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Konflikt und Harmonie in Siebenbürgen und dem Banat
Außergewöhnliche Forschungsansätze in einem Sammelband
Dass sich Siebenbürgen und das Banat nicht nur aus deutschsprachiger Sicht historisch sehr unterscheiden, ist weitgehend Gemeingut. Weshalb dies so ist und wie sich die Differenzen beschreiben lassen, spürt unter den Leitfragen von interkulturellen Konflikten und Harmonie ein Sammelband nach, der ein größeres Projekt (Clash of Civilizations or Peaceful Co-Evolution? Intercultural Contact in the Age of Globalization) begleitet.
Der Herausgeber Mihai I. Spariosu, Professor für Vergleichende Literaturwissenschaft
an der Universität Georgia Athens/USA, sieht als größeren Rahmen der Studien die Frage nach dem intercultural contact und seinen Folgen und Begleitumständen. Diese werden
historisch, soziologisch, ethnographisch angegangen – aber auch digital-algorithmisch in der Verarbeitung von Big Data (computer-assisted social modeling and simulation). Die beiden heute
großteils in Rumänien gelegenen Regionen bieten sich für diese Themenstellung wegen ihrer reichen Diversität in zahlreichen soziologischen Parametern an (ethnisch, religiös-konfessionell,
sprachlich, politisch, sozial) und lieferten historisch zahlreiche Beispiele sowohl für harmonisches Zusammenleben wie auch Konflikte und Gewalt. Es gehe dabei um die Frage, wie die Theorien des
angeblichen clash of civilizations funktionieren und welche Ursachen sie für den Ausbruch von Konflikten bieten: So wechseln einige AutorInnen von nationalen zu ethno-religiösen Erklärungen
und weiter zu Elite-Gruppenbeziehungen. Ebenfalls zentral für die Problematik der Konfliktursachen können auch Zentrum-Peripherie-Verhältnisse sein.
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Moldaus Ex-Präsident Igor Dodon für 72 Stunden festgenommen
Abb.: https://commons.wikimedia.org/wiki/File 09.05.2020 Ceremonia de depunere de flori cu ocazia Zilei Victoriei și comemorării eroilor căzuți pentru Independența Patriei, cu participarea Președintelui Parlamentului
Es ist der 90. Tag und der Beginn des vierten Monats des russischen Angriffs auf die Ukraine, zugleich der 50. Geburtstag der moldauischen Präsidentin Maia Sandu, die sich zurzeit in den USA für eine Rede vor Studierenden der Harvard Universität aufhält, während Premierministerin Natalia Gavrilița am Wirtschaftsgipfel in Davos teilnimmt, als mehrere Häuser von Sandus Vorgänger Igor Dodon (PSRM) und seiner Verwandten stundenlang durchsucht und dieser dann für vorerst maximal 72 Stunden festgenommen wird. Diese Aktion der Staatsanwaltschaft in Chișinău ist die Schlagzeile des Tages der moldauischen Medien. Vor dem Tor zum Gebäude spielen sich Tumulte ab, Unterstützer und Gegner des Ex-Präsidenten von der Sozialistischen Partei skandieren durch Megafone ihre Losungen. Als ein Kleinbus vorfährt und Maskierte und schwerbewaffnete Polizisten den Politiker aus dem Hof in das Fahrzeug bringen, muss eine Kette von Gendarmerie die Menge auf Abstand halten. Rufe wie "Pușcărie" (Gefängnis) oder "Libertate" (Freiheit) sind zu hören.
Nach den Meldungen sind in der Villa Geldnoten in Höhe von mehreren Zehntausenden Euro, Dollar und Lei gefunden worden. Ein Schwager Dodons soll laut Korruptionsstaatsanwaltschaft in einem der Häuser während der Durchsuchung versucht haben, ein Papierdokument zu zerstören, indem er es zu verschlucken suchte. Das Dokument belege Immobilientransaktionen in Höhe von 700 Millionen €. Die Vorwürfe der Staatsanwaltschaft gegen Dodon beziehen sich auf "passive Korruption, Finanzierung einer Partei durch kriminelle Organisationen, Landesverrat und illegale Bereicherung".
Dodon war von 2016 bis 2020 Staatspräsident der Republik Moldau. 2019 wurde Maia Sandu für mehrere Monate Premierministerin, bevor sie bei den Wahlen zum Präsidentenamt 2020 Dodon besiegte und ihre Partei danach auch die Parlamentswahlen deutlich gewann.
Brynkoosh and others
Maria Rybakova's Four Novellas from the Carpathians
Having travelled around the globe for professional
reasons writer and academic Maria Rybakova spent also some time in Romania. Now teaching literature at Nazarbayev University in Nur Sultan (Kazakhstan) she has a Ph.D. in Classical
Literature from Yale University, studied also in Berlin and published several internationally acclaimed novels, which were translated in several languages (including German and English).
Her novel-in-verse Gnedich is about the 19th-century Russian
translator of Homer's The Iliad.
As sort of an outcome of her stay at the New Europe College (NEC) in Bucharest but also of her studies at Al.I.Cuza University in Iași she puts her impressions from the Carpathians in 4 "novellas" that offer in meticulously crafted short stories a surprising literary perspective on the Romanian world of today. In fact they are one of the most unexpected new fresh literary onsights to Romania that can be found at the moment. The stories give quite realistic settings in Romanian towns and Paris and evolve plots that mix reality with literary images and thoughts. So we read about Eliade or "Brynkoosh" (wonderful pronunciation and spelling!) or about somebody who has won after all the famous prize from Stockholm. This latter example hints us to specific Romanian idiosyncrasies that Rybakova observes and evokes in an artistic manner: the longing for at least one Nobel prize for one of the many good writers or researchers or the obsession with Mircea Eliade (the author herself researched Eliade during her stay at the New Europe College.) Rybakova even endeavours to create convincingly a story about a daughter of the Ceaușescus in Paris and her individual sight on events that happened in 1989.
Each of the four "novellas" has its own aesthetic and historic coat so that none looks similar to the others – all of them are
surprising and 'novel'. That is why they offer a wonderful good read about Romania described from an 'outside' perspective. This can be seen in the story of an American girl coming
to a city (which can be recognized as Iași) because she is
fleeing from some legal problems in her home country. Creating her relationships with several persons in the capital of Romanian Moldova and the thoughts of this very special young woman reveal
all the imagination that Maria Rybakova is able to activate when creating her literary worlds of Romania. Each of the stories gives example of this outstanding literary faculty.
Rybakova, grand-daughter of Anatolij Rybakov (author of Children of the Arbat), shows in her stories on Romania the talent and literary craftmanship of her grandfather –
remarkably written in a language that is not her mother tongue. We hope there will be soon a German
translation.
Maria Rybakova: Quaternity. Four Novellas from the Carpathians.
Edition Noëma - ibidemVerlag Stuttgart 2021, 183 pages, ISBN 978-3-8382-1586-0.
Ein fast vergessenes Kapitel
Deutsche in der Dobrudscha
Von den z.T. seit Jahrhunderten im heutigen Rumänien lebenden deutschsprachigen Minderheiten haben die "Dobrudscher" möglicherweise aufgrund der relativ kurzen Phase am Donaudelta bisher am wenigsten
wissenschaftliche und publizistischeAufmerksamkeit erfahren. Seit etwa Mitte des 19. Jahrhunderts zogen vor allem aus Bessarabien Bauernfamilien in das Gebiet zwischen Donaudelta und nordbulgarischer Küste. Diese Siedler hatten in dem seit 1812 zum russischen Zarenreich gehörenden Bessarabien keine Aussichten auf eine erfolgreiche Ökonomie ihrer landwirtschaftlichen Arbeit mehr gesehen und waren auf der Suche nach Anbauflächen in die Landschaft zwischen Donau und Schwarzem Meer eingewandert. Der Humangeograph Josef Sallanz hat dieser Community eine anschauliche und gut lesbare historische und kulturelle Übersicht gewidmet.
Corona in Moldova und "Transnistrien"
Abb:gismoldova.maps.arcgis.com
Die Zahl der Corona-Toten in der Republik Moldova hat bis zum 20. Februar 2022 die Marke von 11000 überschritten. Wie die Website des Gesundheitsministeriums in Chișinău anzeigt, wurden in der Pandemie seit 2020 fast 500000 Infizierte gezählt (20% der Bevölkerung). Verglichen mit anderen europäischen Staaten ergibt sich prozentual eine deutlich erhöhte Zahl der Verstorbenen. In den Kliniken befinden sich momentan 1383 Personen mit Covid-19, davon 94 mit schweren Symptomen, 9 sind an Atemgeräte angeschlossen.
Im November und Dezember 2021 erhielt die Republik Moldova aus Frankreich etwa 280000 Dosen des Impfstoffs Spikevax der Firma Moderna. Mittlerweile liegt die Impfrate nach Angaben des Gesundheitsministeriums bei etwa 30% der Bevölkerung: 1 982 562 Impfdosen wurden demnach bisher insgesamt verimpft, 1 019 565 Personen komplett, 198 925 mit Auffrischungsimpfungen (Booster).
Jüngst wurden auch die Vorsichtsmaßnahmen nach dem Ampelprinzip verändert: Von den generell für das ganze Land geltenden Vorschriften soll nun je nach regionaler und lokaler Situation bei grüner oder orangener Ampel eine Lockerung ermöglicht werden.
PMR
Der abgespaltene de facto-Staat "Pridnestrowische Moldauische Republik" (PMR; ca. 450000 EinwohnerInnen) meldet auf der englischsprachigen Website des Präsidenten ebenfalls Covid-Zahlen für die Woche vom 31. Januar bis 6. Februar. "Die durchschnittliche Inzidenz ist 809 (663 vor einer Woche). Insgesamt 97833 Covid-19-Infektionen wurden während der Pandemie in Pridnestrovie registriert. 2032 Träger des Virus – 2,1% der Erkrankten – starben (18 an der Krankheit Verstorbene in einer Woche), 87902 Menschen oder 90% der Infizierten überlebten die Krankheit (3794 während der berichteten Woche)."
Was die Impfungen angeht, so meldet das Präsidentenbüro: "1100 Pridnestroviner ließen sich in dem Berichtszeitraum voll impfen. Insgesamt 138488 Menschen oder 36,2 % der erwachsenen Bevölkerung wurden gegen Covid-19 in der Republik geimpft. 5002 erhielten einen Booster vom 31. Januar bis zum 6. Februar, insgesamt wurden 57601 Wiederimpfungen ausgeführt."
[https://novostipmr.com/en/news/22-02-07/covid-statistics)
Der Präsident der PMR, Vadim Krasnoselsky, musste laut moldauischen Medien eingestehen, dass 1800 Dosen AstraZeneca aus Moldova bzw. Rumänien, in die PMR gelangten, nachdem er zunächst verkündet hatte, diese seien von der WHO geliefert worden. Weitere Impfdosen (Sputnik) gelangen aus Russland in die PMR.
