2019
Rumänien im Sommer (III)
Medien und Behörden
Craiova
Foto: www.kultro.de
In diesem Sommer kannte die rumänische Presse kein "Sommerloch" – dafür sorgte nicht nur die Politik, sondern auch aufsehenerregende Vorfälle beschäftigten die Öffentlichkeit. Zunächst war es ein
Fall von Adoption, der die Gemüter landesweit in Aufwallung brachte. Im Fall von Sorina , einem 8-jährigen Mädchen, begann alles am 21. Juni, als Bilder einer das schreiende und weinende Kind am
Arm zerrenden Frau auftauchten, während im Hintergrund die "mascați", die üblicherweise maskiert auftretenden Polizisten der Brigada de intervenție dabei zusahen. Das
Kind wurde von seinen Pflegeeltern in Baia de Aramă (Kreis Mehedinți) in Oltenien abgeholt, um zu seinen Adoptiveltern in
Craiova gebracht zu werden. Die Frau auf den Bildern mit dem schreienden und sich wehrenden Kind war eine Staatsanwältin. Freunde der Pflegeeltern hatten die Szene mit dem
Smartphone gefilmt und über soziale Netze verbreitet, so dass sie in kürzester Zeit auch die Redaktionen der Presse und vor allem der privaten Sender wie antena 3, B1tv,
realitatea erreichten. Von dort wurden wie üblich umgehend "meinungsstarke", d.h. in diesem Fall Vorurteile bekräftigende und Emotionen aufrührende Berichte gesendet, die den
Adoptiveltern alles vorwarfen, was die Bilder scheinbar belegten: Herzlosigkeit, Unmenschlichkeit, Verachtung der Pflegeeltern, bei denen das Kind 7 Jahre gelebt hatte. Hinzu kam, dass die
Adoptiveltern in den USA wohnen und somit sich mehr oder minder unterschwellig noch ein Affekt gegen die ausgewanderten Rumänen einschlich, während die Pflegeeltern als de la
noi (von uns) positioniert wurden. Einen Tag später demonstrierten bereits etwa 100 Menschen vor dem Haus der Pflegeeltern "für Sorina" und später vor dem Berufungsgericht in
Craiova gegen ihre Adoption. Sie trugen Schilder mit den Losungen "Zerstört nicht das Glück eines Kindes", "Vereint euch für Sorina", "Lasst Sorina entscheiden" ( das rumänische
Gesetz sieht eine Mitwirkung des Kindes erst ab 10 Jahren vor). PolitikerInnen wurden zum Eingreifen aufgerufen, Premierministerin Dăncilă – selbst Adoptivmutter eines Jungen, wie sie in einem
Interview mit antena 3 im Januar des Jahres offengelegt hatte – sprach sich für eine Berücksichtigung des Kindeswohls und die Bestrafung der falsch handelnden Institutionen aus. Auch die
Justiz wurde aktiv, Generalstaatsanwalt Bogdan Licu verlangte, die Ausreise der minderjährigen Adoptierten zu unterbinden, da sie keinen Pass habe und verhinderte so für zwei Wochen die Ausreise,
bis das Gericht in Craiova entschied, dass die Adoption rechtens sei. So konnte die Familie Mitte Juli in die USA ausreisen.
Die Vorgeschichte dieser Adoption ist kompliziert und zog sich über 2 Jahre hin. Die Zeitung Adevărul listete auf, welche juristischen und Verwaltungsschritte seit Sorinas Ankunft
2012 mit anderthalb Jahren in der Pflegefamilie unternommen worden waren. Nachdem sie für adoptibilă (adoptionsfähig) erklärt worden war, hatten über 100 Familien Sorina abgelehnt (wohl
vor allem, weil sie ursprünglich aus einer Roma-Familie kommt). Dadurch wurde sie als "schwer vermittelbar" auch für im Ausland lebende rumänische Familien adoptierbar. (Das Gesetz sieht für
internationale Adoptionen nur Rumänen mit doppelter Staatsbürgerschaft vor!) Anfang 2018 beantragte die Familie aus den USA die Adoption, während die Pflegefamilie in
Baia de Aramă, die noch andere Pflegekinder aufzieht, dies nicht tat und zu einem bestimmten Zeitpunkt ausdrücklich auf die Adoption verzichtete. Sie hatte bei der
DIICOT (Direcția de Investigare a Infracțiunilor de Criminalitate Organizată și Terorism - Sonderstaatsanwaltschaft für die Untersuchung von Verbrechen der organisierten
Kriminalität und Terrorismus) geklagt, dass die Adoptivfamilie das Kind lediglich zur Organentnahme haben wolle. Im April 2019 entschied das Berufungsgericht in Craiova
endgültig, dass die Adoption durch das rumänische Ehepaar in den USA rechtens sei. Die Behörden zeigten eher weniger Entschlusskraft, bis im Juni die Staatsanwältin das Kind zu
einer Untersuchung abholte.
