der imperialistischen Gefahr im Norden verfestigt, als der gemeinsame Sieg gegen das Osmanische Reich erst durch den entscheidenden Einsatz rumänischer Truppen vor Plevna errungen werden konnte, Rumänien dafür im Berliner Kongress aber das gesamte Bessarabien erneut abtreten musste.
In Berlin konnte Rumäniens Diplomatie 1878 nur partiell mit der Meistererzählung von ihrer mission civilisatrice durchdringen, wonach es als bürgerlich-liberaler Nationalstaat im Osten des Kontinents dessen Werte territorial gegen Russland und das Osmanische Reich sowie kulturell gegen nicht-europäische Einflüsse (v. a. des osteuropäischen Judentums) verteidigt. Größeren Erfolg hatte eine davon abgeleitete Positionierung am Ende des Ersten Weltkriegs, in den Rumänien nach zweijähriger Neutralität an der Seite der Entente und im Bündnis mit dem Russischen Reich eingetreten war. Als dieses im Gefolge des Kriegs und der Oktoberrevolution zusammenbrach, reklamierte Bukarest eine anti-revisionistische und anti-bolschewistische Position für sich, wurde von den westlichen Ententemächten unter anderem im Osten wiederum mit Bessarabien und insgesamt mit einem in Fläche und Bevölkerung verdoppelten Großrumänien belohnt.
Auf der Soll-Seite stand zunächst der Verlust des in Gold thesaurierten Staatsschatzes sowie von Regalien und Archivalien von nationaler Bedeutung, die kriegsbedingt nach Russland verbracht worden waren, und nun von der kommunistischen Macht nicht mehr zurückgeführt wurden.6 Weiterhin wurde von Moskau die Inkorporation Bessarabiens in Großrumänien niemals anerkannt. Mit dem Goldschatz und der Bessarabienfrage sind zwei Themen angesprochen, welche das rumänisch-russische Verhältnis bis auf den heutigen Tag mitprägen und belasten. In der Zwischenkriegszeit war die gesamte politische und kulturelle Elite des Landes – abgesehen von der alsbald verbotenen Kommunistischen Partei und einigen von der Radikalität des staatlich durchgesetzten Wandels in der Sowjetunion faszinierten Intellektuellen – politisch anti-kommunistisch und kulturell anti-russisch eingestellt. Damals entstand der historiographische und kulturelle Kanon an Schriften, welcher den Wertehorizont und die geopolitische Positionierung Rumäniens in Bezug auf Russland formulierte.
Der politische Aufbruch des territorial erweiterten Großrumäniens endete im Hitler-Stalin Pakt von 1939, dessen Folgen 1940 vollzogen wurden, als die Nordbukowina und große Teile Bessarabiens an die Sowjetunion abgetreten werden mussten.7 Darin manifestierte sich aus rumänischer Perspektive das historische Trauma, dass die Grenzen des Landes und selbst sein politisches Regime nur teilweise im autonomen Handlungsbereich der eigenen Eliten stand und sich vielmehr in Abhängigkeit vom Willen west-, mittel- und osteuropäischer Großmächte befand. Diesem Narrativ zufolge, sei wie schon 1878 und 1918/20 auch nun die Westorientierung des Landes nicht gewürdigt worden, diese habe es vielmehr in eine politische Sackgasse geführt, aus der es in Gestalt des Militärdiktators Ion Antonescu nur eine „starke Hand“ herausführen könne. Der Eintritt Rumäniens in den Zweiten Weltkrieg auf Seiten der Achse Deutschland-Italien war primär auf die Rückgewinnung Bessarabiens und der Nordbukowina gerichtet, stellte gleichzeitig aber auch eine Abwendung vom demokratischen Weg Westeuropas dar.
Während das erste de facto Waffenbündnis mit dem Russland des 20. Jahrhunderts im Ersten Weltkrieg territorial zur Erfüllung des Idealraumbildes Großrumänien geführt hatte, endete der Zweite Weltkrieg mit der Zwangsintegration des Landes in den sowjetischen Machtbereich. Der Verlust Bessarabiens und der Nordbukowina wurde bestätigt und König Mihai I zusammen mit den alten Eliten außer Landes getrieben. Die im Land verbliebenen „bürgerlichen“ Politiker wurde politisch kaltgestellt oder kamen in den kommunistischen Gefängnissen ums Leben. Schließlich wurde die Einparteienherrschaft und Planwirtschaft nach sowjetischem Muster errichtet. Nach Stalins Tod setzten gegen Ende der 1950er Jahre in Bukarest indes erfolgreiche Versuche ein, sich von der nahezu vollständigen Abhängigkeit von Moskau in politischer, wirtschaftlicher und kultureller Hinsicht zu emanzipieren.
Nach einhelliger Meinung der Literatur handelte es sich bei diesem nun einsetzenden Nationalkommunismus unter Gheorghe Gheorgiu-Dej jedoch keineswegs um eine Entstalinisierung und Liberalisierung, sondern vielmehr um eine Rumänisierung des Stalinismus.8 Unter Nicolae Ceauşescu seit 1965 wurde die Autochthonisierung des Kommunismus intensiviert bis hin zu einer regelrechten Sucht, die Anfänge und die Kontinuität des rumänischen Volkes immer tiefer in thrakischen, dakischen und römischen Vorzeiten zu verorten.9 Dies hatte eine ganz offensichtlich anti-slawische und anti-russische Zielrichtung, war eine Reaktion auf die Historiographie im rumänischen Hochstalinismus bis 1953, wo alles Progressive in der rumänischen Geschichte angeblich unter russischem Einfluss stattgefunden habe. Nun wurde der nationalbewusste Kanon aus der Zwischenkriegszeit partiell rehabilitiert und wieder aufgelegt, wobei selbst das Thema Bessarabien und Bukowina nicht Tabu war.
Mit dem Nationalkommunismus setze ein rumänischer Sonderweg innerhalb des Warschauer Paktes ein, der dazu führte, dass Bukarest im Verhältnis zu Moskau auch in den 1980er Jahren und sogar über den Systembruch von 1989/90 hinaus eine andere Politik verfolgte, als die meisten Staaten Ostmittel- und Südosteuropas.10 Die Politik Michail Gorbatschows von Glasnost und Perestrojka wurde als gefährliche Lockerung perzipiert und bis zum Dezember 1989, als der Systembruch dann gewaltsam erfolgte, strikt abgelehnt. Und als die meisten Staaten der Region bereits eine klare Westorientierung verfolgten, verhandelte der damalige Außenminister Adrian Năstase mit der Sowjetunion einen Freundschaftsvertrag, der vom Präsidenten Ion Iliescu am 4. April 1991 unterzeichnet wurde und einen späteren Beitritt zur NATO unmöglich gemacht hätte, wäre er jemals in Kraft getreten.11
Die rumänische Russlandexpertise
Begibt man sich heute in den Bukarester Buchhandlungen auf die Suche nach Literatur zur russischen Entwicklung nach 1991, so fällt auf, dass diese fast ausschließlich aus Übersetzungen aus westlichen Sprachen besteht. Die einzig signifikante Ausnahme machen Publikationen von Armand Goşu aus, der die rumänische Russlandexpertise seit rund 20 Jahren so sehr dominiert, dass er allgemein als „Mr. Russia“ eingeschätzt wird.12 Wie konnte es in einem Land von der Größe und geopolitischen Lage Rumäniens in der erweiterten Nachbarschaft der Russischen Föderation zu diesem Monopol kommen? Er selbst kritisiert diesen Umstand als unmittelbares Versagen der post-kommunistischen Bildungs- und Außenpolitik aufgrund fortdauernder staatssozialistischer Praktiken der Elitenrekrutierung, weist aber auch auf längere Traditionen der Fehlperzeption und der Ignoranz bezüglich des großen Nachbarn im Norden hin.
Fortsetzung...
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1 Für die Zeit nach 1989 siehe Vlad Naumescu, Politica Marilor Puteri în Europe Centrală şi de Est. 30 de ani de la sfârşitul războiului rece (Die Politik der Großmächte in Ostmittel- und Osteuropa. 30 Jahre seit dem Ende des Kalten Kriegs), Bucureşti 2019.
2 Bogdan Murgescu, Anul 1711 şi filorusismul Românesc în secolul al XVIII-lea (Das Jahr 1711 und der rumänische Philorussismus im 18. Jahrhundert), Studii şi articole de istorie 78 (2011), S. 15-22.
3 Für Küçük Kainarca siehe G. Fr. Martens, Recueil des principaux traités de l’Europe, Göttingen 1791–1801, Bd 4, S. 606-638 https://archive.org/details/recueildesprinci04martuoft/page/606/mode/2up; für Adrianopol siehe Dokument 18.1.4. in: Peter Brandt / Werner Daum / Martin Kirsch / Arthur Schlegelmilch (Hg.), Quellen zur europäischen Verfassungsgeschichte im 19. Jahrhundert, Teil 2: 1815–1847, Bonn 2010.
4 Armand Goşu, Între Napoleon şi Alexandru I. Contextul internaţional al anexării Basarabiei (Zwischen Napoleon und Alexander I. Der internationale Kontext für die Annexion Bessarabiens), Bucureşti 2022.
5 Dietmar Müller, Bogdan Murgescu, Ioan Stanomir, Die rumänischen Fürstentümer 1815–1847, in: Werner Daum unter Mitwirkung von Peter Brandt / Martin Kirsch / Arthur Schlegelmilch (Hg.), Handbuch der europäischen Verfassungsgeschichte im 19. Jahrhundert. Institutionen und Rechtspraxis im gesellschaftlichen Wandel, Band 2: 1815–1847, Bonn 2012, S. 1.337-1.366.
6 Als Reprint der klassischen Studie von 1934 dazu wieder erhältlich ist Mihail Gr. Romaşcanu, Tezaurul Român de la Moscova (Der rumänische Staatsschatz in Moskau), Bucureşti 2022.
7 Dietmar Müller, Von Moskau über Jalta nach Malta: Die Folgen des Hitler-Stalin-Pakts als Opferdiskurs in Rumänien, in Anna Kaminsky / Dietmar Müller / Stefan Troebst (Hg.), Der Hitler-Stalin-Pakt 1939 in den Erinnerungskulturen der Europäer, Göttingen 2011, S. 359-376.
8 Siehe stellvertretend Vladimir Tismăneanu, Stalinism for All Seasons: A Political History of Romanian Communism, University of California Press 2003.
9 Katherine Verdery, National Ideology under Socialism – Identity and Cultural Politics in Ceauşescu’s Romania, Berkeley e. a. 1991.