Historie und Dogmen
Die katholischen Missionen in Moldau und Walachei im 17. Jahrhundert
Ein notwendig monumentales Buch - 480 dichtbedruckte Seiten (gekürzter!) Text über ein Thema, das im Westen nur Theologie- und Geschichtsspezialisten auf dem Schirm haben: die katholische Gegenreformation in den Donaufürstentümern. Keine leichte Lektüre und doch die Eröffnung eines weiten historischen Horizonts zum Verständnis auch des modernen Rumäniens und seiner Mentalitäten und den Zugängen, die sich der Westen zu dieser damals noch weit entfernt erscheinenden Welt eröffnete. Und ein weiteres Beispiel dafür, dass es trotzdem immer wieder Epochen gab, in denen die Landschaften an den Karpaten keineswegs in Paris, Konstantinopel, Warschau, Moskau oder Venedig vergessen waren. Im Gegenteil: Gerade die Auseinandersetzung mit der orthodoxen Religion im Osmanischen Reich stellte für den Heiligen Stuhl und die Herrscher im Westen ein wichtiges und vielfältiges Interesse erregendes Ziel in Zeiten des sich ausbreitenden Protestantismus dar.
Violeta Barbu geht ihr Thema in der Darstellung nicht ereignis- oder entwicklungsgeschichtlich an. Vielmehr flicht sie nach einer umfassenden theoretischen Disposition ein dichtes Netz der Darstellung von strukturellen Momenten der seit der Gründung der Sacra Congregatio Propaganda Fide 1622 verstärkten Missionarstätigkeit in Osteuropa. Zu diesen Strukturen gehören zahlreiche Ebenen und Aspekte, deren prominenteste als juristische, politische, kirchliche, historische, dogmatische identifiziert werden können. In ihren "methodologischen Vorüberlegungen" arbeitet die Autorin eine Reihe von Merkmalen der Beschäftigung mit der Gegenreformation und ihrer Missionstätigkeit an den Karpaten heraus. Sie verweist auf die Grenzen der katholischen und europäischen Welt angesichts der osmanischen Oberhoheit, auf die mentalen Abgrenzungen und Gemeinsamkeiten mit dem orthodoxen Glauben, die Modernisierungsschübe durch den Katholizismus im Raum der religiösen Auseinandersetzungen und in die Zukunft voraus weisenden Denkansätze ("christliches Kontinuum seit dem Mittelalter") sowie auf Fragen der in der Historiographie diskutierten Sozialdisziplinierung und des Durchbruchs eines sozialen Wandels hin zur "Moderne". Diese Annäherungen münden in einen Beginn der Darstellung, der die unterschiedlichen Normen und Institutionen diskutiert, die für den Raum der Donaufürstentümer und ihre religiöse Situation bestimmend waren. Es handelt sich dabei um eine Konkurrenz von weltlichen Institutionen und den geistlichen Systemen, die zu vielfachen Unklarheiten und Überlappungen von Entscheidungsbefugnissen auch innerhalb der katholischen Kirche führten.
Der Boden als Eigentum -
Landreformen und Politik in Rumänien, Jugoslawien und Polen im 20. Jahrhundert
Interview mit dem Historiker Dietmar Müller über seine große Studie "Bodeneigentum und Nation"
Dietmar, du hast im Wallstein Verlag eine umfangreiche historische Studie* zur Landreform auch in Rumänien vorgelegt. Was ist Thema und was ist der Ausgangspunkt deines groß angelegten Buches "Bodeneigentum und Nation"?
Ich habe mich in dem Buch mit den Agrarreformen nach dem Ersten und nach dem Zweiten Weltkrieg in Ostmittel- und Südosteuropa beschäftigt.
Es gab mehrere Ausgangspunkte für das Buch. Zusammenfassen kann man sie am besten in der Hypothese, dass Eigentum an Grund und Boden für die Bauern, aber ebenso für die Gesellschaft und für den Staat von großer Bedeutung war und ist. Und zwar nicht nur im wirtschaftlichen Sinne. Für die Bauern hatte ihr Boden auch eine identitätsbildende Funktion innerhalb des Dorfes, aber auch als freier und selbstbewusster Staatsbürger, der nicht manipulierbar war.
Du gehst komparatistisch vor, indem du Rumänien, Jugoslawien und Polen zu diesem Thema vergleichst. Welches sind die methodischen Voraussetzungen dieses Komparatismus? Haben Staaten, Völker und Nationen nicht immer unterschiedliche Entwicklungen?
Diese drei Staaten haben ich vergleichend daraufhin analysiert, wie die Agrarreformen durchgeführt wurden und welche Bedeutung dem Bodeneigentum bei der Konstruktion von Nationen und Nationalstaaten zukam. Beim Vergleich kommt es darauf an, dass konkrete Dinge, Ideen und Prozesse auf etwas Größeres bezogen werden, das für die Vergleichspartner relevant ist – wenn auch in unterschiedlichem Ausmaß und Ausprägung. Dass ich nun gerade Rumänien, Jugoslawien und Polen miteinander verglichen habe, ist darin begründet, dass sie mit dem Zusammenbruch Österreich-Ungarns im Ersten Weltkrieg ex-habsburgische Provinzen erhielten: Siebenbürgen und die Bukowina; Kroatien, Slowenien und die Vojvodina; und Galizien. Diese neuen Provinzen brachten bedeutsame Eigenarten in die neuen Staaten ein, so dass ich folgende Fragen beantworten wollte: Wie gehen die neuen Staaten mit dem wohl etablierten Kataster- und Grundbuchsystem des Habsburgerreichs um? Kann die habsburgische Rechts- und Behördenkultur integriert werden? Welche Wege für eine staatsbürgerliche Integration der ethnischen Minderheiten aus den multi-ethnischen habsburgischen Provinzen werden vom politischen Bukarest, Belgrad und Warschau eröffnet, und welche geschlossen? Wie man sieht, sind dies Fragen, die sich sinnvoll an die drei genannten Nationen und Staaten, in leicht gewandelter Form sogar an die neue Staatenwelt der Zwischenkriegszeit insgesamt von Estland bis Albanien stellen kann.
Für dein Vorgehen ist der Begriff des Eigentumregimes zentral, insbesondere in seiner liberalistischen Variante. Welche Rolle hat er im 19. Jahrhundert gespielt und wie hat er sich in deinem speziellen Untersuchungsraum verändert?
Ein bestimmtes Verständnis von Eigentum war grundlegend für den Liberalismus als dominierende Wirtschafts- und Gesellschaftsideologie des 19. Jahrhunderts. Das liberale Eigentumsverständnis war individualistisch geprägt, es setzte auf Rechtsgleichheit und Rationalität. Jedes Individuum sollte ungeachtet seines Standes, seiner Konfession oder Ethnie, oder seiner familiären, regionalen und nationalen Herkunft ein Recht auf Eigentum haben. Seinerzeit war das modern, denn es löste die Menschen aus feudalen Bindungen. Auch in politischer Hinsicht sollte das liberal-individualistische Eigentumsverständnis emanzipativ wirken: Alle Eigentümer – und dies gilt besonders für die ländliche Bevölkerung – würden sich auf der Sicherheit des Eigentums ruhend zu selbstbewussten Bürgern entwickeln. Sie würden aus der patriarchalischen Abhängigkeit von ihren Gutsbesitzern heraustreten und nicht mehr manipulierbar sein.
Die notwendige Geduld für kleine Schritte auf einem langen Weg oder gar die Geduld, auf die Wirkung von Marktkräften zu warten, glaubten die Eliten der neuen Staaten Ostmittel- und Südosteuropas nach dem Ersten Weltkrieg sich nicht leisten zu können. Sie wollten nun in möglichst kurzer Zeit ihre Nationalstaaten nach westeuropäischen Mustern aufbauen, und der Staat war dabei ein sehr tatkräftiger Akteur. Ein Gutteil des wirtschaftlichen und politischen Emanzipationsversprechens des Bodeneigentums war also bereits dadurch in Gefahr, dass staatliche Akteure beeinflussen konnten, wie viel Verfügungsmacht und Freiheit die Neueigentümer aus ihrem Grund und Boden ziehen konnten. Dies ist z.B. bei der Durchführung der Agrarreformen zu sehen. Hierbei trat der Staat überall zwischen diejenigen, die enteignet wurden und diejenigen, die Boden neu erhielten. Überall wurde der Staat zunächst zum Eigentümer des enteigneten Bodens, bevor er ihn an die Neueigentümer verteilte. Das verlieh staatlichen Akteuren und Behörden sehr große Macht.
Kann man diese Infragestellung des liberalen Eigentumregimes mit den aktuellen Fragen um das Wohnen vergleichen?
Eine direkte Parallele würde ich nicht ziehen wollen. Grundsätzlich aber ist die Frage nach der sozialen Funktion von Eigentum in beiden Fällen berührt. Im Übrigen wurde auch in den west- und mitteleuropäischen Diskussionen um Funktion und Ausgestaltung von Eigentum nach den Objekten des Eigentums unterschieden. Ein Mindestmaß an Eigentum an Grund und Boden, an Nutztieren und an einem Haus wurde oft mittels gesellschaftlicher Normen und per Gesetz vor Enteignung geschützt. Eigentum an Aktien, um ein Beispiel eines Eigentumsobjekts mit großer Entfernung von konkreten Personen zu wählen, wird in aller Regel nicht mit einer sozialen Rolle versehen.
Vor welchem historischen Hintergrund haben die untersuchten Staaten in den Bodenreformen die Möglichkeit erhalten, das liberale Eigentumsregime durch Belastung mit unterschiedlichen Vorgaben zu modifizieren?
Im rumänischen Altreich war die Notwendigkeit einer Agrarreform vielen Zeitgenossen schon länger klar gewesen. Ich erinnere an die große Revolte von 1907, als es in weiten Teilen Rumäniens zu Zerstörungen von adeligen Besitztümern sowie staatlichen Einrichtungen durch Kleinbauern und Landlose gekommen war. Dass sich die Angriffe auch gegen jüdische Landpächter gerichtet hatten, nahm die Oberschicht zum Anlass, die eigentlichen Ursachen der Erhebung zu verschleiern, nämlich eine extrem ungleiche Verteilung des Bodens und ein Agrarregime, in dem die Großgrundbesitzer sich sowohl der Vorteile des Privateigentums, als auch der Vorteile abhängiger bäuerlicher Arbeit erfreuten. Aber erst die Ereignisse des Ersten Weltkriegs zwangen die politische und wirtschaftliche Oberschicht Rumäniens dazu, eine durchgreifende Bodenreform in Aussicht zu stellen – gleichsam als Belohnung dafür, dass die Söhne der Bauern die Waffen wieder aufnahmen, nachdem die rumänische Armee in der ersten Phase des Krieges schnell von habsburgischen, deutschen und bulgarischen Truppen besiegt worden war.
Wie im rumänischen Fall kam es auch in Serbien dazu, dass der König eine Agrarreform nach dem Krieg ausdrücklich versprach. In Polen konnte dies naturgemäß nicht der Fall sein, da es im dreigeteilten Polen keinen polnischen Monarchen gab. Dort kam es jedoch im Sommer 1920 zu einer vergleichbaren Verbindung zwischen militärischer Mobilisierung und Agrarreform, als die Rote Armee in der Auseinandersetzung um die Zugehörigkeit von Territorien, die heute die Ukraine und Belarus ausmachen, kurz vor Warschau stand. Der Sejm sah sich gezwungen in aller Eile eine Bodenreform zu beschließen, die zuvor auf die lange Bank geschoben worden war.