Im Nachhinein gesehen warf der Fall ein Schlaglicht auf die nicht wenigen Kinder, die nach der Geburt in das System staatlicher Obhut geraten. Die katholische Theologin Gabriela Blebea
Nicolae verwies in der Zeitschrift Dilema veche auf die noch viel schlechtere Lage der Kinder, die nicht wie Sorina adoptiert werden und mit der Volljährigkeit kaum Chancen auf
ein selbstbestimmtes Leben außerhalb des staatlichen Betreuungssystems haben.
Advărul berichtete im September noch einmal über Sorina, als der Vater aus den USA verlauten ließ, dass es dem Mädchen gut gehe, es sich mit seinen Geschwistern gut
vertrage, Klavier lerne und zum Ballett gehe.
*
Begann sich Mitte Juli die Öffentlichkeit nach der Abreise des adoptierten Kindes in die USA von dem Fall allmählich abzuwenden, so sollte das Verschwinden zweier Jugendlicher
ebenfalls in Oltenien für eine bis heute anhaltende Aufregung in der Öffentlichkeit sorgen und viele an den Brand in dem Club Colectiv erinnern, in dessen Folge eine
ganze politische Protestbewegung gegen die Korruption entstanden war.
Am 25. Juli gab die Familie von Alexandra Măceșanu über soziale Netzwerke ihre Suche nach der Jugendlichen bekannt, die am Tag zuvor morgens von ihrer Heimatgemeinde
Dobrosloveni die wenigen Kilometer in die Kreisstadt Caracal per Anhalter gefahren war. Seither hatte sie niemand mehr gesehen oder kontaktieren können. Auch die
Lokalpolizei suchte bereits nach der Jugendlichen und teilte dies in den sozialen Netzwerken mit. Was aber wenige Stunden später bekannt wurde, sollte den Fall zu einem weiteren Beweis für die
fatalen Folgen rumänischen Behördenversagens machen. Denn während die lokale Polizei erst allmählich tätig wurde, erhielt die Mutter der Jugendlichen einen Anruf, in dem eine männliche Stimme
mitteilte, dass Alexandra mit einem Freund nach England gefahren sei, um Geld zu verdienen und es ihr gut gehe. Dass dies nicht zutraf, wurde im Nachhinein klar, weil es am gleichen 25. Juli von
11:05 Uhr an drei Anrufe von Alexandra bei der Polizei unter der Notfallnummer 112 gab, in denen sie sagte, dass sie von einem Mann entführt und vergewaltigt wurde und in einem Haus gefangen sei.
Der veröffentlichte Mitschnitt der Telefonate macht deutlich, dass die Jugendliche verzweifelt und voller Angst auf die Gefahr aufmerksam machen wollte, in der sie schwebt, während die jeweiligen
Polizisten ihr nicht zu glauben schienen bzw. nicht in der Lage waren, von Alexandra die nötigen Informationen zu erhalten, um sie zu finden oder die Anrufe an die Stelle weiterzuleiten, die mit
dem Verschwinden eines Mädchens aus Dobrosloveni sich befassten. Auch dem STS (Serviciul de Telecomunicaţii Speciale) gelang es nicht, anhand der Anrufdaten genau den
Aufenthaltsort zu bestimmen. Die letzten Worte des Mädchens sind "vine, vine, criminalul" (er kommt, er kommt, der Verbrecher). Diese sprach sie, als sie von der Polizei auf dem Telefon
zurückgerufen wurde. Mittlerweile wird davon ausgegangen, dass der Täter wenig später die Jugendliche tötete und in einer Metalltonne verbrannte.