10 Sergiu Celac / Dan Dungaciu, Romanian-Russian Relations since 1989, in: Andrei Zagorski (ed.), Russia and East Central Europe After the Cold War – A Fundamentally Transformed Relationship, Prague 2015, S. 323-360, hier S. 326.
11 Daniel N. Nelson, Romanian Security, in: Revue d’Études Internationales 27 (1993) 3-4, S. 185-209, hier S. 203f.
12 Armand Goşu, Rusia, o ecuaţie complicată. Convorbiri cu Lucian Popescu (Russland, eine komplizierte Gleichung. Gespräche mit Lucian Popescu, 2. erw. Ausgabe, Bucureşti 2022, S. 14. Nach einer Korrespondententätigkeit in Moskau für die BBC in den 1990er Jahren war Goşu an leitender Stelle (von 2005-2014) und bis heute als Osteuropafachmann in der Wochenzeitung 22 tätig. Der zitierte Band resultiert aus Gesprächen, welche die Entwicklungen in der Russischen Föderation, Moldova, Ukraine und Belarus tagesaktuell auf Contributors.ro reflektierten (www.contributors.ro).
Der Übersetzer und Literaturkritiker Gerhardt Csejka verstorben
Gerhardt Csejka (links) auf der Leipziger Buchmesse mit dem Verleger Traian Pop
Am 25. November 2022 verstarb in Berlin im Alter von 77 Jahren der aus dem Banat stammende herausragende Übersetzer und Literaturkritiker Gerhardt Csejka. Dies teilte der Zsolnay Verlag mit, in dem einige der Übersetzungen rumänischer Autoren erschienen sind. Der 1945 in Guttenbrunn/Zăbrani im Banat geborene Csejka gehörte mit Anemone Latzina, Paul Schuster, Helga Reiter, Elisabeth Axmann Anfang der 1970er Jahre zu jener schon legendären Redaktion der Zeitschrift "Neue Literatur", die entscheidenden Anteil an der Inaugurierung eines neuen Zeitalters in der Literatur der deutschen Minderheiten Rumäniens besaß. Mit seinen theoretischen Reflexionen in Essays und literarhistorischen Kenntnissen arbeitete Csejka zentral mit an der Neuorientierung einer jungen Generation von SchriftstellerInnen, denen die Diskussionen mit dem versierten Kritiker und die Möglichkeit des Abdrucks von Texten in der "Neuen Literatur" wichtige Chancen für die literarische Entwicklung boten. Die "Neue Literatur" und insbesondere Csejka ermöglichten auch der Aktionsgruppe Banat als Newcomern sich in einem neu entstandenen literarischen Feld zu verankern, aus dem sogar eine Nobelpreisträgerin hervorging. Csejka wurde 1975 mit einigen der mit ihm befreundeten Literaten verhaftet mit dem Vorwurf des versuchten illegalen Grenzübertritts; er reiste aber erst 1985 in die BRD aus.
Nach der Wende leitete der Literaturkritiker mehrere Jahre im Umfeld des Frankfurter Kulturprojekts "Palais Jalta" eine Fortführung der "Neuen Literatur" mit Schwerpunkt auf osteuropäischen Literaturen. Zudem profilierte sich der Banater als einer der besten Übersetzer rumänischer Literatur. Seine Übertragung des ersten Bandes von Mircea Cărtărescus Monumentalwerks "Orbitor" machte den rumänischen Autor hierzulande bekannt und zeigte die akribische Fähigkeit Csejkas, sich in die Sprache eines Autors zu versetzen. Ausgezeichnet mit dem Übersetzerpreis der Kunststiftung Nordrheinwestfalen und dem Preis der Stadt Münster für Europäische Poesie hat Csejka auch Norman Manea, Caius Dobrescu, Matei Vișniec, Liliana Corobca und vielen anderen rumänischsprachigen AutorInnen zu einer deutschen Stimme verholfen. Gerhardt war ein wunderbar zurückhaltender Mensch, der sich eindringlich auf literarische Themen einlassen konnte und mit dem jedes Gespräch ob seiner immensen Kenntnisse der rumänischen und rumäniendeutschen Literatur ein Erlebnis und ein großer Gewinn wurde. Sein Tod ist ein großer Verlust für alle, die an der Übertragung rumänischer Literatur in die deutsche Sprache arbeiten.
Heute vor 33 Jahren
Die Revolution in Rumänien in Tageschroniken
33 Jahre nach dem Aufstand der rumänischen Bevölkerung gegen das diktatorische Regime von Nicolae Ceaușescu und der kommunistischen Partei lassen sich viele der Details des Geschehens genauer beschreiben als in den Jahren zuvor, als
Abb. CC BY-SA 2.5 pl, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=1237708
sie vielfach noch nicht präzise eingeordnet werden konnten. Zahlreiche Fotos, Videos, Dokumente, Augenzeugenberichte, Gerichtsprotokolle lassen ein Bild entstehen, das die Vorgänge an der Oberfläche dokumentiert, während entscheidende Fragen nach den politischen Manövern innerhalb der Parteistrukturen, der Armee und der Securitate vor, während und nach der Revolution noch nicht offengelegt wurden. In einigen Fällen sind die Verantwortlichen klar benannt worden, allerdings haben sich daraus oft keine strafrechtlichen Konsequenzen ergeben.
An den Ablauf der Geschehnisse im Dezember soll die folgende Chronik erinnern.
Freitag, 15. Dezember 1989
Der bereits wegen seiner regimekritischen Aussagen (u.a. in ausländischen Radiosendern) aufgefallene Priester der Reformierten Kirche in Temeswar, László Tökés, hatte im Sonntagsgottesdienst am 10.12. seine Gemeinde aufgefordert, am 15. Zeuge bei seiner gegen seinen Willen angeordneten Versetzung in ein isoliertes Dorf bei Sălaj zu sein. Es kommen am frühen Morgen einige Hundert meist ungarischsprachige Gläubige an das überwachte Gebäude der Reformierten Kirche in der strada Timotei Ciparu an der Piața Maria, nicht weit entfernt von der Innenstadt. Securitate-Mitarbeiter in Zivil versuchen, Verhaftungen unter der Menge vorzunehmen, wobei es zu Auseinandersetzungen kommt, die sich aber noch nicht ausbreiten. Nachmittags finden sich weitere Menschen ein, jetzt auch Rumänen aus der baptistischen Gemeinde. Tökés kritisiert das Regime von Parteichef Nicolae Ceaușescu, es wird erstmals das Lied "Deșteapte-te române!" (Erhebe dich, Rumäne) gesungen. Um 20.00 Uhr kommt der Bürgermeister von Temeswar, Petru Moț, um mit Tökés zu verhandeln. Einige Protestierer bleiben über Nacht beim Kirchenamt.
Samstag, 16. Dezember 1989
An der Piața Maria in Temeswar versammeln sich anfangs etwa 300-500 Menschen, um gegen die Evakuierung des Priesters Tökes, aber auch bereits gegen das System von Partei und Staat zu protestieren. Ein Teil der Menge hält Straßenbahnen der Linie Nr. 2 in der Nähe des Gemeindeamtes der Reformierten Kirche an, um mit ihnen unter dem Rufen von Losungen wie "Jos Ceaușescu!", "Libertate" oder "Vrem paine!" (Wir wollen Brot!) in die Innenstadt zu gelangen. In größeren Gruppen marschieren Demonstranten in das Stadtzentrum. Eine Buchhandlung mit Büchern Ceaușescus wird zerstört, auch zahlreiche Schaufenster an der Einkaufsstraße im Zentrum gehen zu Bruch. Die Plakate mit Parteilosungen und Fotos von Ceaușescu werden zerstört. Auf einem ungarischen Radiosender wird über die Demonstrationen berichtet. Tökés bittet die Menge vom Pfarramt aus, die Demonstration aufzulösen und nach Hause zu gehen. In der Innenstadt auf dem Platz zwischen Oper und Kathedrale kommt es zu Konfrontationen mit der Miliz und den Wasserwerfern der Feuerwehr und zu zahlreichen Verhaftungen. Hunderte werden in Gefängnisse eingeliefert. Gruppen von Demonstranten gehen in andere Viertel der Stadt, vor allem solche mit Studentenheimen, um weitere Demonstranten zu animieren, auf die Straße zu gehen.
Nach Mitternacht sperrt Miliz die Straße zur Reformierten Kirche ab und räumt die Piața Maria. Tökés flüchtet sich mit seiner hochschwangeren Ehefrau, einem Schwager und dem Studenten Gazda Arpad in die Kirche, wo sie nachts von der Securitate verhaftet und ins Gefängnis gebracht werden. Der Aufstand scheint niedergeschlagen worden zu sein.
Sonntag, 17. Dezember 1989
Die Auseinandersetzungen in Temeswar zwischen Demonstranten gegen das Regime Ceaușescu und den Ordnungskräften verschärft sich in mehreren Stadtteilen. Panzer und gepanzerte Fahrzeuge sind auf Seiten der Miliz und der Armee im Einsatz. Barrikaden werden gebaut. Unbekannte zerstören systematisch Geschäfte, zünden sie an, ohne dass die Ordnungskräfte einschreiten. Auf Befehl Ceaușecus, den General Vasile Milea umsetzt, wird, vor allem als die Dunkelheit nach 16 Uhr einbricht, scharf in die immer größer werdende Menge geschossen und die ersten Verletzten und Toten unter den Demonstranten sind zu verzeichnen. Auch in die Häuser wird geschossen. Die Einheiten von Securitate, Armee, Miliz, Innenministerium, die an den Schießereien beteiligt sind, sind nicht genau zu verifizieren.
Montag, 18. Dezember 1989
Sânpetru Mare
Foto: Dobrivoie Kerpenisan
/aus Rebels With A Cause, 2019/
Angehörige begeben sich in der gespannten Atmosphäre der Stadt Timișoara in die Spitäler, um ihre Toten zu finden und zu beerdigen. Jede Gruppenbildung auf den Straßen ist verboten, auf Ansammlungen werde sofort geschossen. In den Firmen und Fabriken werden die Fehlenden gezählt. In einzelnen Vierteln wie dem Arbeiterviertel Girocului sind die Straßen übersät mit Gewehrpatronen und weisen auf eine kriegsähnliche Situation hin.
Vor der verschlossenen Kathedrale werden Kinder und Jugendliche, die dort Kerzen aufstellen wollen und Anti-Ceaușescu-Parolen rufen, von der Armee erschossen. 60 Tote und hunderte Verletzte sind das Ergebnis dieses Tages.
In dem Dorf Sânpetru Mare veranlassen Berichte von den Vorgängen in Temeswar eine Menschenmenge zum Marsch auf die Primaria, wo sie Bilder und Bücher von Ceaușescu zerstören.