Privates und Öffentliches
Der Schriftsteller Jan Koneffke und seine ganz private Seite von Bukarest
Abb. Screenshot tvr.ro/youtube.com
Im dritten Beitrag der Reihe "Mein Bukarest" erinnert Jan Koneffke an seine erste Ankunft in der Stadt Anfang der 1990er Jahre, als er an einer Schriftstellerkonferenz teilnahm und Nora Iuga kennenlernte. Aber als er Jahre später wieder in die Metropole an der Dîmbovița kam, war er an die Stadt gefesselt durch die Liebe ...
Private Einsichten und Koneffkes Verbundenheit mit Bukarest führen auch in dieser wieder sehr sehenswerten Folge der Reihe zu anregend-eigensinnigen Schlaglichtern.
https://www.youtube.com/watch?v=bM1Ynd4GWnI&list=PLxO8-C91Lp90Zv2wgnrpbE3yxZnGN9F2Q&index=1
Traian Pop
erhielt
Andreas Gryphius-Preis 2020
Mit dem Gryphius-Preis, benannt nach dem schlesischen Barock-Dichter – ein vielsprachiger Poeta doctus – wurden so bedeutende Dichter wie Reiner Kunze, Rose Ausländer, Siegfried Lenz, Andrzej Szczypiorski oder Jiri Grusa ausgezeichnet.
Der Dichter und Verleger Traian Pop kommt aus dem Ovid-Land Rumänien, die weiche Harfe am Schwarzen Meer.
Sein in Ludwigsburg beheimateter Pop-Verlag gibt seit 2003 Büchern zu Ostmitteleuropa ein brillantes Forum; auch erscheinen zwei Literaturzeitschriften vierteljährlich in seinem Verlag, "Matrix" und "Bawülon". In über 500 Verlags-Titeln veröffentlichten im Pop-Verlag über 2000 Autoren.
Traian Pop arbeitet aus dem Geist von Gryphius und Ovid in der Erkenntnis, dass die Republik der Sätze die Literatur ausmacht. So sah es auch der große Düsseldorfer Heinrich Heine, der im transitorischen Heimatland der Dichtung sein unverlierbares Obdach erkannte
Auch Rumänien kann mit dem imponierenden Werk des Schriftstellers und Verlegers Traian Pop entdeckt werden. Er schlägt eine Brücke von Glogau und Breslau nach Temeswar/Timişoara, die EU-Kulturhauptstadt des Jahres 2023, und nach Bukarest/Bucureşti.
Die Laudatio auf Traian Pop Traian hielt der in Siebenbürgen geborene Literat und Journalist Georg Aescht (Kulturportal West-Ost und Kulturpolitische Korrespondenz, Stiftg. Dt. Kultur im östlichen Europa). Aescht verfasste zahlreiche literaturkritische Beiträge und trat im deutschen Sprachraum als Übersetzer von Norman Manea, Gellu Naum, Mihail Sebastian, Liviu Rebreanu und anderen bedeutenden rumänischen AutorInnen hervor.
(Mitteilung des Gerhart-Hauptmann-Hauses Düsseldorf)
"We love football and
we miss important games"
Fußball in Rumänien
von
Volkmar Hoffmann
Abb: FC Voluntari/©Volkmar Hoffmann
Es war Anfang Oktober 2019, ein Samstag um 11 Uhr in Colentina, einem von chinesischen und arabischen Einwanderern geprägten Stadtteil am Ostrand von Bukarest. Zweitligaspiel zwischen ACS Daco–Getica Bucureşti und FC Dunărea Călăraşi im Stadionul Colentina, das versteckt zwischen in den 1970-ern und '80-er Jahren gebauten acht- bis zehnstöckigen Wohnblöcken liegt. Ein großer, meine siebenbürgische Stiefmutter würde sagen stattlicher Mann um die Fünfzig, mit einer nach allen Seiten ausufernden, weinroten Strickmütze, in dickem Anorak, Schal und Polyestertrainingshose. Vor Spielbeginn hatte er sich einen mitgebrachten Pappkarton auf einen der Hartplastikschalensitze gelegt, seinen Regenschirm und eine Unmenge von gut gefüllten Plastiktüten daneben gelagert, aber gesessen war er kaum. Die meiste Zeit stand er ganz oben, auf einem Sitz in der letzten Reihe, auf Höhe der Mittellinie, in seinen Händen zwei Fahnenstangen mit der rumänischen Flagge, die er aus Halterungen im Stadion gezogen hatte. Er sang lautstark die rumänische Hymne mit und schwenkte dabei ausgiebig die Fahnen. Nach der Einspielung steckte er sie wieder zurück. Einmal, als seine Mannschaft augenscheinlich nicht in die Gänge kam, griff er in eine seiner Tüten und bot einem Daco-Stürmer zur Stärkung eine überreife Banane an. Trotz seiner Lautstärke hatte er nichts Aggressives, er schien vieles eher scherzhaft zu meinen, zumindest amüsierte sich eine jüngere Frau in seiner Nähe köstlich.
Aber warum war sein Anfeuerungsruf Juventus, Juventus, wo der Verein doch Daco–Getica hieß? Einige Tage später, eine Sportsbar im Zentrum von Bukarest. An den Wänden ein paar Fotos und Wimpel der erfolgreichsten rumänischen Clubs, vor allem aber Devotionalien der beiden Mailänder Fußballvereine und von Juventus Turin. Ich hatte mich mit meinem Fußballfreund Radu und seinem Vater getroffen um mehr über den rumänischen Fußball zu erfahren. Die EM – mit vier Spielen in Bukarest – stand vor der Tür, die Chancen, dass Rumänien sich doch noch dafür qualifizieren könnte, gingen gegen Null. Ich wollte wissen, wie das so ist, mit der Begeisterung für so ein Event, wenn das eigene Team nicht beteiligt ist. Aber zuerst mussten sich beide meine Begeisterung über den einsamen, unermüdlichen und witzigen Fahnenschwinger anhören. Did you hear the national anthem at the beginning? Ähm, ja schon – aber das machen die Amis auch. But thats not usual in second league games! Do you know, that this club is known for their use of xenophobic symbols and songs, and that the owner, who is known in Bucharest as the trash king, has spent some time in jail? Nein, hatte ich nicht. Aber dass in Rumänien bereits etliche Manager und Besitzer von Profiklubs wegen Steuerhinter-ziehung, Geldwäsche oder Korruption verurteilt worden waren, wusste ich natürlich.
Drei Spieltage später wurden die bisherigen Ergebnisse von Daco annulliert. Der Präsident – oder war's der Manager, oder der Eigentümer, oder alle drei in Personalunion? – war während eines Spieles in der Halbzeitpause verhaftet worden. Die Spielergehälter konnten nicht mehr gezahlt werden, der Spielbetrieb wurde eingestellt.
Daco–Getica Bucureşti. Im Jahr zuvor erst aus den
Überbleibseln von Juventus Colentina Bukarest gegründet, nachdem diesem Verein nach jahrzehntelanger Duldung von Juventus Turin untersagt worden war, den Namen
sowie Trikotdesign und Vereinslogo weiterhin zu nutzen. Ein Name übrigens, der in Colentina überhaupt keine Geschichte hatte, sondern auf zwei italienische Einwanderer zurückgeht, die in 1924 den
Verein Juventus Bukarest gegründet hatten, der 1952 nach Ploieşti weiterzog und seitdem dort als Petrolul Ploieşti spielt. Ein Einzelfall?
Bukarest de altă dată
Jan Koneffke weist auf die verborgenen Preziosen der rumänischen Hauptstadt hin
Abb. Screenshot tvr.ro/youtube.com
Nur wenige kennen hierzulande Bukarest. Der Ruf der Stadt an der Dâmbovița ist nicht der beste, auch in Rumänien nicht. Dass diese Skepsis oft auf Nichtwissen basiert, möchte der in Bukarest lebende Schriftsteller und Dichter Jan Koneffke ändern. In Zusammenarbeit mit dem Goethe-Institut stellt er in der deutschen Sendung Akzente auf TVR in anschaulichen Miniaturen besondere Gebäude und Geschichten der Millionenstadt vor. Zwei Beiträge sind bisher erschienen und können auf dem Youtube-Kanal von Akzente im Internet angeschaut werden, weitere sind in Vorbereitung.
Die beiden stimmungsvollen Reportagen widmen sich einmal der Casa Storck in der strada Vasile Alecsandri, die mittlerweile zu einem prächtigen Museum renoviert wurde. Hier lebten die Malerin Cecilia Cuțescu-Storck und ihr Ehemann, der Bildhauer Frederic Storck. Koneffke weiß geschickt die Lebensgeschichten der beiden Künstler mit einer Geschichte des Hauses und der damaligen Epoche vor und nach dem Ersten Weltkrieg zu verbinden. Ebenso gilt dies für den Beitrag, der die Orte des Schriftstellers Mihail Sebastian (Iosif Hechter) aufsucht und dessen berühmtes (auch ins Deutsche übersetzte) Tagebuch von den 1930er Jahren bis zu seinem frühen Unfalltod 1945 in der Topographie der Stadt verortet. In den beiden Filmen knüpfen Querverbindungen und Zeitfäden ein faszinierendes Netz von der Geschichte dieser Stadt und ihren Bewohner*innen.
https://www.youtube.com/watch?v=xdluiT6ca5U (casa Storck)
https://www.youtube.com/watch?v=i09buPFYCFE (Mihail Sebastian)
Heute vor 32 Jahren
Die Revolution in Rumänien in Tageschroniken
32 Jahre nach dem Aufstand der rumänischen Bevölkerung gegen das diktatorische Regime von Nicolae Ceaușescu und der kommunistischen Partei lassen sich viele der Details des Geschehens genauer beschreiben als in den Jahren zuvor, als
Abb. CC BY-SA 2.5 pl, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=1237708
sie vielfach noch nicht präzise eingeordnet werden konnten. Zahlreiche Fotos, Videos, Dokumente, Augenzeugenberichte, Gerichtsprotokolle lassen ein Bild entstehen, das die Vorgänge an der Oberfläche dokumentiert, während entscheidende Fragen nach den politischen Manövern innerhalb der Parteistrukturen, der Armee und der Securitate vor, während und nach der Revolution noch nicht offengelegt wurden. In einigen Fällen sind die Verantwortlichen klar benannt worden, allerdings haben sich daraus oft keine strafrechtlichen Konsequenzen ergeben.
An den Ablauf der Geschehnisse im Dezember soll die folgende Chronik erinnern.