Der Polizei gelang es erst gegen 2:30 Uhr am nächsten Morgen, den Aufenthaltsort von Alexandra herauszufinden, allerdings wartete sie bis 6:00 Uhr, um das Gelände des Gheorghe
Dincă zu betreten, da dann erst ein Staatsanwalt die Erlaubnis erteilte. Dincă wurde auf dem Gelände angetroffen und stundenlang vernommen (offensichtlich unter Gebrauch von körperlicher
Gewalt), wobei er zunächst die Tat leugnete.
Mittlerweile hatte ein Beamter der DIICOT im Zusammenhang mit dem Geschehen auch den Fall der bereits im April aus dem nahe bei Caracal liegenden Dorf Radomir, Gemeinde
Dioști im Nachbarkreis Dolj verschwundenen 18-jährigen Mihaela Luiza Melencu aufgebracht und Dincă hierzu befragt. Die
Schülerin war ebenfalls auf dem Weg nach Caracal verschwunden, wo sie Geld an einem Bankautomaten abheben wollte, das ihre in England arbeitende Mutter geschickt hatte.
Melencu lebte bei ihren Großeltern und ging in Craiova auf die Schule. Nachdem sie nicht von ihrer Fahrt per Anhalter zurückkehrte, wandten sich die Großeltern
an die Polizei, die diesen Fall sehr zögerlich behandelte. Auch in diesem Fall gab es einen Anruf, bei dem ein Mann erklärte, dass die junge Frau mit einem Freund in die Schweiz
gegangen sei und es ihr gut gehe.
Als am 26. Juni diese Nachrichten bekannt werden, geht eine Welle der Empörung nicht nur durch die lokale Bevölkerung des Kreises Olt. Über das Internet und das Fernsehen
verbreiten sich die aktuellen Informationen, es kommt nicht nur in Caracal zu spontanen Demonstrationen mit Hunderten von Beteiligten. Alexandra victimă voastră eroina
noastră (A. euer Opfer, unsere Heldin), Alexandra a sunat, nimeni nu a acționat (A. hat angerufen, niemand hat gehandelt), Vrem dreptate (Wir wollen Gerechtigkeit),
Iartă-ne Alexandra (Verzeihe uns, A.), Corupția ucide (Korruption tötet), Rușine (Schande) lässt sich auf den selbst gebastelten Plakaten und Bannern lesen. Vor dem
Anwesen des vermutlichen Täters versammelt sich eine Menge, die Polizei und Justiz ausbuht und Lärm macht, als der Verdächtige abtransportiert wird.
In Fahrt gekommen, setzt der Skandal nicht nur ungehemmte Verdächtigungen, Spekulationen, Vorwürfe frei, sondern veranlasst die Entlassung sowohl des höchsten Polizisten des Landes wie auch
einiger weiterer unmittelbar Beteiligter wie auch aus der STS. Ohne Unterlass beschäftigen die Hintergründe und Versäumnisse der Institutionen sowohl Presse als auch das Internet. Befördert wird
dies durch die weitreichende Untersuchung des Geländes, auf dem der Verhaftete die beiden Frauen nach eigener Aussage ermordet hat und möglicherweise noch weitere grausige Funde gemacht werden.
In jahrelanger Tätigkeit hatte der 66-jährige Dincă ein unübersichtliches Labyrinth von Aufbauten, Kellern, Zimmern mit einem überwucherten Hof an einer Ausfallstraße von Caracal
geschaffen. Dincă lebte von Klempnerarbeiten, illegalen Taxifahrten, Kleinhandel. Aufnahmen von Überwachungskameras zeigen ihn an jenem Morgen, als er die Jugendliche
Alexandra gekidnappt hatte. Auf dem Gelände gefundene Knochen erwiesen sich als die Alexandras, andere außerhalb in einem Wald gefundene sind die einer
15-20-Jährigen, vermutlich die Luizas.
Die Ermittlungen finden statt in einer Atmosphäre des Misstrauens, da viele jetzt von einer bisher tabuisierten Existenz von kriminellen Clans mit sehr guten Verbindungen zu Polizei und Politik
in den vernachlässigten Städten Südrumäniens sprechen. Caracal sei eines der Zentren des Menschenhandels in Südrumänien, in dem junge Frauen zur Prostitution in Europa gezwungen werden.