In der Nacht zum Dienstag wird die "Operațiunea Trandafirul" (Operation Rose) durchgeführt: 40 Leichen werden von der Miliz aus den Krankenhäusern entwendet (einige noch Lebende werden ermordet), in einem Kühlwagen nach Bukarest gebracht, dort in einem Krematorium verbrannt und ihre Asche in einem Graben bei Bukarest verteilt.
Der Staatspräsident Ceaușescu begibt sich ohne Ehefrau Elena zu einem Staatsbesuch in den Iran.
Dienstag, 19. Dezember 1989
Sânpetru Mare
Foto: Dobrivoie Kerpenisan
/aus Rebels With A Cause, 2019/
Es werden zahlreiche weitere Verhaftungen vorgenommen. Die Arbeiter der Firma ELBA (Electrobanat) erklären den Generalstreik. In den Betrieben wird über das weitere Vorgehen diskutiert. Viele Fabriken sind von Ordnungskräften umstellt, um die Arbeiter an Demonstrationen zu hindern. Um 11 Uhr versuchen der erste Sekretär der Partei im Kreis, Radu Bălan, und Bürgermeister Moț, die Arbeiter zum Einstellen der Arbeitsniederlegungen und Demonstrationen zu bewegen. Bălan scheint bereit, in das Lager der Revolutionäre zu wechseln. General Gușă, ebenfalls in der Fabrik ELBA, ordnet einen Teilrückzug der Armee an. Auf den Straßen dominieren die Ordnungskräfte von Armee, Miliz, Securitate, bei Zusammenstößen sterben 8 Menschen.
Mittwoch, 20. Dezember 1989
Zehntausende, vor allem aus den Betrieben und Fabriken, demonstrieren in Temeswar gegen die Diktatur. Der Platz zwischen der Oper und Kathedrale füllt sich ab 14 Uhr mit Menschen, die aus den Nationalfahnen die Parteizeichen herausgeschnitten haben. Vom Balkon der Oper werden Reden gehalten (die installierten Mikrofone und Lautsprecher waren für eine prokommunistische Kundgebung vorgesehen). Der erste Redner, Ioan Chiș, prägt den Spruch: "Endlich ist die Mămăligă explodiert." Die Menge ruft enthusiasmiert: "Libertate", „Azi în Timişoara, mâine-n toată ţara!” (Heute in Temeswar, morgen im ganzen Land),
Eine große Zahl begibt sich zum Consiliul Județean, wo der Premierminister Constantin Dăscălescu sich aufhält. Eine Abordnung von Revolutionären (Ioan Savu, Corneliu Vaida, Sorin Oprea, Marcu, Boloșoiu, Hanus Sandu, Petrișor u.a.) führt einen Dialog mit dem Premierminister in dem Gebäude und fordert Rückzug der Armee, genaue Aufklärung über die Schießbefehle und die Zahl der Toten, Freilassung der Verhafteten, freie Wahlen, privates Unternehmertum, freie Presse. Die Befreiung der 980 Verhafteten und der Rückzug der Armee in die Kasernen wird erreicht. Vereinzelt werden Verbrüderungen mit der Armee beobachtet.
In der Stadt Lugoj im Banat finden ebenfalls Demonstrationen statt. Es ist die erste Stadt, die dem Beispiel von Temeswar folgt. Zwei junge Protestierer werden gegen 20.00 Uhr aus einer Armeekaserne heraus erschossen, die Parteizentrale geht in Flammen auf, zahlreiche Fensterscheiben von Geschäften werden eingeschlagen.
Um 19 Uhr hält der aus dem Iran zurückgekehrte Ceaușescu eine Rede im Fernsehen, in der er die Vorgänge und die "reaktionären, hooliganistischen, terroristischen Elemente" verurteilt. Der Ausnahmezustand wird über Temeswar verhängt. Aus seiner Heimatregion Oltenien (Craiova) sendet Ceaușescu Arbeiter als Nationalmilizen nach Temeswar, um gegen die Demonstranten vorzugehen. Sie solidarisieren sich aber mit den Aufständischen und verbreiten nach ihrer Rückkehr die Nachrichten über den Aufstand.
Auf dem Platz vor der Oper in Temeswar bleiben etwa 60 Menschen über Nacht.
Donnerstag, 21. Dezember 1989
Auf dem Balkon der Oper in Temeswar verliest Lorin Fortuna morgens eine Proklamation, die einen neu konstituierten Frontul Democratic Român vorstellt und Temeswar zur ersten kommunismusfreien Stadt (oraș liber de comunism) Rumäniens erklärt.
In Arad gehen ab 8.30 Uhr die ArbeiterInnen zahlreicher Betriebe auf die Straße und marschieren in Richtung des zentralen Platzes, wo sich das Parteibüro befindet. Um 12.30 Uhr verspricht die Kreissekretärin der Partei, Elena Pugna, ähnlich wie Ceaușescu in Bukarest, eine Erhöhung der Löhne und der Kinderzulagen, wird aber ausgepfiffen. Am Abend wird unter den Demonstranten nach dem Temeswarer Vorbild ein Komitee mit der Bezeichnung Frontul Democratic Român gebildet mit dem Schauspieler Valentin Voicilă als führendem Mitglied. Der um das Parteigebäude postierte, mit Kriegsmunition bewaffnete Kordon aus Miliz und Militär findet keinen Anlass zum Eingreifen.
In Cluj wird hingegen auf dem zentralen Platz ohne Anlass von der Armee auf Befehl lokaler Offiziere in die Menge geschossen, 26 Menschen sterben, 79 werden verletzt.
In Târgu Mureș/Marosvásárhely wehren sich Arbeiter in den Fabriken gegen die von Ceaușescu vorgeschriebene Interpretation der Ereignisse in Temeswar. Der Parteisekretär der Stadt wird in der Firma IMATEX gezwungen, ein Protestschreiben an den Staatschef abzusenden. Nach konfrontationsreichen, vor allem von Arbeitern aus den Fabriken begonnenen Demonstrationen werden am Abend gegen 21.20 Uhr auf dem zentralen Platz 6 Menschen erschossen, 21 durch Kugeln verletzt, zahlreiche verhaftet und misshandelt.
In Sibiu/Hermannstadt/Nagyvaros wird eine kleine Demonstration von Arbeitern aus der Firma Balana gegen 8.30 Uhr aufgelöst. Kurze Zeit später finden sich zahlreiche Protestierer auf den Straßen, marschieren ins Zentrum, wo sie Bilder und Bücher von Ceaușescu aus Buchhandlungen verbrennen. Ab 10.00 Uhr beginnen auf Anordnung von Kreisparteisekretär Nicu Ceaușescu, Sohn von Nicolae Ceaușescu, Armeeschüler gegen die Protestierer vorzugehen. Sie eröffnen das Feuer und töten 1 Demonstranten, 4 werden verletzt. Daraufhin strömen Tausende in verschiedenen Teilen der Stadt auf die Straßen.
In Bukarest hält Ceaușescu um 12 Uhr eine von TV România übertragene Rede vom Balkon des ZK vor etwa 100000 eilig herbei transportierten Unterstützern der Partei. Während der Rede entsteht Unruhe in der Masse, es sind Knallgeräusche zu hören, es entsteht Bewegung in der Menge. Die TV-Übertragung wird mehrmals unterbrochen, als die Rufe "Timioșara" für kurze Zeit deutlicher durchdringen. Der Conducător reagiert zunächst verunsichert und fahrig, seine Ehefrau Elena neben ihm gibt Anweisungen - die Übertragung wird bald abgebrochen. Ceaușescu kann die Rede allerdings beenden, in der er vor allem finanzielle Versprechungen für Arbeiter, Mütter und Pensionäre macht. Die Ereignisse von Temeswar nennt er einen Angriff auf Unabhängigkeit, Integrität und Souveränität Rumäniens und erinnert an die Situation von 1968, als Rumänien nicht am Einmarsch in die CSSR teilnahm. In der Stadt finden Kämpfe zwischen Ordnungskräften und Demonstranten statt, vor allem an der nahe gelegenen Piaţa Universităţii, die ein erstes Todesopfer fordern. Abends wird dort vor dem Hotel Intercontinental eine Barrikade errichtet. Scharfschützen schießen von den Dächern auf die Demonstranten. In der Nacht sterben hier 49 Aufständische, 500 werden verletzt, Tausende verhaftet.
Cluj 21.12. 1989
Foto: Răzvan Rotta (https://ro.wikibooks.org/wiki/Revolu%C
8%9Bia_Rom%C3%A2n%C4%83_de_la_Cluj_%C3%AEn_imagini)
Sibiu, Casa de Cultură a Sindecatelor
Freitag, 22. Dezember 1989
In Bukarest findet im Gebäude des Zentralkomitees dessen letzte Sitzung statt.
9.00 In Sibiu beginnen Demonstrationen in Richtung Piața Mare und zur Casa de cultură a sindecatelor (Gewerkschaftskultur-haus), wo sich etwa 30000 Menschen versammeln. Unter ihnen konstituiert sich das Demokratische Forum des Kreises Sibiu.
9.55 Uhr Bukarest: Nachrichtensprecher George Marinescu verliest im TVR die Verkündung des Ausnahmezustandes (starea de necesitate) über das ganze Land. Jede öffentliche Gruppenbildung von mehr als 5 Personen ist verboten.
In der gleichen Nachrichtensendung teilt der Sprecher mit, dass Verteidigungsminister General Vasile Milea Selbstmord begangen habe. Milea hatte den Schießbefehl Ceaușescus weitergegeben, blieb aber nicht konsequent bei dieser Haltung. In den Nachrichten wird Milea als "Verräter" bezeichnet, der Gerüchte und Lügen in die Welt gesetzt und mit den "imperialistischen Kreisen" die Aufstände verursacht habe. Während der Nachrichten bewegen sich wie am Vortag große Demonstrationszüge in Bukarest von der Piața Universității Richtung Boulevard Brătianu und Magheru. Hier ist auch Maschinengewehrfeuer zu hören.
11.00 Nach einiger Zeit gelingt es, den DemonstrantInnen, den Platz vor dem ZK zu erreichen und in das Gebäude einzudringen.
11.50 Das TV-Gebäude ist von Protestierern besetzt, das Fernsehen in Televiziunea Română Liberă (TVRL, Freies rumänisches Fernsehen) umbenannt.
12.09 Uhr Nicolae und Elena Ceaușescu fliehen mit einem Hubschrauber vom Dach des ZK-Gebäudes, während sich der Platz mit einer unübersehbaren und enthusiastischen Menschenmenge füllt.
Petre Roman spricht vom Balkon des ZK-Gebäudes zur Menge und erklärt den Sieg der Revolution.