Freitag, 15. Dezember 1989
Der bereits wegen seiner regimekritischen Aussagen (u.a. in ausländischen Radiosendern) aufgefallene Priester der Reformierten Kirche in Temeswar, László Tökés, hatte im Sonntagsgottesdienst am 10.12. seine Gemeinde aufgefordert, am 15. Zeuge bei seiner gegen seinen Willen angeordneten Versetzung in ein isoliertes Dorf bei Sălaj zu sein. Es kommen am frühen Morgen einige Hundert meist ungarischsprachige Gläubige an das überwachte Gebäude der Reformierten Kirche in der strada Timotei Ciparu an der Piața Maria, nicht weit entfernt von der Innenstadt. Securitate-Mitarbeiter in Zivil versuchen, Verhaftungen unter der Menge vorzunehmen, wobei es zu Auseinandersetzungen kommt, die sich aber noch nicht ausbreiten. Nachmittags finden sich weitere Menschen ein, jetzt auch Rumänen aus der baptistischen Gemeinde. Tökés kritisiert das Regime von Parteichef Nicolae Ceaușescu, es wird erstmals das Lied "Deșteapte-te române!" (Erhebe dich, Rumäne) gesungen. Um 20.00 Uhr kommt der Bürgermeister von Temeswar, Petru Moț, um mit Tökés zu verhandeln. Einige Protestierer bleiben über Nacht beim Kirchenamt.
Samstag, 16. Dezember 1989
An der Piața Maria in Temeswar versammeln sich anfangs etwa 300-500 Menschen, um gegen die Evakuierung des Priesters Tökes, aber auch bereits gegen das System von Partei und Staat zu protestieren. Ein Teil der Menge hält Straßenbahnen der Linie Nr. 2 in der Nähe des Gemeindeamtes der Reformierten Kirche an, um mit ihnen unter dem Rufen von Losungen wie "Jos Ceaușescu!", "Libertate" oder "Vrem paine!" (Wir wollen Brot!) in die Innenstadt zu gelangen. In größeren Gruppen marschieren Demonstranten in das Stadtzentrum. Eine Buchhandlung mit Büchern Ceaușescus wird zerstört, auch zahlreiche Schaufenster an der Einkaufsstraße im Zentrum gehen zu Bruch. Die Plakate mit Parteilosungen und Fotos von Ceaușescu werden zerstört. Auf einem ungarischen Radiosender wird über die Demonstrationen berichtet. Tökés bittet die Menge vom Pfarramt aus, die Demonstration aufzulösen und nach Hause zu gehen. In der Innenstadt auf dem Platz zwischen Oper und Kathedrale kommt es zu Konfrontationen mit der Miliz und den Wasserwerfern der Feuerwehr und zu zahlreichen Verhaftungen. Hunderte werden in Gefängnisse eingeliefert. Gruppen von Demonstranten gehen in andere Viertel der Stadt, vor allem solche mit Studentenheimen, um weitere Demonstranten zu animieren, auf die Straße zu gehen.
Nach Mitternacht sperrt Miliz die Straße zur Reformierten Kirche ab und räumt die Piața Maria. Tökés flüchtet sich mit seiner hochschwangeren Ehefrau, einem Schwager und dem Studenten Gazda Arpad in die Kirche, wo sie nachts von der Securitate verhaftet und ins Gefängnis gebracht werden. Der Aufstand scheint niedergeschlagen worden zu sein.
Sonntag, 17. Dezember 1989
Die Auseinandersetzungen in Temeswar zwischen Demonstranten gegen das Regime Ceaușescu und den Ordnungskräften verschärft sich in mehreren Stadtteilen. Panzer und gepanzerte Fahrzeuge sind auf Seiten der Miliz und der Armee im Einsatz. Barrikaden werden gebaut. Unbekannte zerstören systematisch Geschäfte, zünden sie an, ohne dass die Ordnungskräfte einschreiten. Auf Befehl Ceaușecus, den General Vasile Milea umsetzt, wird, vor allem als die Dunkelheit nach 16 Uhr einbricht, scharf in die immer größer werdende Menge geschossen und die ersten Verletzten und Toten unter den Demonstranten sind zu verzeichnen. Auch in die Häuser wird geschossen. Die Einheiten von Securitate, Armee, Miliz, Innenministerium, die an den Schießereien beteiligt sind, sind nicht genau zu verifizieren.
Montag, 18. Dezember 1989
Sânpetru Mare
Foto: Dobrivoie Kerpenisan
/aus Rebels With A Cause, 2019/
Angehörige begeben sich in der gespannten Atmosphäre der Stadt Timișoara in die Spitäler, um ihre Toten zu finden und zu beerdigen. Jede Gruppenbildung auf den Straßen ist verboten, auf Ansammlungen werde sofort geschossen. In den Firmen und Fabriken werden die Fehlenden gezählt. In einzelnen Vierteln wie dem Arbeiterviertel Girocului sind die Straßen übersät mit Gewehrpatronen und weisen auf eine kriegsähnliche Situation hin.
Vor der verschlossenen Kathedrale werden Kinder und Jugendliche, die dort Kerzen aufstellen wollen und Anti-Ceaușescu-Parolen rufen, von der Armee erschossen. 60 Tote und hunderte Verletzte sind das Ergebnis dieses Tages.
In dem Dorf Sânpetru Mare veranlassen Berichte von den Vorgängen in Temeswar eine Menschenmenge zum Marsch auf die Primaria, wo sie Bilder und Bücher von Ceaușescu zerstören.
In der Nacht zum Dienstag wird die "Operațiunea Trandafirul" (Operation Rose) durchgeführt: 40 Leichen werden von der Miliz aus den Krankenhäusern entwendet (einige noch Lebende werden ermordet), in einem Kühlwagen nach Bukarest gebracht, dort in einem Krematorium verbrannt und ihre Asche in einem Graben bei Bukarest verteilt.
Der Staatspräsident Ceaușescu begibt sich ohne Ehefrau Elena zu einem Staatsbesuch in den Iran.
Dienstag, 19. Dezember 1989
Sânpetru Mare
Foto: Dobrivoie Kerpenisan
/aus Rebels With A Cause, 2019/
Es werden zahlreiche weitere Verhaftungen vorgenommen. Die Arbeiter der Firma ELBA (Electrobanat) erklären den Generalstreik. In den Betrieben wird über das weitere Vorgehen diskutiert. Viele Fabriken sind von Ordnungskräften umstellt, um die Arbeiter an Demonstrationen zu hindern. Um 11 Uhr versuchen der erste Sekretär der Partei im Kreis, Radu Bălan, und Bürgermeister Moț, die Arbeiter zum Einstellen der Arbeitsniederlegungen und Demonstrationen zu bewegen. Bălan scheint bereit, in das Lager der Revolutionäre zu wechseln. General Gușă, ebenfalls in der Fabrik ELBA, ordnet einen Teilrückzug der Armee an. Auf den Straßen dominieren die Ordnungskräfte von Armee, Miliz, Securitate, bei Zusammenstößen sterben 8 Menschen.
Mittwoch, 20. Dezember 1989
Zehntausende, vor allem aus den Betrieben und Fabriken, demonstrieren in Temeswar gegen die Diktatur. Der Platz zwischen der Oper und Kathedrale füllt sich ab 14 Uhr mit Menschen, die aus den Nationalfahnen die Parteizeichen herausgeschnitten haben. Vom Balkon der Oper werden Reden gehalten (die installierten Mikrofone und Lautsprecher waren für eine prokommunistische Kundgebung vorgesehen). Der erste Redner, Ioan Chiș, prägt den Spruch: Endlich ist die Mămăligă explodiert. Die Menge ruft enthusiasmiert: "Libertate", „Azi în Timişoara, mâine-n toată ţara!” (Heute in Temeswar, morgen im ganzen Land),
Eine große Zahl begibt sich zum Consiliul Județean, wo der Premierminister Constantin Dăscălescu sich aufhält. Eine Abordnung von Revolutionären (Ioan Savu, Corneliu Vaida, Sorin Oprea, Marcu, Boloșoiu, Hanus Sandu, Petrișor u.a.) führt einen Dialog mit dem Premierminister in dem Gebäude und fordert Rückzug der Armee, genaue Aufklärung über die Schießbefehle und die Zahl der Toten, Freilassung der Verhafteten, freie Wahlen, privates Unternehmertum, freie Presse. Die Befreiung der 980 Verhafteten und der Rückzug der Armee in die Kasernen wird erreicht. Vereinzelt werden Verbrüderungen mit der Armee beobachtet.
In der Stadt Lugoj im Banat finden ebenfalls Demonstrationen statt. Es ist die erste Stadt, die dem Beispiel von Temeswar folgt. Zwei junge Protestierer werden gegen 20.00 Uhr aus einer Armeekaserne heraus erschossen, die Parteizentrale geht in Flammen auf, zahlreiche Fensterscheiben von Geschäften werden eingeschlagen.
Um 19 Uhr hält der aus dem Iran zurückgekehrte Ceaușescu eine Rede im Fernsehen, in der er die Vorgänge und die "reaktionären, hooliganistischen, terroristischen Elemente" verurteilt. Der Ausnahmezustand wird über Temeswar verhängt. Aus seiner Heimatregion Oltenien (Craiova) sendet Ceaușescu Arbeiter als Nationalmilizen nach Temeswar, um gegen die Demonstranten vorzugehen. Sie solidarisieren sich aber mit den Aufständischen und verbreiten nach ihrer Rückkehr die Nachrichten über den Aufstand.
Auf dem Platz vor der Oper in Temeswar bleiben etwa 60 Menschen über Nacht.
Donnerstag, 21. Dezember 1989
Auf dem Balkon der Oper in Temeswar verliest Lorin Fortuna morgens eine Proklamation, die einen neu konstituierten Frontul Democratic Român vorstellt und Temeswar zur ersten kommunismusfreien Stadt (oraș liber de comunism) Rumäniens erklärt.
In Arad gehen ab 8.30 Uhr die ArbeiterInnen zahlreicher Betriebe auf die Straße und marschieren in Richtung des zentralen Platzes, wo sich das Parteibüro befindet. Um 12.30 Uhr verspricht die Kreissekretärin der Partei, Elena Pugna, ähnlich wie Ceaușescu in Bukarest, eine Erhöhung der Löhne und der Kinderzulagen, wird aber ausgepfiffen. Am Abend wird unter den Demonstranten nach dem Temeswarer Vorbild ein Komitee mit der Bezeichnung Frontul Democratic Român gebildet mit dem Schauspieler Valentin Voicilă als führendem Mitglied. Der um das Parteigebäude postierte, mit Kriegsmunition bewaffnete Kordon aus Miliz und Militär findet keinen Anlass zum Eingreifen.
In Cluj wird hingegen auf dem zentralen Platz ohne Anlass von der Armee auf Befehl lokaler Offiziere in die Menge geschossen, 26 Menschen sterben, 79 werden verletzt.
In Târgu Mureș/Marosvásárhely wehren sich Arbeiter in den Fabriken gegen die von Ceaușescu vorgeschriebene Interpretation der Ereignisse in Temeswar. Der Parteisekretär der Stadt wird in der Firma IMATEX gezwungen, ein Protestschreiben an den Staatschef abzusenden. Nach konfrontationsreichen, vor allem von Arbeitern aus den Fabriken begonnenen Demonstrationen werden am Abend gegen 21.20 Uhr auf dem zentralen Platz 6 Menschen erschossen, 21 durch Kugeln verletzt, zahlreiche verhaftet und misshandelt.
In Sibiu/Hermannstadt/Nagyvaros wird eine kleine Demonstration von Arbeitern aus der Firma Balana gegen 8.30 Uhr aufgelöst. Kurze Zeit später finden sich zahlreiche Protestierer auf den Straßen, marschieren ins Zentrum, wo sie Bilder und Bücher von Ceaușescu aus Buchhandlungen verbrennen. Ab 10.00 Uhr beginnen auf Anordnung von Kreisparteisekretär Nicu Ceaușescu, Sohn von Nicolae Ceaușescu, Armeeschüler gegen die Protestierer vorzugehen. Sie eröffnen das Feuer und töten 1 Demonstranten, 4 werden verletzt. Daraufhin strömen Tausende in verschiedenen Teilen der Stadt auf die Straßen.
In Bukarest hält Ceaușescu um 12 Uhr eine von TV România übertragene Rede vom Balkon des ZK vor etwa 100000 eilig herbei transportierten Unterstützern der Partei. Während der Rede entsteht Unruhe in der Masse, es sind Knallgeräusche zu hören, es entsteht Bewegung in der Menge. Die TV-Übertragung wird mehrmals unterbrochen, als die Rufe "Timioșara" für kurze Zeit deutlicher durchdringen. Der Conducător reagiert zunächst verunsichert und fahrig, seine Ehefrau Elena neben ihm gibt Anweisungen - die Übertragung wird bald abgebrochen. Ceaușescu kann die Rede allerdings beenden, in der er vor allem finanzielle Versprechungen für Arbeiter, Mütter und Pensionäre macht. Die Ereignisse von Temeswar nennt er einen Angriff auf Unabhängigkeit, Integrität und Souveränität Rumäniens und erinnert an die Situation von 1968, als Rumänien nicht am Einmarsch in die CSSR teilnahm. In der Stadt finden Kämpfe zwischen Ordnungskräften und Demonstranten statt, vor allem an der nahe gelegenen Piaţa Universităţii, die ein erstes Todesopfer fordern. Abends wird dort vor dem Hotel Intercontinental eine Barrikade errichtet. Scharfschützen schießen von den Dächern auf die Demonstranten. In der Nacht sterben hier 49 Aufständische, 500 werden verletzt, Tausende verhaftet.
Cluj 21.12. 1989
Foto: Răzvan Rotta (https://ro.wikibooks.org/wiki/Revolu%C
8%9Bia_Rom%C3%A2n%C4%83_de_la_Cluj_%C3%AEn_imagini)
Sibiu, Casa de Cultură a Sindecatelor
Freitag, 22. Dezember 1989
In Bukarest findet im Gebäude des Zentralkomitees dessen letzte Sitzung statt.
9.00 In Sibiu beginnen Demonstrationen in Richtung Piața Mare und zur Casa de cultură a sindecatelor (Gewerkschaftskultur-haus), wo sich etwa 30000 Menschen versammeln. Unter ihnen konstituiert sich das Demokratische Forum des Kreises Sibiu.
9.55 Uhr Bukarest: Nachrichtensprecher George Marinescu verliest im TVR die Verkündung des Ausnahmezustandes (starea de necesitate) über das ganze Land. Jede öffentliche Gruppenbildung von mehr als 5 Personen ist verboten.
In der gleichen Nachrichtensendung teilt der Sprecher mit, dass Verteidigungsminister General Vasile Milea Selbstmord begangen habe. Milea hatte den Schießbefehl Ceaușescus weitergegeben, blieb aber nicht konsequent bei dieser Haltung. In den Nachrichten wird Milea als "Verräter" bezeichnet, der Gerüchte und Lügen in die Welt gesetzt und mit den "imperialistischen Kreisen" die Aufstände verursacht habe. Während der Nachrichten bewegen sich wie am Vortag große Demonstrationszüge in Bukarest von der Piața Universității Richtung Boulevard Brătianu und Magheru. Hier ist auch Maschinengewehrfeuer zu hören.
11.00 Nach einiger Zeit gelingt es, den DemonstrantInnen, den Platz vor dem ZK zu erreichen und in das Gebäude einzudringen.
11.50 Das TV-Gebäude ist von Protestierern besetzt, das Fernsehen in Televiziunea Română Liberă (TVRL, Freies rumänisches Fernsehen) umbenannt.
12.09 Uhr Nicolae und Elena Ceaușescu fliehen mit einem Hubschrauber vom Dach des ZK-Gebäudes, während sich der Platz mit einer unübersehbaren und enthusiastischen Menschenmenge füllt.
Petre Roman spricht vom Balkon des ZK-Gebäudes zur Menge und erklärt den Sieg der Revolution.
12.55 Im TVRL verkündet Mircea Dinescu aus einer Gruppe von Aktivisten - darunter der Regisseur Sergei Nicolaescu und der Schauspieler Ion Caramitru - in die Live-Kameras: "Am invins! Am invins!" (Wir haben gesiegt.)
General Chițac ruft aus dem Studio die Armee zur Unterstützung der Aufständischen auf.
12.00 In Temeswar werden auf dem Armenfriedhof die Gräber von vorgeblichen Opfern der Ceaușescu-Herrschaft und der Niederschlagung der Revolution geöffnet. Durch die wieder geöffneten Grenzen kann im Ausland der Eindruck erweckt werden, dass die Kämpfe in Temeswar mehrere Tausend Tote forderten. Falschnachrichten, die ihren Weg wieder zurück nach Rumänien finden.
12.00 Sibiu: Aufständische belagern den Sitz der Miliz auf der strada Armata Roșie, Ecke strada Moscovei. Diese hängt ein Transparent an das Gebäude, mit dem Text: "Noi, miliţia, slujim interesele poporului. Suntem cu voi! Fără violenţă! Organizaţi-vă pentru dialog!" (Wir, die Miliz, arbeiten im Interesse das Volkes. Wir sind mit euch. Ohne Gewalt! Organisiert euch für den Dialog.) Die Demonstranten gelangen in das Gebäude, die Miliz flieht zur auf der gleichen Straße benachbarten Armee, von wo aus auf die Milizionäre geschossen wird und 19 sterben. Auf die Menge vor der Casa de Cultură wird ebenfalls geschossen, sie flieht in Panik.
12.30 Nach der Flucht der Ceaușescus kommt es in Sibiu zu weiteren Schießereien zwischen Armee, Securitate und "Terroristen", die über 43 Tote fordern, unter ihnen auch Zivilisten und Demonstranten. Der Sitz der Securitate in Sibiu in unmittelbarer Nachbarschaft zur Armee wird 4 Stunden lang mit unterschiedlichen Waffen angegriffen, bis das Gebäude weitgehend zerstört ist. Hauptverantwortlicher für das Verhalten der Armee ist Leutnant Aurel Dragomir, der dem Kreisparteivorsitzenden Nicu Ceaușescu, Sohn des geflohenen Diktators, nahesteht.
Unentdeckte Scharfschützen belegen immer wieder Straßen mit Gewehrfeuer. Die Armee setzt auch Panzer und Geschütze gegen bestimmte Gebäude ein, die völlig zerstört werden.
Zudem hält sie mehr als 500 Personen in einer Sporthalle und einem leeren Schwimmbad fest, die als "Terroristen" bezeichnet werden. Es kommt bei dieser bis in den Januar dauernden Freiheitsberaubung zu Mißhandlungen und Verletzungen.
Zum blutigen Chaos in Sibiu tragen auch die während der Dauersendung des TVRL in Bukarest verbreiteten Gerüchte wie, dass das Wasser in Sibiu vergiftet sei, ebenso bei, wie die Suggestion einer von der Securitate angegriffenen Armee, die es zu verteidigen gelte. Mehrere Generäle fordern im TV ihre Kollegen auf, das "Gemetzel" zu beenden.
Im besetzten TVRL in Bukarest treten aufgeregte Redner mit Appellen, Informationen, politischen Statements, praktischen Vorschlägen auf. Petre Roman, Silviu Brucan, Mircea Dinescu, Ion Caramitru, mehrere Generäle, Priester, u.a. wirken bis in den Abend auf die Zuschauer ein, der Nachrichtensprecher Marinescu liest nun die Kommuniqués der Revolutionäre in die Kameras.
17.00 Nach einem Treffen mit den wichtigsten Militärs hält der frühere Minister für Jugend, Ion Iliescu, eine Rede vom Balkon des früheren ZK-Gebäudes in der er die Armee zur einzigen Ordnungskraft erklärt. Einige Zeit danach beginnen auf dem Platz Schüsse zu fallen.
Es bestätigen sich Nachrichten, dass das Ehepaar Ceaușescu in einer Dacia bei Târgoviște gefasst worden sei und in einer Armeeeinheit gefangen gehalten werde.
22.00 Im TVRL in Bukarest wird der gefangengenommene Sohn Nicu Ceaușescu, Parteichef von Sibiu, präsentiert.
23.00 Iliescu verliest im TVRL das Manifest des Frontul Național de Salvare, der von der Armee unterstützt werde und alle "gesunden Kräfte" des Landes umfasse. Alle Organisationen der Regierung des Ceaușescu-Clans seien aufgelöst, freie Wahlen für den April 1990 vorgesehen.
Am Abend und in der Nacht auf den 23. Dezember lassen die Attacken auf die Universitätsibliothek und den nun als Nationalmuseum funktionierenden früheren Königspalast nicht nach. Beide Gebäude geraten nach Beschuss durch Panzer in Brand, eine große Zahl wertvoller Gemälde, Tapisserien, Bücher, Handschriften, wird zerstört.
Samstag, 23. Dezember 1989
0.00 In Târgoviște wird die Militäreinheit 01714 angegriffen, in der Nicolae und Elena Ceaușescu gefangen gehalten werden.
In der Nacht brechen in den größeren Städten wie Temeswar, Cluj, Sibiu, Brașov und Bukarest Schießereien aus, deren Ursachen nicht genau auszumachen sind. Allgemein wird von "Terroristen" als Angreifern gesprochen, die skrupellos und ohne erkennbares Motiv auf Zivilisten, Soldaten Securitate, Miliz, in Häuser, Wohnblocks, Krankenhäuser schießen. Bewaffnete und wenig informierte Zivilisten beteiligen sich an den Kämpfen. In Brașov sterben in dieser Nacht 39 Menschen, nachdem die Armee - wie in Sibiu - gegen Vorlage des Personalausweises Waffen an Zivilisten ausgegeben hat. In der Banater Industriestadt Reșița, in der bis dahin die Demonstrationen keine Auseinandersetzungen mit den Ordnungskräften verursacht hatten, beginnen in der Nacht ebenfalls tagelange Gefechte, in deren Verlauf 25 Menschen sterben.