12.55 Im TVRL verkündet Mircea Dinescu aus einer Gruppe von Aktivisten - darunter der Regisseur Sergei Nicolaescu und der Schauspieler Ion Caramitru - in die Live-Kameras: "Am invins! Am invins!" (Wir haben gesiegt.)
General Chițac ruft aus dem Studio die Armee zur Unterstützung der Aufständischen auf.
12.00 In Temeswar werden auf dem Armenfriedhof die Gräber von vorgeblichen Opfern der Ceaușescu-Herrschaft und der Niederschlagung der Revolution geöffnet. Durch die wieder geöffneten Grenzen kann im Ausland der Eindruck erweckt werden, dass die Kämpfe in Temeswar mehrere Tausend Tote forderten. Falschnachrichten, die ihren Weg wieder zurück nach Rumänien finden.
12.00 Sibiu: Aufständische belagern den Sitz der Miliz auf der strada Armata Roșie, Ecke strada Moscovei. Diese hängt ein Transparent an das Gebäude, mit dem Text: "Noi, miliţia, slujim interesele poporului. Suntem cu voi! Fără violenţă! Organizaţi-vă pentru dialog!" (Wir, die Miliz, arbeiten im Interesse das Volkes. Wir sind mit euch. Ohne Gewalt! Organisiert euch für den Dialog.) Die Demonstranten gelangen in das Gebäude, die Miliz flieht zur auf der gleichen Straße benachbarten Armee, von wo aus auf die Milizionäre geschossen wird und 19 sterben. Auf die Menge vor der Casa de Cultură wird ebenfalls geschossen, sie flieht in Panik.
12.30 Nach der Flucht der Ceaușescus kommt es in Sibiu zu weiteren Schießereien zwischen Armee, Securitate und "Terroristen", die über 43 Tote fordern, unter ihnen auch Zivilisten und Demonstranten. Der Sitz der Securitate in Sibiu in unmittelbarer Nachbarschaft zur Armee wird 4 Stunden lang mit unterschiedlichen Waffen angegriffen, bis das Gebäude weitgehend zerstört ist. Hauptverantwortlicher für das Verhalten der Armee ist Leutnant Aurel Dragomir, der dem Kreisparteivorsitzenden Nicu Ceaușescu, Sohn des geflohenen Diktators, nahesteht.
Unentdeckte Scharfschützen belegen immer wieder Straßen mit Gewehrfeuer. Die Armee setzt auch Panzer und Geschütze gegen bestimmte Gebäude ein, die völlig zerstört werden.
Zudem hält sie mehr als 500 Personen in einer Sporthalle und einem leeren Schwimmbad fest, die als "Terroristen" bezeichnet werden. Es kommt bei dieser bis in den Januar dauernden Freiheitsberaubung zu Mißhandlungen und Verletzungen.
Zum blutigen Chaos in Sibiu tragen auch die während der Dauersendung des TVRL in Bukarest verbreiteten Gerüchte wie, dass das Wasser in Sibiu vergiftet sei, ebenso bei, wie die Suggestion einer von der Securitate angegriffenen Armee, die es zu verteidigen gelte. Mehrere Generäle fordern im TV ihre Kollegen auf, das "Gemetzel" zu beenden.
Im besetzten TVRL in Bukarest treten aufgeregte Redner mit Appellen, Informationen, politischen Statements, praktischen Vorschlägen auf. Petre Roman, Silviu Brucan, Mircea Dinescu, Ion Caramitru, mehrere Generäle, Priester, u.a. wirken bis in den Abend auf die Zuschauer ein, der Nachrichtensprecher Marinescu liest nun die Kommuniqués der Revolutionäre in die Kameras.
17.00 Nach einem Treffen mit den wichtigsten Militärs hält der frühere Minister für Jugend, Ion Iliescu, eine Rede vom Balkon des früheren ZK-Gebäudes in der er die Armee zur einzigen Ordnungskraft erklärt. Einige Zeit danach beginnen auf dem Platz Schüsse zu fallen.
Es bestätigen sich Nachrichten, dass das Ehepaar Ceaușescu in einer Dacia bei Târgoviște gefasst worden sei und in einer Armeeeinheit gefangen gehalten werde.
22.00 Im TVRL in Bukarest wird der gefangengenommene Sohn Nicu Ceaușescu, Parteichef von Sibiu, präsentiert.
23.00 Iliescu verliest im TVRL das Manifest des Frontul Național de Salvare, der von der Armee unterstützt werde und alle "gesunden Kräfte" des Landes umfasse. Alle Organisationen der Regierung des Ceaușescu-Clans seien aufgelöst, freie Wahlen für den April 1990 vorgesehen.
Am Abend und in der Nacht auf den 23. Dezember lassen die Attacken auf die Universitätsibliothek und den nun als Nationalmuseum funktionierenden früheren Königspalast nicht nach. Beide Gebäude geraten nach Beschuss durch Panzer in Brand, eine große Zahl wertvoller Gemälde, Tapisserien, Bücher, Handschriften, wird zerstört.
Samstag, 23. Dezember 1989
0.00 In Târgoviște wird die Militäreinheit 01714 angegriffen, in der Nicolae und Elena Ceaușescu gefangen gehalten werden.
In der Nacht brechen in den größeren Städten wie Temeswar, Cluj, Sibiu, Brașov und Bukarest Schießereien aus, deren Ursachen nicht genau auszumachen sind. Allgemein wird von "Terroristen" als Angreifern gesprochen, die skrupellos und ohne erkennbares Motiv auf Zivilisten, Soldaten Securitate, Miliz, in Häuser, Wohnblocks, Krankenhäuser schießen. Bewaffnete und wenig informierte Zivilisten beteiligen sich an den Kämpfen. In Brașov sterben in dieser Nacht 39 Menschen, nachdem die Armee - wie in Sibiu - gegen Vorlage des Personalausweises Waffen an Zivilisten ausgegeben hat. In der Banater Industriestadt Reșița, in der bis dahin die Demonstrationen keine Auseinandersetzungen mit den Ordnungskräften verursacht hatten, beginnen in der Nacht ebenfalls tagelange Gefechte, in deren Verlauf 25 Menschen sterben.
6.30 Bukarest: In 3 Autobussen werden Gendarmen, Armeeschüler und Wehrdienstleistende zum Flughafen Otopeni transportiert, um eventuelle Terrorattacken abzuwehren. Bei ihrer Ankunft werden sie noch in den Bussen aus verschiedenen Richtungen beschossen. In 10 Minuten sterben 22 Insassen, weitere Gefechte fordern am Flughafen das Leben von 15 Menschen. Zunächst wird als Ursache eine mangelhafte Kommunikation zwischen Armee und den Gendarmen vermutet, später eine gezielt geschürte Hysterie wegen möglicher "Terroristen".
Die Kämpfe um das Nationalmuseum und die Bibliothek halten an. Beide Gebäude stehen in Flammen, während sich auf den Straßen die Menschen hinter Panzern verschanzen.
In Sibiu wird weiterhin geschossen: Es herrscht Verwirrung, Chaos, Gerüchte unterschiedlichster Art machen die Runde. Aus den Dachfenstern (den "Augen von Hermannstadt") schießen Unbekannte, es wird wahllos zurückgeschossen, Panzer zerstören Gebäude, in denen "Terroristen" vermutet werden, Helikopter jagen Menschen, Zivilisten werden von Scharfschützen auf den Straßen erschossen, die mit Geschosshülsen übersät sind (nach einer plausiblen Schätzung wurden in den Tagen der Revolution in Sibiu über 2 Millionen Patronen benutzt).
In weiteren Städten kommt es zu weniger gewalttätigen Demonstrationen und Versammlungen.
23.30 Uhr Gegenüber dem Sitz des Verteidigungsministeriums in Bukarest an der Straße Drumul Taberei sind Panzer zur Verteidigung aufgestellt. Die Insassen von auf Befehl des reaktivierten Generals Nicolai Militaru herbeigerufenen leicht gepanzerten Fahrzeugen der U.S.L.A (Unitatea Specială de Luptă Antiteroristă) werden zu "Terroristen" erklärt und zusammengeschossen. Die 8 Toten (unter ihnen lt. col. Gheorghe Trosca, von dem es heißt, er sei an der Enttarnung von Militaru als Agent des KGB beteiligt gewesen) bleiben tagelang auf der Straße liegen, der abgetrennte Kopf von Trosca auf der Motorhaube eines Fahrzeugs ausgestellt. Die Zeitung România Liberă erklärt die Toten zu "Söldnern". Militaru wird zwei Tage später von Iliescu in der von Petre Roman geleiteten ersten postrevolutionären Regierung zum Verteidigungsminister erklärt.
Sonntag, 24. Dezember 1989
Der Consiliul Frontului Salvării Naționale und ein Comandamentul Militar Unic teilen über TVRL und Radio mit, dass "aus militärischer Sicht die Situation in der Hauptstadt und den Kreisen des Landes sich unter Kontrolle befindet. Zu dieser Stunde führen unsere Armee, Einheiten der Miliz und des Inneren Operationen zur raschen Lösung der Probleme, die noch bestehen, aus, um die Nester der Terroristen zu neutralisieren."
An einzelnen Punkten in den großen Städten wird noch geschossen, zugleich finden bereits Aufräumarbeiten statt.
Foto: www.kultro.de
Montag, 25. Dezember 1989
13.20 In der Garnison Târgoviște findet ein außerordentlicher Militärprozess gegen das Ehepaar Ceaușescu statt. Aus Bukarest sind auf Betreiben des Frontul Salvării Naționale (FSN) in mehreren Helikoptern ein Militärstaatsanwalt, Richter, Verteidiger, Schriftführer, Schöffen angereist. Die Anklage gegen Nicolae und Elena Ceaușescu lautet auf Genozid, gewaltsame Zerstörung kommunaler Einrichtungen und Gebäude während der Revolution, Zerstörung der Ökonomie, Deponierung von mehreren Hundert Millionen Dollar auf ausländischen Konten zur Fluchtvorbereitung. Ceaușescu erkennt das "tribunal poporului" (Volksgericht) nicht an.
Das Urteil lautet auf die Todesstrafe durch Erschießen und wird um 14.50 Uhr vollstreckt.
In den nächsten Stunden und Tagen lassen die Kämpfe in den Städten allmählich nach.
Vom 15. Dezember 1989 bis zum 22. Dezember wurden durch die Repression in Rumänien 271 Menschen getötet, vom Nachmittag des 22. Dezember (Flucht Ceaușescus) bis zum 25. Dezember (Hinrichtung) 715, nach dem 25. Dezember 113 (bei 67 Opfern konnte das genaue Todesdatum nicht festgestellt werden). Insgesamt 1166 Tote.