6.30 Bukarest: In 3 Autobussen werden Gendarmen, Armeeschüler und Wehrdienstleistende zum Flughafen Otopeni transportiert, um eventuelle Terrorattacken abzuwehren. Bei ihrer Ankunft werden sie noch in den Bussen aus verschiedenen Richtungen beschossen. In 10 Minuten sterben 22 Insassen, weitere Gefechte fordern am Flughafen das Leben von 15 Menschen. Zunächst wird als Ursache eine mangelhafte Kommunikation zwischen Armee und den Gendarmen vermutet, später eine gezielt geschürte Hysterie wegen möglicher "Terroristen".
Die Kämpfe um das Nationalmuseum und die Bibliothek halten an. Beide Gebäude stehen in Flammen, während sich auf den Straßen die Menschen hinter Panzern verschanzen.
In Sibiu wird weiterhin geschossen: Es herrscht Verwirrung, Chaos, Gerüchte unterschiedlichster Art machen die Runde. Aus den Dachfenstern (den "Augen von Hermannstadt") schießen Unbekannte, es wird wahllos zurückgeschossen, Panzer zerstören Gebäude, in denen "Terroristen" vermutet werden, Helikopter jagen Menschen, Zivilisten werden von Scharfschützen auf den Straßen erschossen, die mit Geschosshülsen übersät sind (nach einer plausiblen Schätzung wurden in den Tagen der Revolution in Sibiu über 2 Millionen Patronen benutzt).
In weiteren Städten kommt es zu weniger gewalttätigen Demonstrationen und Versammlungen.
23.30 Uhr Gegenüber dem Sitz des Verteidigungsministeriums in Bukarest an der Straße Drumul Taberei sind Panzer zur Verteidigung aufgestellt. Die Insassen von auf Befehl des reaktivierten Generals Nicolai Militaru herbeigerufenen leicht gepanzerten Fahrzeugen der U.S.L.A (Unitatea Specială de Luptă Antiteroristă) werden zu "Terroristen" erklärt und zusammengeschossen. Die 8 Toten (unter ihnen lt. col. Gheorghe Trosca, von dem es heißt, er sei an der Enttarnung von Militaru als Agent des KGB beteiligt gewesen) bleiben tagelang auf der Straße liegen, der abgetrennte Kopf von Trosca auf der Motorhaube eines Fahrzeugs ausgestellt. Die Zeitung România Liberă erklärt die Toten zu "Söldnern". Militaru wird zwei Tage später von Iliescu in der von Petre Roman geleiteten ersten postrevolutionären Regierung zum Verteidigungsminister erklärt.
Sonntag, 24. Dezember 1989
Der Consiliul Frontului Salvării Naționale und ein Comandamentul Militar Unic teilen über TVRL und Radio mit, dass "aus militärischer Sicht die Situation in der Hauptstadt und den Kreisen des Landes sich unter Kontrolle befindet. Zu dieser Stunde führen unsere Armee, Einheiten der Miliz und des Inneren Operationen zur raschen Lösung der Probleme, die noch bestehen, aus, um die Nester der Terroristen zu neutralisieren."
An einzelnen Punkten in den großen Städten wird noch geschossen, zugleich finden bereits Aufräumarbeiten statt.
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Montag, 25. Dezember 1989
13.20 In der Garnison Târgoviște findet ein außerordentlicher Militärprozess gegen das Ehepaar Ceaușescu statt. Aus Bukarest sind auf Betreiben des Frontul Salvării Naționale (FSN) in mehreren Helikoptern ein Militärstaatsanwalt, Richter, Verteidiger, Schriftführer, Schöffen angereist. Die Anklage gegen Nicolae und Elena Ceaușescu lautet auf Genozid, gewaltsame Zerstörung kommunaler Einrichtungen und Gebäude während der Revolution, Zerstörung der Ökonomie, Deponierung von mehreren Hundert Millionen Dollar auf ausländischen Konten zur Fluchtvorbereitung. Ceaușescu erkennt das "tribunal poporului" (Volksgericht) nicht an.
Das Urteil lautet auf die Todesstrafe durch Erschießen und wird um 14.50 Uhr vollstreckt.
In den nächsten Stunden und Tagen lassen die Kämpfe in den Städten allmählich nach.
Vom 15. Dezember 1989 bis zum 22. Dezember wurden durch die Repression in Rumänien 271 Menschen getötet, vom Nachmittag des 22. Dezember (Flucht Ceaușescus) bis zum 25. Dezember (Hinrichtung) 715, nach dem 25. Dezember 113 (bei 67 Opfern konnte das genaue Todesdatum nicht festgestellt werden). Insgesamt 1166 Tote.
*
29 Jahre nach den Ereignissen erhob auf Basis eines Urteils des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte das höchste rumänische Gericht Anklage gegen den früheren Staatspräsidenten Ion Iliescu und 3 weitere Beschuldigte wegen ihrer Rolle bei den Kämpfen gegen "Terroristen" nach dem 22. Dezember 1989.
2019
Rumänien im Sommer (III)
Medien und Behörden
Craiova
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In diesem Sommer kannte die rumänische Presse kein "Sommerloch" – dafür sorgte nicht nur die Politik, sondern auch aufsehenerregende Vorfälle beschäftigten die Öffentlichkeit. Zunächst war es ein Fall von Adoption, der die Gemüter landesweit in Aufwallung brachte. Im Fall von Sorina , einem 8-jährigen Mädchen, begann alles am 21. Juni, als Bilder einer das schreiende und weinende Kind am Arm zerrenden Frau auftauchten, während im Hintergrund die "mascați", die üblicherweise maskiert auftretenden Polizisten der Brigada de intervenție dabei zusahen. Das Kind wurde von seinen Pflegeeltern in Baia de Aramă (Kreis Mehedinți) in Oltenien abgeholt, um zu seinen Adoptiveltern in Craiova gebracht zu werden. Die Frau auf den Bildern mit dem schreienden und sich wehrenden Kind war eine Staatsanwältin. Freunde der Pflegeeltern hatten die Szene mit dem Smartphone gefilmt und über soziale Netze verbreitet, so dass sie in kürzester Zeit auch die Redaktionen der Presse und vor allem der privaten Sender wie antena 3, B1tv, realitatea erreichten. Von dort wurden wie üblich umgehend "meinungsstarke", d.h. in diesem Fall Vorurteile bekräftigende und Emotionen aufrührende Berichte gesendet, die den Adoptiveltern alles vorwarfen, was die Bilder scheinbar belegten: Herzlosigkeit, Unmenschlichkeit, Verachtung der Pflegeeltern, bei denen das Kind 7 Jahre gelebt hatte. Hinzu kam, dass die Adoptiveltern in den USA wohnen und somit sich mehr oder minder unterschwellig noch ein Affekt gegen die ausgewanderten Rumänen einschlich, während die Pflegeeltern als de la noi (von uns) positioniert wurden. Einen Tag später demonstrierten bereits etwa 100 Menschen vor dem Haus der Pflegeeltern "für Sorina" und später vor dem Berufungsgericht in Craiova gegen ihre Adoption. Sie trugen Schilder mit den Losungen "Zerstört nicht das Glück eines Kindes", "Vereint euch für Sorina", "Lasst Sorina entscheiden" ( das rumänische Gesetz sieht eine Mitwirkung des Kindes erst ab 10 Jahren vor). PolitikerInnen wurden zum Eingreifen aufgerufen, Premierministerin Dăncilă – selbst Adoptivmutter eines Jungen, wie sie in einem Interview mit antena 3 im Januar des Jahres offengelegt hatte – sprach sich für eine Berücksichtigung des Kindeswohls und die Bestrafung der falsch handelnden Institutionen aus. Auch die Justiz wurde aktiv, Generalstaatsanwalt Bogdan Licu verlangte, die Ausreise der minderjährigen Adoptierten zu unterbinden, da sie keinen Pass habe und verhinderte so für zwei Wochen die Ausreise, bis das Gericht in Craiova entschied, dass die Adoption rechtens sei. So konnte die Familie Mitte Juli in die USA ausreisen.
Die Vorgeschichte dieser Adoption ist kompliziert und zog sich über 2 Jahre hin. Die Zeitung Adevărul listete auf, welche juristischen und Verwaltungsschritte seit Sorinas Ankunft 2012 mit anderthalb Jahren in der Pflegefamilie unternommen worden waren. Nachdem sie für adoptibilă (adoptionsfähig) erklärt worden war, hatten über 100 Familien Sorina abgelehnt (wohl vor allem, weil sie ursprünglich aus einer Roma-Familie kommt). Dadurch wurde sie als "schwer vermittelbar" auch für im Ausland lebende rumänische Familien adoptierbar. (Das Gesetz sieht für internationale Adoptionen nur Rumänen mit doppelter Staatsbürgerschaft vor!) Anfang 2018 beantragte die Familie aus den USA die Adoption, während die Pflegefamilie in Baia de Aramă, die noch andere Pflegekinder aufzieht, dies nicht tat und zu einem bestimmten Zeitpunkt ausdrücklich auf die Adoption verzichtete. Sie hatte bei der DIICOT (Direcția de Investigare a Infracțiunilor de Criminalitate Organizată și Terorism - Sonderstaatsanwaltschaft für die Untersuchung von Verbrechen der organisierten Kriminalität und Terrorismus) geklagt, dass die Adoptivfamilie das Kind lediglich zur Organentnahme haben wolle. Im April 2019 entschied das Berufungsgericht in Craiova endgültig, dass die Adoption durch das rumänische Ehepaar in den USA rechtens sei. Die Behörden zeigten eher weniger Entschlusskraft, bis im Juni die Staatsanwältin das Kind zu einer Untersuchung abholte.
Im Nachhinein gesehen warf der Fall ein Schlaglicht auf die nicht wenigen Kinder, die nach der Geburt in das System staatlicher Obhut geraten. Die katholische Theologin Gabriela Blebea Nicolae verwies in der Zeitschrift Dilema veche auf die noch viel schlechtere Lage der Kinder, die nicht wie Sorina adoptiert werden und mit der Volljährigkeit kaum Chancen auf ein selbstbestimmtes Leben außerhalb des staatlichen Betreuungssystems haben.
Advărul berichtete im September noch einmal über Sorina, als der Vater aus den USA verlauten ließ, dass es dem Mädchen gut gehe, es sich mit seinen Geschwistern gut vertrage, Klavier lerne und zum Ballett gehe.
*
Begann sich Mitte Juli die Öffentlichkeit nach der Abreise des adoptierten Kindes in die USA von dem Fall allmählich abzuwenden, so sollte das Verschwinden zweier Jugendlicher ebenfalls in Oltenien für eine bis heute anhaltende Aufregung in der Öffentlichkeit sorgen und viele an den Brand in dem Club Colectiv erinnern, in dessen Folge eine ganze politische Protestbewegung gegen die Korruption entstanden war.