*
29 Jahre nach den Ereignissen erhob auf Basis eines Urteils des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte das höchste rumänische Gericht Anklage gegen den früheren Staatspräsidenten Ion Iliescu und 3 weitere Beschuldigte wegen ihrer Rolle bei den Kämpfen gegen "Terroristen" nach dem 22. Dezember 1989.
Privates und Öffentliches
Der Schriftsteller Jan Koneffke und seine ganz private Seite von Bukarest
Abb. Screenshot tvr.ro/youtube.com
Im dritten Beitrag der Reihe "Mein Bukarest" erinnert Jan Koneffke an seine erste Ankunft in der Stadt Anfang der 1990er Jahre, als er an einer Schriftstellerkonferenz teilnahm und Nora Iuga kennenlernte. Aber als er Jahre später wieder in die Metropole an der Dîmbovița kam, war er an die Stadt gefesselt durch die Liebe ...
Private Einsichten und Koneffkes Verbundenheit mit Bukarest führen auch in dieser wieder sehr sehenswerten Folge der Reihe zu anregend-eigensinnigen Schlaglichtern.
https://www.youtube.com/watch?v=bM1Ynd4GWnI&list=PLxO8-C91Lp90Zv2wgnrpbE3yxZnGN9F2Q&index=1
Bukarest de altă dată
Jan Koneffke weist auf die verborgenen Preziosen der rumänischen Hauptstadt hin
Abb. Screenshot tvr.ro/youtube.com
Nur wenige kennen hierzulande Bukarest. Der Ruf der Stadt an der Dâmbovița ist nicht der beste, auch in Rumänien nicht. Dass diese Skepsis oft auf Nichtwissen basiert, möchte der in Bukarest lebende Schriftsteller und Dichter Jan Koneffke ändern. In Zusammenarbeit mit dem Goethe-Institut stellt er in der deutschen Sendung Akzente auf TVR in anschaulichen Miniaturen besondere Gebäude und Geschichten der Millionenstadt vor. Zwei Beiträge sind bisher erschienen und können auf dem Youtube-Kanal von Akzente im Internet angeschaut werden, weitere sind in Vorbereitung.
Die beiden stimmungsvollen Reportagen widmen sich einmal der Casa Storck in der strada Vasile Alecsandri, die mittlerweile zu einem prächtigen Museum renoviert wurde. Hier lebten die Malerin Cecilia Cuțescu-Storck und ihr Ehemann, der Bildhauer Frederic Storck. Koneffke weiß geschickt die Lebensgeschichten der beiden Künstler mit einer Geschichte des Hauses und der damaligen Epoche vor und nach dem Ersten Weltkrieg zu verbinden. Ebenso gilt dies für den Beitrag, der die Orte des Schriftstellers Mihail Sebastian (Iosif Hechter) aufsucht und dessen berühmtes (auch ins Deutsche übersetzte) Tagebuch von den 1930er Jahren bis zu seinem frühen Unfalltod 1945 in der Topographie der Stadt verortet. In den beiden Filmen knüpfen Querverbindungen und Zeitfäden ein faszinierendes Netz von der Geschichte dieser Stadt und ihren Bewohner*innen.
https://www.youtube.com/watch?v=xdluiT6ca5U (casa Storck)
https://www.youtube.com/watch?v=i09buPFYCFE (Mihail Sebastian)
Traian Pop
erhielt
Andreas Gryphius-Preis 2020
Mit dem Gryphius-Preis, benannt nach dem schlesischen Barock-Dichter – ein vielsprachiger Poeta doctus – wurden so bedeutende Dichter wie Reiner Kunze, Rose Ausländer, Siegfried Lenz, Andrzej Szczypiorski oder Jiri Grusa ausgezeichnet.
Der Dichter und Verleger Traian Pop kommt aus dem Ovid-Land Rumänien, die weiche Harfe am Schwarzen Meer.
Sein in Ludwigsburg beheimateter Pop-Verlag gibt seit 2003 Büchern zu Ostmitteleuropa ein brillantes Forum; auch erscheinen zwei Literaturzeitschriften vierteljährlich in seinem Verlag, "Matrix" und "Bawülon". In über 500 Verlags-Titeln veröffentlichten im Pop-Verlag über 2000 Autoren.
Traian Pop arbeitet aus dem Geist von Gryphius und Ovid in der Erkenntnis, dass die Republik der Sätze die Literatur ausmacht. So sah es auch der große Düsseldorfer Heinrich Heine, der im transitorischen Heimatland der Dichtung sein unverlierbares Obdach erkannte
Auch Rumänien kann mit dem imponierenden Werk des Schriftstellers und Verlegers Traian Pop entdeckt werden. Er schlägt eine Brücke von Glogau und Breslau nach Temeswar/Timişoara, die EU-Kulturhauptstadt des Jahres 2023, und nach Bukarest/Bucureşti.
Die Laudatio auf Traian Pop Traian hielt der in Siebenbürgen geborene Literat und Journalist Georg Aescht (Kulturportal West-Ost und Kulturpolitische Korrespondenz, Stiftg. Dt. Kultur im östlichen Europa). Aescht verfasste zahlreiche literaturkritische Beiträge und trat im deutschen Sprachraum als Übersetzer von Norman Manea, Gellu Naum, Mihail Sebastian, Liviu Rebreanu und anderen bedeutenden rumänischen AutorInnen hervor.
(Mitteilung des Gerhart-Hauptmann-Hauses Düsseldorf)
"We love football and
we miss important games"
Fußball in Rumänien
von
Volkmar Hoffmann
Abb: FC Voluntari/©Volkmar Hoffmann
Es war Anfang Oktober 2019, ein Samstag um 11 Uhr in Colentina, einem von chinesischen und arabischen Einwanderern geprägten Stadtteil am Ostrand von Bukarest. Zweitligaspiel zwischen ACS Daco–Getica Bucureşti und FC Dunărea Călăraşi im Stadionul Colentina, das versteckt zwischen in den 1970-ern und '80-er Jahren gebauten acht- bis zehnstöckigen Wohnblöcken liegt. Ein großer, meine siebenbürgische Stiefmutter würde sagen stattlicher Mann um die Fünfzig, mit einer nach allen Seiten ausufernden, weinroten Strickmütze, in dickem Anorak, Schal und Polyestertrainingshose. Vor Spielbeginn hatte er sich einen mitgebrachten Pappkarton auf einen der Hartplastikschalensitze gelegt, seinen Regenschirm und eine Unmenge von gut gefüllten Plastiktüten daneben gelagert, aber gesessen war er kaum. Die meiste Zeit stand er ganz oben, auf einem Sitz in der letzten Reihe, auf Höhe der Mittellinie, in seinen Händen zwei Fahnenstangen mit der rumänischen Flagge, die er aus Halterungen im Stadion gezogen hatte. Er sang lautstark die rumänische Hymne mit und schwenkte dabei ausgiebig die Fahnen. Nach der Einspielung steckte er sie wieder zurück. Einmal, als seine Mannschaft augenscheinlich nicht in die Gänge kam, griff er in eine seiner Tüten und bot einem Daco-Stürmer zur Stärkung eine überreife Banane an. Trotz seiner Lautstärke hatte er nichts Aggressives, er schien vieles eher scherzhaft zu meinen, zumindest amüsierte sich eine jüngere Frau in seiner Nähe köstlich.
Aber warum war sein Anfeuerungsruf Juventus, Juventus, wo der Verein doch Daco–Getica hieß? Einige Tage später, eine Sportsbar im Zentrum von Bukarest. An den Wänden ein paar Fotos und Wimpel der erfolgreichsten rumänischen Clubs, vor allem aber Devotionalien der beiden Mailänder Fußballvereine und von Juventus Turin. Ich hatte mich mit meinem Fußballfreund Radu und seinem Vater getroffen um mehr über den rumänischen Fußball zu erfahren. Die EM – mit vier Spielen in Bukarest – stand vor der Tür, die Chancen, dass Rumänien sich doch noch dafür qualifizieren könnte, gingen gegen Null. Ich wollte wissen, wie das so ist, mit der Begeisterung für so ein Event, wenn das eigene Team nicht beteiligt ist. Aber zuerst mussten sich beide meine Begeisterung über den einsamen, unermüdlichen und witzigen Fahnenschwinger anhören. Did you hear the national anthem at the beginning? Ähm, ja schon – aber das machen die Amis auch. But thats not usual in second league games! Do you know, that this club is known for their use of xenophobic symbols and songs, and that the owner, who is known in Bucharest as the trash king, has spent some time in jail? Nein, hatte ich nicht. Aber dass in Rumänien bereits etliche Manager und Besitzer von Profiklubs wegen Steuerhinter-ziehung, Geldwäsche oder Korruption verurteilt worden waren, wusste ich natürlich.
Drei Spieltage später wurden die bisherigen Ergebnisse von Daco annulliert. Der Präsident – oder war's der Manager, oder der Eigentümer, oder alle drei in Personalunion? – war während eines Spieles in der Halbzeitpause verhaftet worden. Die Spielergehälter konnten nicht mehr gezahlt werden, der Spielbetrieb wurde eingestellt.
Daco–Getica Bucureşti. Im Jahr zuvor erst aus den
Überbleibseln von Juventus Colentina Bukarest gegründet, nachdem diesem Verein nach jahrzehntelanger Duldung von Juventus Turin untersagt worden war, den Namen
sowie Trikotdesign und Vereinslogo weiterhin zu nutzen. Ein Name übrigens, der in Colentina überhaupt keine Geschichte hatte, sondern auf zwei italienische Einwanderer zurückgeht, die in 1924 den
Verein Juventus Bukarest gegründet hatten, der 1952 nach Ploieşti weiterzog und seitdem dort als Petrolul Ploieşti spielt. Ein Einzelfall?
2019
Rumänien im Sommer (III)
Medien und Behörden
Craiova
Foto: www.kultro.de
In diesem Sommer kannte die rumänische Presse kein "Sommerloch" – dafür sorgte nicht nur die Politik, sondern auch aufsehenerregende Vorfälle beschäftigten die Öffentlichkeit. Zunächst war es ein Fall von Adoption, der die Gemüter landesweit in Aufwallung brachte. Im Fall von Sorina , einem 8-jährigen Mädchen, begann alles am 21. Juni, als Bilder einer das schreiende und weinende Kind am Arm zerrenden Frau auftauchten, während im Hintergrund die "mascați", die üblicherweise maskiert auftretenden Polizisten der Brigada de intervenție dabei zusahen. Das Kind wurde von seinen Pflegeeltern in Baia de Aramă (Kreis Mehedinți) in Oltenien abgeholt, um zu seinen Adoptiveltern in Craiova gebracht zu werden. Die Frau auf den Bildern mit dem schreienden und sich wehrenden Kind war eine Staatsanwältin. Freunde der Pflegeeltern hatten die Szene mit dem Smartphone gefilmt und über soziale Netze verbreitet, so dass sie in kürzester Zeit auch die Redaktionen der Presse und vor allem der privaten Sender wie antena 3, B1tv, realitatea erreichten. Von dort wurden wie üblich umgehend "meinungsstarke", d.h. in diesem Fall Vorurteile bekräftigende und Emotionen aufrührende Berichte gesendet, die den Adoptiveltern alles vorwarfen, was die Bilder scheinbar belegten: Herzlosigkeit, Unmenschlichkeit, Verachtung der Pflegeeltern, bei denen das Kind 7 Jahre gelebt hatte. Hinzu kam, dass die Adoptiveltern in den USA wohnen und somit sich mehr oder minder unterschwellig noch ein Affekt gegen die ausgewanderten Rumänen einschlich, während die Pflegeeltern als de la noi (von uns) positioniert wurden. Einen Tag später demonstrierten bereits etwa 100 Menschen vor dem Haus der Pflegeeltern "für Sorina" und später vor dem Berufungsgericht in Craiova gegen ihre Adoption. Sie trugen Schilder mit den Losungen "Zerstört nicht das Glück eines Kindes", "Vereint euch für Sorina", "Lasst Sorina entscheiden" ( das rumänische Gesetz sieht eine Mitwirkung des Kindes erst ab 10 Jahren vor). PolitikerInnen wurden zum Eingreifen aufgerufen, Premierministerin Dăncilă – selbst Adoptivmutter eines Jungen, wie sie in einem Interview mit antena 3 im Januar des Jahres offengelegt hatte – sprach sich für eine Berücksichtigung des Kindeswohls und die Bestrafung der falsch handelnden Institutionen aus. Auch die Justiz wurde aktiv, Generalstaatsanwalt Bogdan Licu verlangte, die Ausreise der minderjährigen Adoptierten zu unterbinden, da sie keinen Pass habe und verhinderte so für zwei Wochen die Ausreise, bis das Gericht in Craiova entschied, dass die Adoption rechtens sei. So konnte die Familie Mitte Juli in die USA ausreisen.
Die Vorgeschichte dieser Adoption ist kompliziert und zog sich über 2 Jahre hin. Die Zeitung Adevărul listete auf, welche juristischen und Verwaltungsschritte seit Sorinas Ankunft 2012 mit anderthalb Jahren in der Pflegefamilie unternommen worden waren. Nachdem sie für adoptibilă (adoptionsfähig) erklärt worden war, hatten über 100 Familien Sorina abgelehnt (wohl vor allem, weil sie ursprünglich aus einer Roma-Familie kommt). Dadurch wurde sie als "schwer vermittelbar" auch für im Ausland lebende rumänische Familien adoptierbar. (Das Gesetz sieht für internationale Adoptionen nur Rumänen mit doppelter Staatsbürgerschaft vor!) Anfang 2018 beantragte die Familie aus den USA die Adoption, während die Pflegefamilie in Baia de Aramă, die noch andere Pflegekinder aufzieht, dies nicht tat und zu einem bestimmten Zeitpunkt ausdrücklich auf die Adoption verzichtete. Sie hatte bei der DIICOT (Direcția de Investigare a Infracțiunilor de Criminalitate Organizată și Terorism - Sonderstaatsanwaltschaft für die Untersuchung von Verbrechen der organisierten Kriminalität und Terrorismus) geklagt, dass die Adoptivfamilie das Kind lediglich zur Organentnahme haben wolle. Im April 2019 entschied das Berufungsgericht in Craiova endgültig, dass die Adoption durch das rumänische Ehepaar in den USA rechtens sei. Die Behörden zeigten eher weniger Entschlusskraft, bis im Juni die Staatsanwältin das Kind zu einer Untersuchung abholte.
Im Nachhinein gesehen warf der Fall ein Schlaglicht auf die nicht wenigen Kinder, die nach der Geburt in das System staatlicher Obhut geraten. Die katholische Theologin Gabriela Blebea Nicolae verwies in der Zeitschrift Dilema veche auf die noch viel schlechtere Lage der Kinder, die nicht wie Sorina adoptiert werden und mit der Volljährigkeit kaum Chancen auf ein selbstbestimmtes Leben außerhalb des staatlichen Betreuungssystems haben.
Advărul berichtete im September noch einmal über Sorina, als der Vater aus den USA verlauten ließ, dass es dem Mädchen gut gehe, es sich mit seinen Geschwistern gut vertrage, Klavier lerne und zum Ballett gehe.
*
Begann sich Mitte Juli die Öffentlichkeit nach der Abreise des adoptierten Kindes in die USA von dem Fall allmählich abzuwenden, so sollte das Verschwinden zweier Jugendlicher ebenfalls in Oltenien für eine bis heute anhaltende Aufregung in der Öffentlichkeit sorgen und viele an den Brand in dem Club Colectiv erinnern, in dessen Folge eine ganze politische Protestbewegung gegen die Korruption entstanden war.
Am 25. Juli gab die Familie von Alexandra Măceșanu über soziale Netzwerke ihre Suche nach der Jugendlichen bekannt, die am Tag zuvor morgens von ihrer Heimatgemeinde Dobrosloveni die wenigen Kilometer in die Kreisstadt Caracal per Anhalter gefahren war. Seither hatte sie niemand mehr gesehen oder kontaktieren können. Auch die Lokalpolizei suchte bereits nach der Jugendlichen und teilte dies in den sozialen Netzwerken mit. Was aber wenige Stunden später bekannt wurde, sollte den Fall zu einem weiteren Beweis für die fatalen Folgen rumänischen Behördenversagens machen. Denn während die lokale Polizei erst allmählich tätig wurde, erhielt die Mutter der Jugendlichen einen Anruf, in dem eine männliche Stimme mitteilte, dass Alexandra mit einem Freund nach England gefahren sei, um Geld zu verdienen und es ihr gut gehe. Dass dies nicht zutraf, wurde im Nachhinein klar, weil es am gleichen 25. Juli von 11:05 Uhr an drei Anrufe von Alexandra bei der Polizei unter der Notfallnummer 112 gab, in denen sie sagte, dass sie von einem Mann entführt und vergewaltigt wurde und in einem Haus gefangen sei. Der veröffentlichte Mitschnitt der Telefonate macht deutlich, dass die Jugendliche verzweifelt und voller Angst auf die Gefahr aufmerksam machen wollte, in der sie schwebt, während die jeweiligen Polizisten ihr nicht zu glauben schienen bzw. nicht in der Lage waren, von Alexandra die nötigen Informationen zu erhalten, um sie zu finden oder die Anrufe an die Stelle weiterzuleiten, die mit dem Verschwinden eines Mädchens aus Dobrosloveni sich befassten. Auch dem STS (Serviciul de Telecomunicaţii Speciale) gelang es nicht, anhand der Anrufdaten genau den Aufenthaltsort zu bestimmen. Die letzten Worte des Mädchens sind "vine, vine, criminalul" (er kommt, er kommt, der Verbrecher). Diese sprach sie, als sie von der Polizei auf dem Telefon zurückgerufen wurde. Mittlerweile wird davon ausgegangen, dass der Täter wenig später die Jugendliche tötete und in einer Metalltonne verbrannte.
Der Polizei gelang es erst gegen 2:30 Uhr am nächsten Morgen, den Aufenthaltsort von Alexandra herauszufinden, allerdings wartete sie bis 6:00 Uhr, um das Gelände des Gheorghe Dincă zu betreten, da dann erst ein Staatsanwalt die Erlaubnis erteilte. Dincă wurde auf dem Gelände angetroffen und stundenlang vernommen (offensichtlich unter Gebrauch von körperlicher Gewalt), wobei er zunächst die Tat leugnete.
Mittlerweile hatte ein Beamter der DIICOT im Zusammenhang mit dem Geschehen auch den Fall der bereits im April aus dem nahe bei Caracal liegenden Dorf Radomir, Gemeinde Dioști im Nachbarkreis Dolj verschwundenen 18-jährigen Mihaela Luiza Melencu aufgebracht und Dincă hierzu befragt. Die Schülerin war ebenfalls auf dem Weg nach Caracal verschwunden, wo sie Geld an einem Bankautomaten abheben wollte, das ihre in England arbeitende Mutter geschickt hatte. Melencu lebte bei ihren Großeltern und ging in Craiova auf die Schule. Nachdem sie nicht von ihrer Fahrt per Anhalter zurückkehrte, wandten sich die Großeltern an die Polizei, die diesen Fall sehr zögerlich behandelte. Auch in diesem Fall gab es einen Anruf, bei dem ein Mann erklärte, dass die junge Frau mit einem Freund in die Schweiz gegangen sei und es ihr gut gehe.
Als am 26. Juni diese Nachrichten bekannt werden, geht eine Welle der Empörung nicht nur durch die lokale Bevölkerung des Kreises Olt. Über das Internet und das Fernsehen verbreiten sich die aktuellen Informationen, es kommt nicht nur in Caracal zu spontanen Demonstrationen mit Hunderten von Beteiligten. Alexandra victimă voastră eroina noastră (A. euer Opfer, unsere Heldin), Alexandra a sunat, nimeni nu a acționat (A. hat angerufen, niemand hat gehandelt), Vrem dreptate (Wir wollen Gerechtigkeit), Iartă-ne Alexandra (Verzeihe uns, A.), Corupția ucide (Korruption tötet), Rușine (Schande) lässt sich auf den selbst gebastelten Plakaten und Bannern lesen. Vor dem Anwesen des vermutlichen Täters versammelt sich eine Menge, die Polizei und Justiz ausbuht und Lärm macht, als der Verdächtige abtransportiert wird.
In Fahrt gekommen, setzt der Skandal nicht nur ungehemmte Verdächtigungen, Spekulationen, Vorwürfe frei, sondern veranlasst die Entlassung sowohl des höchsten Polizisten des Landes wie auch einiger weiterer unmittelbar Beteiligter wie auch aus der STS. Ohne Unterlass beschäftigen die Hintergründe und Versäumnisse der Institutionen sowohl Presse als auch das Internet. Befördert wird dies durch die weitreichende Untersuchung des Geländes, auf dem der Verhaftete die beiden Frauen nach eigener Aussage ermordet hat und möglicherweise noch weitere grausige Funde gemacht werden. In jahrelanger Tätigkeit hatte der 66-jährige Dincă ein unübersichtliches Labyrinth von Aufbauten, Kellern, Zimmern mit einem überwucherten Hof an einer Ausfallstraße von Caracal geschaffen. Dincă lebte von Klempnerarbeiten, illegalen Taxifahrten, Kleinhandel. Aufnahmen von Überwachungskameras zeigen ihn an jenem Morgen, als er die Jugendliche Alexandra gekidnappt hatte. Auf dem Gelände gefundene Knochen erwiesen sich als die Alexandras, andere außerhalb in einem Wald gefundene sind die einer 15-20-Jährigen, vermutlich die Luizas.