Am 25. Juli gab die Familie von Alexandra Măceșanu über soziale Netzwerke ihre Suche nach der Jugendlichen bekannt, die am Tag zuvor morgens von ihrer Heimatgemeinde Dobrosloveni die wenigen Kilometer in die Kreisstadt Caracal per Anhalter gefahren war. Seither hatte sie niemand mehr gesehen oder kontaktieren können. Auch die Lokalpolizei suchte bereits nach der Jugendlichen und teilte dies in den sozialen Netzwerken mit. Was aber wenige Stunden später bekannt wurde, sollte den Fall zu einem weiteren Beweis für die fatalen Folgen rumänischen Behördenversagens machen. Denn während die lokale Polizei erst allmählich tätig wurde, erhielt die Mutter der Jugendlichen einen Anruf, in dem eine männliche Stimme mitteilte, dass Alexandra mit einem Freund nach England gefahren sei, um Geld zu verdienen und es ihr gut gehe. Dass dies nicht zutraf, wurde im Nachhinein klar, weil es am gleichen 25. Juli von 11:05 Uhr an drei Anrufe von Alexandra bei der Polizei unter der Notfallnummer 112 gab, in denen sie sagte, dass sie von einem Mann entführt und vergewaltigt wurde und in einem Haus gefangen sei. Der veröffentlichte Mitschnitt der Telefonate macht deutlich, dass die Jugendliche verzweifelt und voller Angst auf die Gefahr aufmerksam machen wollte, in der sie schwebt, während die jeweiligen Polizisten ihr nicht zu glauben schienen bzw. nicht in der Lage waren, von Alexandra die nötigen Informationen zu erhalten, um sie zu finden oder die Anrufe an die Stelle weiterzuleiten, die mit dem Verschwinden eines Mädchens aus Dobrosloveni sich befassten. Auch dem STS (Serviciul de Telecomunicaţii Speciale) gelang es nicht, anhand der Anrufdaten genau den Aufenthaltsort zu bestimmen. Die letzten Worte des Mädchens sind "vine, vine, criminalul" (er kommt, er kommt, der Verbrecher). Diese sprach sie, als sie von der Polizei auf dem Telefon zurückgerufen wurde. Mittlerweile wird davon ausgegangen, dass der Täter wenig später die Jugendliche tötete und in einer Metalltonne verbrannte.
Der Polizei gelang es erst gegen 2:30 Uhr am nächsten Morgen, den Aufenthaltsort von Alexandra herauszufinden, allerdings wartete sie bis 6:00 Uhr, um das Gelände des Gheorghe Dincă zu betreten, da dann erst ein Staatsanwalt die Erlaubnis erteilte. Dincă wurde auf dem Gelände angetroffen und stundenlang vernommen (offensichtlich unter Gebrauch von körperlicher Gewalt), wobei er zunächst die Tat leugnete.
Mittlerweile hatte ein Beamter der DIICOT im Zusammenhang mit dem Geschehen auch den Fall der bereits im April aus dem nahe bei Caracal liegenden Dorf Radomir, Gemeinde Dioști im Nachbarkreis Dolj verschwundenen 18-jährigen Mihaela Luiza Melencu aufgebracht und Dincă hierzu befragt. Die Schülerin war ebenfalls auf dem Weg nach Caracal verschwunden, wo sie Geld an einem Bankautomaten abheben wollte, das ihre in England arbeitende Mutter geschickt hatte. Melencu lebte bei ihren Großeltern und ging in Craiova auf die Schule. Nachdem sie nicht von ihrer Fahrt per Anhalter zurückkehrte, wandten sich die Großeltern an die Polizei, die diesen Fall sehr zögerlich behandelte. Auch in diesem Fall gab es einen Anruf, bei dem ein Mann erklärte, dass die junge Frau mit einem Freund in die Schweiz gegangen sei und es ihr gut gehe.
Als am 26. Juni diese Nachrichten bekannt werden, geht eine Welle der Empörung nicht nur durch die lokale Bevölkerung des Kreises Olt. Über das Internet und das Fernsehen verbreiten sich die aktuellen Informationen, es kommt nicht nur in Caracal zu spontanen Demonstrationen mit Hunderten von Beteiligten. Alexandra victimă voastră eroina noastră (A. euer Opfer, unsere Heldin), Alexandra a sunat, nimeni nu a acționat (A. hat angerufen, niemand hat gehandelt), Vrem dreptate (Wir wollen Gerechtigkeit), Iartă-ne Alexandra (Verzeihe uns, A.), Corupția ucide (Korruption tötet), Rușine (Schande) lässt sich auf den selbst gebastelten Plakaten und Bannern lesen. Vor dem Anwesen des vermutlichen Täters versammelt sich eine Menge, die Polizei und Justiz ausbuht und Lärm macht, als der Verdächtige abtransportiert wird.
In Fahrt gekommen, setzt der Skandal nicht nur ungehemmte Verdächtigungen, Spekulationen, Vorwürfe frei, sondern veranlasst die Entlassung sowohl des höchsten Polizisten des Landes wie auch einiger weiterer unmittelbar Beteiligter wie auch aus der STS. Ohne Unterlass beschäftigen die Hintergründe und Versäumnisse der Institutionen sowohl Presse als auch das Internet. Befördert wird dies durch die weitreichende Untersuchung des Geländes, auf dem der Verhaftete die beiden Frauen nach eigener Aussage ermordet hat und möglicherweise noch weitere grausige Funde gemacht werden. In jahrelanger Tätigkeit hatte der 66-jährige Dincă ein unübersichtliches Labyrinth von Aufbauten, Kellern, Zimmern mit einem überwucherten Hof an einer Ausfallstraße von Caracal geschaffen. Dincă lebte von Klempnerarbeiten, illegalen Taxifahrten, Kleinhandel. Aufnahmen von Überwachungskameras zeigen ihn an jenem Morgen, als er die Jugendliche Alexandra gekidnappt hatte. Auf dem Gelände gefundene Knochen erwiesen sich als die Alexandras, andere außerhalb in einem Wald gefundene sind die einer 15-20-Jährigen, vermutlich die Luizas.
Die Ermittlungen finden statt in einer Atmosphäre des Misstrauens, da viele jetzt von einer bisher tabuisierten Existenz von kriminellen Clans mit sehr guten Verbindungen zu Polizei und Politik in den vernachlässigten Städten Südrumäniens sprechen. Caracal sei eines der Zentren des Menschenhandels in Südrumänien, in dem junge Frauen zur Prostitution in Europa gezwungen werden.
2019
Rumänien im Sommer (II)
China ist da
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In der Stadt Piatra-Neamț am östlichen Karpatenrand hat die Neuzeit der Transition durchaus Einzug gehalten. Davon künden äußerlich eine riesige Carrefour-Mall, zwei große renovierte Hotelhochhäuser, eine Reihe von Einkaufsmöglichkeiten, ein zu aufdringlicher Autoverkehr mit fast nur neuen ausländischen Wagen, erneuerte Trottoirs, renovierte oder neu erbaute Villen in blühenden Vorgärten, ein blinkendes neues Fußballstadion, zahlreiche neu gebaute große Kirchen und manch anderes mehr.
Jenseits dieser ins Auge fallenden Neuerungen sind allerdings die Überbleibsel der Vergangenheit ebenso nicht zu übersehen. Im Stadtteil Dărmănești steht noch, was früher Orion hieß, eine nicht übermäßig große Betonburg als Einkaufscenter mit unterschiedlichen Geschäften und Dienstleistungen. Es führt uns die Suche nach einer Lego-Transformers-Figur in das Gebäude, das auch einen chinesischen Laden beherbergen soll. Es zeigt sich, dass das komplette Obergeschoss Verkaufslokal chinesischer Waren ist – günstige (oder billige) Jacken, Kleider, Spielzeug, Haushaltswaren, die zumeist aus Plastikkunststoff hergestellt sind. Geleitet wird der Laden offensichtlich von einem Asiaten und auch eine Verkäuferin scheint asiatischer Herkunft. Bei der Präsenz chinesischer Billigwaren weltweit ist daran sicher nichts Ungewöhnliches festzustellen. Überraschend wird es aber, wenn man dann an der gleichen Straße etwas stadteinwärts ein noch größeres Geschäft in einem neuen Betongebäude neben dem großen Kaufland-Einkaufszentrum findet. In dem ungelüfteten riesigen Raum riecht es penetrant nach Plastik, das Angebot ist von gehobenerer Qualität undumfasst viel Kinderspielzeug. Und wirklich überrascht ist man dann beim Besuch eines weiteren Betonkomplexes gegenüber des alten Historischen Museums im Zentrum der Stadt, der ebenfalls bessere Tage gesehen zu haben scheint. Im obersten Stock neben einem Club findet sich ein chinesisches Geschäft, vor allem mit Sommerkleidung und Sportgeräten. Aber hatten wir nicht noch an einer zentralen Straße neben dem zentralen Einkaufszentrum am Hotel Plaza ein chinesisches Geschäft gesehen? Auch in diesem am sichtbarsten plazierten Magazin chinezesc finden sich all die Dinge, von denen man bisher nur vermutete, dass sie in China hergestellt wurden. Jetzt macht ein Blick im Geschäft klar, dass dies auch der Fall ist. Und die Krönung stellt die Verwunderung über einen kleinen Laden im Orion dar, dessen gehobene Ausstattung mit Kleidung und Spielzeug ihn erst auf den zweiten Blick als chinesische Verkaufsstelle entpuppt. Ganz anders ist hier die Präsentation der Einzelstücke, qualitativ heben sich die Kleidungsstücke von den bisher gesehenen chinesischen Waren ab und fallen gegenüber denen in nichtchinesischen Läden kaum auf. Die gesuchte Transformers-Figur findet sich leider nirgends.
Alle diese chinesischen Läden haben wegen ihrer unterschiedlichen Präsentation und Niveaus ihre Kundschaft, günstige Produkte finden für eine bestimmte Käuferschicht immer Kaufwillige. Dass diese Nachfrage in der rumänischen Provinz fast ausschließlich aus chinesischer Herkunft gedeckt wird, macht deutlich, wie sehr das Modell des fernöstlichen kommunistischen Staates mit der ultrakapitalistischen Wirtschaft bereits die ausufernden Basare der Nachwendezeit Osteuropas (von denen es auch einen am Rande der Stadt gibt) verlassen und sich nun auf die nicht nur unteren Preissegmente fast aller Waren des täglichen Bedarfs ausgebreitet hat. Piatra-Neamț hat jedenfalls mindestens 5 große solcher chinesischer Verkaufsstellen vorzuweisen – und man braucht nicht viel Phantasie für die Annahme, dass es in zahlreichen rumänischen Städten auf dem Land nicht sehr viel anders aussieht. Und auf dem Markt der Stadt mit seinen zahlreichen Ständen und Geschäften erwecken jetzt auch billige Plastikwaren unsere besondere Aufmerksamkeit.