Die Ermittlungen finden statt in einer Atmosphäre des Misstrauens, da viele jetzt von einer bisher tabuisierten Existenz von kriminellen Clans mit sehr guten Verbindungen zu Polizei und Politik in den vernachlässigten Städten Südrumäniens sprechen. Caracal sei eines der Zentren des Menschenhandels in Südrumänien, in dem junge Frauen zur Prostitution in Europa gezwungen werden.
2019
Rumänien im Sommer (II)
China ist da
Foto: www.kultro.de
In der Stadt Piatra-Neamț am östlichen Karpatenrand hat die Neuzeit der Transition durchaus Einzug gehalten. Davon künden äußerlich eine riesige Carrefour-Mall, zwei große renovierte Hotelhochhäuser, eine Reihe von Einkaufsmöglichkeiten, ein zu aufdringlicher Autoverkehr mit fast nur neuen ausländischen Wagen, erneuerte Trottoirs, renovierte oder neu erbaute Villen in blühenden Vorgärten, ein blinkendes neues Fußballstadion, zahlreiche neu gebaute große Kirchen und manch anderes mehr.
Jenseits dieser ins Auge fallenden Neuerungen sind allerdings die Überbleibsel der Vergangenheit ebenso nicht zu übersehen. Im Stadtteil Dărmănești steht noch, was früher Orion hieß, eine nicht übermäßig große Betonburg als Einkaufscenter mit unterschiedlichen Geschäften und Dienstleistungen. Es führt uns die Suche nach einer Lego-Transformers-Figur in das Gebäude, das auch einen chinesischen Laden beherbergen soll. Es zeigt sich, dass das komplette Obergeschoss Verkaufslokal chinesischer Waren ist – günstige (oder billige) Jacken, Kleider, Spielzeug, Haushaltswaren, die zumeist aus Plastikkunststoff hergestellt sind. Geleitet wird der Laden offensichtlich von einem Asiaten und auch eine Verkäuferin scheint asiatischer Herkunft. Bei der Präsenz chinesischer Billigwaren weltweit ist daran sicher nichts Ungewöhnliches festzustellen. Überraschend wird es aber, wenn man dann an der gleichen Straße etwas stadteinwärts ein noch größeres Geschäft in einem neuen Betongebäude neben dem großen Kaufland-Einkaufszentrum findet. In dem ungelüfteten riesigen Raum riecht es penetrant nach Plastik, das Angebot ist von gehobenerer Qualität undumfasst viel Kinderspielzeug. Und wirklich überrascht ist man dann beim Besuch eines weiteren Betonkomplexes gegenüber des alten Historischen Museums im Zentrum der Stadt, der ebenfalls bessere Tage gesehen zu haben scheint. Im obersten Stock neben einem Club findet sich ein chinesisches Geschäft, vor allem mit Sommerkleidung und Sportgeräten. Aber hatten wir nicht noch an einer zentralen Straße neben dem zentralen Einkaufszentrum am Hotel Plaza ein chinesisches Geschäft gesehen? Auch in diesem am sichtbarsten plazierten Magazin chinezesc finden sich all die Dinge, von denen man bisher nur vermutete, dass sie in China hergestellt wurden. Jetzt macht ein Blick im Geschäft klar, dass dies auch der Fall ist. Und die Krönung stellt die Verwunderung über einen kleinen Laden im Orion dar, dessen gehobene Ausstattung mit Kleidung und Spielzeug ihn erst auf den zweiten Blick als chinesische Verkaufsstelle entpuppt. Ganz anders ist hier die Präsentation der Einzelstücke, qualitativ heben sich die Kleidungsstücke von den bisher gesehenen chinesischen Waren ab und fallen gegenüber denen in nichtchinesischen Läden kaum auf. Die gesuchte Transformers-Figur findet sich leider nirgends.
Alle diese chinesischen Läden haben wegen ihrer unterschiedlichen Präsentation und Niveaus ihre Kundschaft, günstige Produkte finden für eine bestimmte Käuferschicht immer Kaufwillige. Dass diese Nachfrage in der rumänischen Provinz fast ausschließlich aus chinesischer Herkunft gedeckt wird, macht deutlich, wie sehr das Modell des fernöstlichen kommunistischen Staates mit der ultrakapitalistischen Wirtschaft bereits die ausufernden Basare der Nachwendezeit Osteuropas (von denen es auch einen am Rande der Stadt gibt) verlassen und sich nun auf die nicht nur unteren Preissegmente fast aller Waren des täglichen Bedarfs ausgebreitet hat. Piatra-Neamț hat jedenfalls mindestens 5 große solcher chinesischer Verkaufsstellen vorzuweisen – und man braucht nicht viel Phantasie für die Annahme, dass es in zahlreichen rumänischen Städten auf dem Land nicht sehr viel anders aussieht. Und auf dem Markt der Stadt mit seinen zahlreichen Ständen und Geschäften erwecken jetzt auch billige Plastikwaren unsere besondere Aufmerksamkeit.
*
Neversea, Untold, Afterhills, Electric Castle - Markennamen im trendigen Englisch? In gewisser Weise schon. Aber nicht Gegenstände als Waren sind hier gemeint, sondern Dienstleistungen oder genauer künstlerische Darbietungen – es handelt sich um die Namen von Megamusikfestivals in Rumänien. Spätestens fünfzig Jahre nach Woodstock, der Mutter aller Rockfestivals, hat der internationale Markt für solche Veranstaltungen auch Rumänien entdeckt. Landesweit werben die Medien für UNTOLD und Electric Castle in Cluj (Klausenburg), die große Besucherzahlen in die Universitätsstadt im Norden Siebenbürgens anlocken. Electric Castle findet beim Banffy Schloss in Bonțida statt und hat seinen Namen wegen der eher an elektronischer Musik orientierten Ausrichtung. Hauptact waren Mitte Juli neben dem DJ Nils Frahm und rumänischen Musikern wie Subcarpați, der Heldin älterer Generationen Loredana, den Berlinern Zmei3 auf der zentralen Bühne Florence and the Machine und Thirty seconds to Mars, aber auch die Rockband Limp Bizkit aus den USA. Ihr Konzert war mit 50000 Fans ausverkauft, an den 5 Tagen waren etwa 200000 auf das Gelände mit 10 Bühnen einige Kilometer von Cluj entfernt gekommen, was natürlich ein riesiges Transportchaos verursachte. Ansonsten versucht dieses wie die anderen Festivals als "grün" rüberzukommen - von Lidl (!!) gesponsert wurde eine Eco-Bühne und ein Mülltrennungsverfahren. Der Discounter festigt damit in Rumänien sein Image als Mittelklassesupermarkt. Ansonsten bot das Festival zahlreiche Möglichkeiten zu kreativen Aktivitäten.
Noch mehr Besucher zieht UNTOLD in Cluj an: Die Festivalorganisatoren nannten dieses Jahr 372000 Besucher an 4 Tagen zu dem im Zentrum der Stadt und vor allem im Fußballstadion auf 10 Abspielstätten (darunter ein Tramwaggon!) angesiedelten Musikereignis. Headliner waren in diesem fünften Jahr der Veranstaltung der Sänger Robbie Williams und die Star-DJs Paul Kalkbrenner, David Guetta, Armin van Buuren, aber auch Alt-Rapper Busta Rhymes oder der rumänische Star Smiley. Eine spektakuläre Lightshow zum Finale ließ das Stadion aufblitzen und erglühen.
UNTOLD setzt bei seinem Vermarktungskonzept vor allem auch auf die Wirkung in die Stadt hinein, indem es aus dem Erlös sowohl den benutzten Park neu bepflanzt als auch Kinderspitäler und andere soziale Einrichtungen mit neuer Ausstattung versieht. 20% der BesucherInnen kommen aus Cluj, 20% aus dem Ausland, der Rest aus Rumänien, teilen die Veranstalter mit. Und lassen in der Stadt eine durchaus meßbare ökonomische Spur hinter sich. Im Ansturm der Massen von Zuschauern können luxuriöse Studentenwohnungen schon einmal für über 1000 Euro vermietet werden. Allerdings sieht sich das Festival wegen seiner Größe und der mitten in der Stadt in einem Park aufgebauten Bühnen auch mit kritischen Kommentaren konfrontiert.
Am Meer in Constanța findet Neversea statt, nach eigener Einschätzung das "größte Strandfestival Europas". Hier dominieren am Stadtstrand unterhalb der Uferklippe Constanțas elektrische DJ-Musik bis in den späten Vormittag, sportliche Aktivitäten, Wasser, Sonne. Einige Bühnen sind auf dem Wasser installiert. Die Reihe der DJs ist endlos für die 4 Tage Unterhaltung, deren musikalische Darbietungen vor allem nachts durch permanente Light-und Lasershows sich ins Gedächtnis einschreiben. Unter den Acts sind Sean Paul, die junge rumänische Band The Motans, das Hip-Hop Urgestein Paraziții.
Noch nicht beendet ist das Afterhills Festival in Iași, das vor allem am Wochenende stattfindet. Es startete am 23. August auf 5 Bühnen und wird am 1. September enden. Am ersten Wochenende zog es 67000 Besucher an, als der Topact auf der Bühne stand – die englische Pop-Sängerin Rita Ora. In Dobrovăț bei Iași auf einem Wiesengelände zwischen den Hügeln finden unter der Woche vor allem familienfreundlichere Formen der Unterhaltung statt, Kino, Comedy, Graffiti-Painting, Klettern, Tanzen und einige DJ-Acts. Das Festival im dritten Jahr ist das größte der Moldau. Am letzten Wochenende sind u.a. Morcheeba und Les Elephants Bizarres oder auch Subcarpați die Highlights.
Aber nicht nur diese Festivals fanden ihr zahlreiches Publikum: In Bukarest traten im neuen Nationalstadium die Alt-Rocker von Metallica und vor dem Parlamentspalast Bon Jovi vor jeweils mehreren Zehntausenden Fans auf – Open-Air allerorten.
2019
Rumänien im Sommer (I)
Impressionen und Splitter
Fotos: www.kultro.de
Der globale Klimawandel hat (natürlich) auch Rumänien erfasst: Dauerregen, Überschwemmungen, Unwetter, Orkane, Temperaturrekorde und abrupte -stürze prägen das Wetter seit Wochen. Das frühere Kontinentalklima mit ziemlich stabilem heißem Sommerwetter von Mai bis Oktober – höchstens unterbrochen von kurzen Unwettern – gehört der Vergangenheit an. Unberechenbar sind die Vorhersagen, dauernder Wechsel wo früher Stabilität den Sommer zu einer unendlich wirkenden Jahreszeit machte. Immerhin lässt der Regen das Land grün erscheinen. Eine ganz neue Erfahrung: Die stundenlange Eisenbahnfahrt von Bukarest ins nur 350 Kilometer entfernte Piatra-Neamț am östlichen Karpatenrand führt nicht wie üblich durch eine verbrannte braun-schwarze Landschaft, sondern durch grüne Hügel und Ebenen.
Diese Veränderung ist natürlich auch im Land nicht unbemerkt geblieben. Ein Taxifahrer in Bukarest stellt fest: "Die Jahreszeiten sind zerstört!" Ein Fahrer in Piatra-Neamț glaubt, dass dies durch "die Raketen" verursacht worden sei. Auf die Entgegnung, dass vor allem die Industrie und der Autoverkehr die Atmosphäre zerstören, meint er sarkastisch: "Industrie haben wir nicht, da sind wir aus dem Schneider."
Das immer wieder wechselnde Wetter und der immer wieder auftretende Starkregen begleiten den Aufenthalt über Wochen hinweg.
Dass das Autofahren mit diesem Klimawandel direkt zu tun hat, setzt sich allmählich als Bewusstsein durch. Ganz erstaunt ist man, wenn man vom Taxifahrer in Bukarest hört: "Es gibt zu viele Autos in der Stadt!" Das ist nicht unbedingt auf die Umweltzerstörung gemünzt, aber dennoch ein vorher nie gehörtes Statement. In der Tageszeitung Adevărul weist ein Kolumnist auf die Situation in Bukarest hin, dessen Luft nach einer von der Stadt veröffentlichten Studie seit Jahren hoch verschmutzt und krebserregend sei. Als Konsequenz müssten eigentlich alle Autos mit Diesel Euro 3 und 4 verboten werden, wenn man die Hauptursache der Verschmutzung beseitigen möchte, wie es die EU verlangt.
Keine leichte Aufgabe, denn Autofahren (vor allem mit großen Protzautos) gilt schließlich in Rumänien weitgehend als sakrosankt. Entsprechend haben FahrradfahrerInnen und FußgängerInnen einen schweren Stand, wenn etwa die Trottoirs quer bis zur Hauswand zugeparkt werden. In den Dörfern wird das Tempolimit nur selten eingehalten, ausgebaute Straßen, die für FußgängerInnen nur schwer zu überqueren sind, teilen die Ortschaften in zwei Hälften. Das Rasen mit den PS-starken ausländischen Wagen ist ein Volkssport vor allem jüngerer Männer, der immer wieder hohe "Opfer" produziert. Deren genaue Zahlen blieben bisher weitgehend im Dunkeln, jetzt schreibt die Zeitung Evenimentul zilei, dass Rumänien nach einer EU-Studie die höchsten Todeszahlen im Straßenverkehr habe: 96 Tote auf 1 Million Einwohner, während es in Großbritannien "nur" 28 sind. (Deutschland liegt auf dem 21. Platz (bzw. 8. Platz mit den wenigsten "Opfern")). Die Zeitung nennt als Ursache die schlechten Straßen (und wirbt so für den Bau von Autobahnen) und die Überschreitung der angemessenenen Geschwindigkeit. Letztere ist immer wieder zu beobachten, gepaart mit unvorstellbaren Fahrmanövern. So bremst in einer Ortschaft in einer scharfen Rechtskurve der Fahrer eines regulär verkehrenden Minibusses nicht hinter einem Pferdewagen, sondern überholt als gerade ein großer Lkw entgegenkommt – Verantwortungsbewusstsein à la roumaine. Ein anderer Minibusfahrer fängt irgendwann an, auf dem Handy zu tippen – nicht um zu telefonieren, sondern um Textnachrichten zu schreiben. Zu diesen selbst erlebten Fällen addieren die Medien die drastischen Nachrichten von Unfällen mit vielen Toten.
Lieblingsthema der Lokalpolitiker in der Moldau und Siebenbürgen hingegen ist der Bau von Autobahnen. Während nach einigen schlechten Erfahrungen mit ausländischen Firmen viele Rumänen glauben, es gäbe überhaupt keine Autobahnen im Land und jede Verzögerung oder Schwierigkeit beim Bau in den Zeitungen als Bestätigung hierfür gilt, sind dennoch bereits nicht wenige Kilometer in die Landschaft gefräst worden. Allerdings nicht in der Moldau, deren Wirtschaft von der Politik in Bukarest dringend eine Verbindung über die Karpaten nach Târgu Mureș in Siebenbürgen verlangt. Das bisherige Scheitern dieser Forderung ist für die Moldauer ein weiterer Baustein für das Bild der Vernachlässigung der Moldau durch die Regierung in Bukarest, für die Rückständigkeit der Region, Anlass für die Verachtung der Politiker, etc. Bei dieser ökonomisch an steigender Produktivität und wachsendem Gewinn orientierten Forderung wird die daraus folgende Zerstörung der bisher weitgehend intakten Landschaft der Karpaten meist mit keinem Wort erwähnt.
Welche Folgen der motorisierte Individualverkehr haben kann, zeigt die Straße zwischen Târgu Neamț und Iași. Die Metropole der Moldau zieht unweigerlich große Verkehrsströme an und wächst entlang der E 58 nach Westen. Hier haben sich im Laufe der letzten 15 Jahre nicht nur Metro oder Carrefour auf der flachen Wiese des breiten Tals Richtung Târgu Neamț angesiedelt, es sind zahlreiche Autohäuser, Verkaufslager, Supermärkte, hinzugekommen. Und entsprechend steigt der Verkehr auf der teilweise zweispurigen Straße an. Welche Folgen Unachtsamkeit, Verantwortungslosigkeit, Hektik und Stress der FahrerInnen dabei entfalten können, zeigen die bereits verwitternden Kreuze an beiden Fahrbahnrändern – es vergeht kaum ein Monat, an dem auf dieser Strecke nicht ein Mensch stirbt. Oft sind es Fußgänger, die in dem Iașier Ortsteil Valea Lupului die Straße überqueren wollen. Auf den 50 Kilometern von Târgu Frumos bis Iași ließen sich vor einigen Jahren allein 16 Kreuze aum rechten Straßenrand zählen, die Zahl der "Opfer" dieser "Todesstrecke" liegt natürlich weit höher.
Vom wachsenden Autoverkehr nicht verschont bleiben auch die touristisch interessanten Ziele. Das so idyllisch am Rande der Berge in der Bukowina gelegene Gura Humorului verzeichnet im Zentrum während der Arbeitswoche einen solchen Verkehr von Besuchern in Bussen, von Einheimischen, Wirtschaftsfahrzeugen, etc., dass von einem "Luftkurort" kaum noch die Rede sein dürfte. Vor allem ist es der Schwerlastverkehr von Lkws und Transportern, der den Aufenthalt im Zentrum eher als lautes Spektakel in Abgaswolken denn als Erholung erleben lässt. Einer der Gründe dieser Ballung liegt in der Tatsache, dass es keine Straßenalternative aus dem Tal von Câmpulung Moldovenesc nach Osten Richtung Iași gibt.
So bleibt der Autoverkehr eines der Probleme in einer Region, deren landschaftliche Schönheit nur bewahrt werden kann, wenn nicht versucht wird, diese der bequemen Erreichbarkeit und Zugänglichkeit zu opfern – während zugleich die wachsenden Chancen des EU-Staates auf ökonomischem Gebiet den Ausbau des Straßennetzes unausweichlich zu machen scheinen.
In diesem Zusammenhang wurde bisher das Eisenbahnnetz kaum genannt. So überrascht es, in der Tageszeitung Adevărul eine Meldung zu finden, die den Niedergang der CFR (Câile Ferate Române - Rumänische Eisenbahnen) konstatiert. Anlass ist eine neue Studie des Transportministeriums, nach der in den vergangenen 20 Jahren die Infrastruktur der staatlichen Bahngesellschaft kontinuierlich vernachlässigt worden sei und diese daher erheblich an Kunden verloren habe. Die geringe Geschwindigkeit aufgrund der schlechten Schienenverhältnisse und die ebenfalls aus der schlechten Infrastruktur resultierende Unpünktlichkeit seien die Hauptgründe für das geringe Nutzeraufkommen. Die Misere gehe aber letztlich vor allem auf die chronische Unterfinanzierung seit 1990 zurück.
In der Tat stellt die rumänische Bahn ein spezielles Vergnügen dar: War vor 20 Jahren die Fahrt von Bukarest bis Iași (400 km) eine 6-stündiges Dahinkriechen, so bestand doch die Hoffnung, dass in der Zukunft diese Fahrzeit auf vielleicht 5 oder gar 4 1/2 Stunden reduziert werden könnte. Mittlerweile dauert diese Fahrt aber fast 7 Stunden! Und die jetzt häufigen und gut gefüllten Flüge brauchen dafür nur 1 Stunde. Wie sehr das Zugfahren ins Hintertreffen geraten ist, zeigt die Tatsache, dass die CFR es für nötig hält, Plakate in den Zügen anzubringen, auf denen klargestellt wird, dass man für die Zugfahrt eine Fahrkarte braucht und dass bestimmte Regeln zu befolgen sind. Dennoch gelingt es immer wieder, mit dem Schaffner "Deals" zu beiderseitigem Vorteil (und Nachteil der CFR) zu vereinbaren. Im Zug von Câmpulung Moldovenesc nach Gura Humorului fängt eine Reisende eine lautstarke Diskussion mit dem Schaffner an, weshalb so wenige Wagen für die zahlreichen Reisenden bereit gestellt werde, während auf anderen Strecken die Züge nicht so überfüllt seien. Sie fordert bessere Versorgung durch die Bahn, worauf der Schaffner nur wenig zu antworten weiss. Ein deutliches Zeichen für die beginnende Veränderung des Denkens könnte das Wiederaufkommen des Fahrrads im Nahbereich darstellen. Überall sind jüngere Menschen mit neuen Fahrrädern unterwegs. Selbst die zunächst eher wie ein Feigenblatt für eine verfehlte Verkehrspolitik wirkenden grünen Radstreifen in Bukarest machen mittlerweile Sinn, da sie von zahlreichen bicicletiști benutzt - und vielfach auch von den AutofahrerInnen respektiert werden.