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Neversea, Untold, Afterhills, Electric Castle - Markennamen im trendigen Englisch? In gewisser Weise schon. Aber nicht Gegenstände als Waren sind hier gemeint, sondern Dienstleistungen oder genauer künstlerische Darbietungen – es handelt sich um die Namen von Megamusikfestivals in Rumänien. Spätestens fünfzig Jahre nach Woodstock, der Mutter aller Rockfestivals, hat der internationale Markt für solche Veranstaltungen auch Rumänien entdeckt. Landesweit werben die Medien für UNTOLD und Electric Castle in Cluj (Klausenburg), die große Besucherzahlen in die Universitätsstadt im Norden Siebenbürgens anlocken. Electric Castle findet beim Banffy Schloss in Bonțida statt und hat seinen Namen wegen der eher an elektronischer Musik orientierten Ausrichtung. Hauptact waren Mitte Juli neben dem DJ Nils Frahm und rumänischen Musikern wie Subcarpați, der Heldin älterer Generationen Loredana, den Berlinern Zmei3 auf der zentralen Bühne Florence and the Machine und Thirty seconds to Mars, aber auch die Rockband Limp Bizkit aus den USA. Ihr Konzert war mit 50000 Fans ausverkauft, an den 5 Tagen waren etwa 200000 auf das Gelände mit 10 Bühnen einige Kilometer von Cluj entfernt gekommen, was natürlich ein riesiges Transportchaos verursachte. Ansonsten versucht dieses wie die anderen Festivals als "grün" rüberzukommen - von Lidl (!!) gesponsert wurde eine Eco-Bühne und ein Mülltrennungsverfahren. Der Discounter festigt damit in Rumänien sein Image als Mittelklassesupermarkt. Ansonsten bot das Festival zahlreiche Möglichkeiten zu kreativen Aktivitäten.
Noch mehr Besucher zieht UNTOLD in Cluj an: Die Festivalorganisatoren nannten dieses Jahr 372000 Besucher an 4 Tagen zu dem im Zentrum der Stadt und vor allem im Fußballstadion auf 10 Abspielstätten (darunter ein Tramwaggon!) angesiedelten Musikereignis. Headliner waren in diesem fünften Jahr der Veranstaltung der Sänger Robbie Williams und die Star-DJs Paul Kalkbrenner, David Guetta, Armin van Buuren, aber auch Alt-Rapper Busta Rhymes oder der rumänische Star Smiley. Eine spektakuläre Lightshow zum Finale ließ das Stadion aufblitzen und erglühen.
UNTOLD setzt bei seinem Vermarktungskonzept vor allem auch auf die Wirkung in die Stadt hinein, indem es aus dem Erlös sowohl den benutzten Park neu bepflanzt als auch Kinderspitäler und andere soziale Einrichtungen mit neuer Ausstattung versieht. 20% der BesucherInnen kommen aus Cluj, 20% aus dem Ausland, der Rest aus Rumänien, teilen die Veranstalter mit. Und lassen in der Stadt eine durchaus meßbare ökonomische Spur hinter sich. Im Ansturm der Massen von Zuschauern können luxuriöse Studentenwohnungen schon einmal für über 1000 Euro vermietet werden. Allerdings sieht sich das Festival wegen seiner Größe und der mitten in der Stadt in einem Park aufgebauten Bühnen auch mit kritischen Kommentaren konfrontiert.
Am Meer in Constanța findet Neversea statt, nach eigener Einschätzung das "größte Strandfestival Europas". Hier dominieren am Stadtstrand unterhalb der Uferklippe Constanțas elektrische DJ-Musik bis in den späten Vormittag, sportliche Aktivitäten, Wasser, Sonne. Einige Bühnen sind auf dem Wasser installiert. Die Reihe der DJs ist endlos für die 4 Tage Unterhaltung, deren musikalische Darbietungen vor allem nachts durch permanente Light-und Lasershows sich ins Gedächtnis einschreiben. Unter den Acts sind Sean Paul, die junge rumänische Band The Motans, das Hip-Hop Urgestein Paraziții.
Noch nicht beendet ist das Afterhills Festival in Iași, das vor allem am Wochenende stattfindet. Es startete am 23. August auf 5 Bühnen und wird am 1. September enden. Am ersten Wochenende zog es 67000 Besucher an, als der Topact auf der Bühne stand – die englische Pop-Sängerin Rita Ora. In Dobrovăț bei Iași auf einem Wiesengelände zwischen den Hügeln finden unter der Woche vor allem familienfreundlichere Formen der Unterhaltung statt, Kino, Comedy, Graffiti-Painting, Klettern, Tanzen und einige DJ-Acts. Das Festival im dritten Jahr ist das größte der Moldau. Am letzten Wochenende sind u.a. Morcheeba und Les Elephants Bizarres oder auch Subcarpați die Highlights.
Aber nicht nur diese Festivals fanden ihr zahlreiches Publikum: In Bukarest traten im neuen Nationalstadium die Alt-Rocker von Metallica und vor dem Parlamentspalast Bon Jovi vor jeweils mehreren Zehntausenden Fans auf – Open-Air allerorten.
2019
Rumänien im Sommer (I)
Impressionen und Splitter
Fotos: www.kultro.de
Der globale Klimawandel hat (natürlich) auch Rumänien erfasst: Dauerregen, Überschwemmungen, Unwetter, Orkane, Temperaturrekorde und abrupte -stürze prägen das Wetter seit Wochen. Das frühere Kontinentalklima mit ziemlich stabilem heißem Sommerwetter von Mai bis Oktober – höchstens unterbrochen von kurzen Unwettern – gehört der Vergangenheit an. Unberechenbar sind die Vorhersagen, dauernder Wechsel wo früher Stabilität den Sommer zu einer unendlich wirkenden Jahreszeit machte. Immerhin lässt der Regen das Land grün erscheinen. Eine ganz neue Erfahrung: Die stundenlange Eisenbahnfahrt von Bukarest ins nur 350 Kilometer entfernte Piatra-Neamț am östlichen Karpatenrand führt nicht wie üblich durch eine verbrannte braun-schwarze Landschaft, sondern durch grüne Hügel und Ebenen.
Diese Veränderung ist natürlich auch im Land nicht unbemerkt geblieben. Ein Taxifahrer in Bukarest stellt fest: "Die Jahreszeiten sind zerstört!" Ein Fahrer in Piatra-Neamț glaubt, dass dies durch "die Raketen" verursacht worden sei. Auf die Entgegnung, dass vor allem die Industrie und der Autoverkehr die Atmosphäre zerstören, meint er sarkastisch: "Industrie haben wir nicht, da sind wir aus dem Schneider."
Das immer wieder wechselnde Wetter und der immer wieder auftretende Starkregen begleiten den Aufenthalt über Wochen hinweg.
Dass das Autofahren mit diesem Klimawandel direkt zu tun hat, setzt sich allmählich als Bewusstsein durch. Ganz erstaunt ist man, wenn man vom Taxifahrer in Bukarest hört: "Es gibt zu viele Autos in der Stadt!" Das ist nicht unbedingt auf die Umweltzerstörung gemünzt, aber dennoch ein vorher nie gehörtes Statement. In der Tageszeitung Adevărul weist ein Kolumnist auf die Situation in Bukarest hin, dessen Luft nach einer von der Stadt veröffentlichten Studie seit Jahren hoch verschmutzt und krebserregend sei. Als Konsequenz müssten eigentlich alle Autos mit Diesel Euro 3 und 4 verboten werden, wenn man die Hauptursache der Verschmutzung beseitigen möchte, wie es die EU verlangt.
Keine leichte Aufgabe, denn Autofahren (vor allem mit großen Protzautos) gilt schließlich in Rumänien weitgehend als sakrosankt. Entsprechend haben FahrradfahrerInnen und FußgängerInnen einen schweren Stand, wenn etwa die Trottoirs quer bis zur Hauswand zugeparkt werden. In den Dörfern wird das Tempolimit nur selten eingehalten, ausgebaute Straßen, die für FußgängerInnen nur schwer zu überqueren sind, teilen die Ortschaften in zwei Hälften. Das Rasen mit den PS-starken ausländischen Wagen ist ein Volkssport vor allem jüngerer Männer, der immer wieder hohe "Opfer" produziert. Deren genaue Zahlen blieben bisher weitgehend im Dunkeln, jetzt schreibt die Zeitung Evenimentul zilei, dass Rumänien nach einer EU-Studie die höchsten Todeszahlen im Straßenverkehr habe: 96 Tote auf 1 Million Einwohner, während es in Großbritannien "nur" 28 sind. (Deutschland liegt auf dem 21. Platz (bzw. 8. Platz mit den wenigsten "Opfern")). Die Zeitung nennt als Ursache die schlechten Straßen (und wirbt so für den Bau von Autobahnen) und die Überschreitung der angemessenenen Geschwindigkeit. Letztere ist immer wieder zu beobachten, gepaart mit unvorstellbaren Fahrmanövern. So bremst in einer Ortschaft in einer scharfen Rechtskurve der Fahrer eines regulär verkehrenden Minibusses nicht hinter einem Pferdewagen, sondern überholt als gerade ein großer Lkw entgegenkommt – Verantwortungsbewusstsein à la roumaine. Ein anderer Minibusfahrer fängt irgendwann an, auf dem Handy zu tippen – nicht um zu telefonieren, sondern um Textnachrichten zu schreiben. Zu diesen selbst erlebten Fällen addieren die Medien die drastischen Nachrichten von Unfällen mit vielen Toten.
Lieblingsthema der Lokalpolitiker in der Moldau und Siebenbürgen hingegen ist der Bau von Autobahnen. Während nach einigen schlechten Erfahrungen mit ausländischen Firmen viele Rumänen glauben, es gäbe überhaupt keine Autobahnen im Land und jede Verzögerung oder Schwierigkeit beim Bau in den Zeitungen als Bestätigung hierfür gilt, sind dennoch bereits nicht wenige Kilometer in die Landschaft gefräst worden. Allerdings nicht in der Moldau, deren Wirtschaft von der Politik in Bukarest dringend eine Verbindung über die Karpaten nach Târgu Mureș in Siebenbürgen verlangt. Das bisherige Scheitern dieser Forderung ist für die Moldauer ein weiterer Baustein für das Bild der Vernachlässigung der Moldau durch die Regierung in Bukarest, für die Rückständigkeit der Region, Anlass für die Verachtung der Politiker, etc. Bei dieser ökonomisch an steigender Produktivität und wachsendem Gewinn orientierten Forderung wird die daraus folgende Zerstörung der bisher weitgehend intakten Landschaft der Karpaten meist mit keinem Wort erwähnt.
Welche Folgen der motorisierte Individualverkehr haben kann, zeigt die Straße zwischen Târgu Neamț und Iași. Die Metropole der Moldau zieht unweigerlich große Verkehrsströme an und wächst entlang der E 58 nach Westen. Hier haben sich im Laufe der letzten 15 Jahre nicht nur Metro oder Carrefour auf der flachen Wiese des breiten Tals Richtung Târgu Neamț angesiedelt, es sind zahlreiche Autohäuser, Verkaufslager, Supermärkte, hinzugekommen. Und entsprechend steigt der Verkehr auf der teilweise zweispurigen Straße an. Welche Folgen Unachtsamkeit, Verantwortungslosigkeit, Hektik und Stress der FahrerInnen dabei entfalten können, zeigen die bereits verwitternden Kreuze an beiden Fahrbahnrändern – es vergeht kaum ein Monat, an dem auf dieser Strecke nicht ein Mensch stirbt. Oft sind es Fußgänger, die in dem Iașier Ortsteil Valea Lupului die Straße überqueren wollen. Auf den 50 Kilometern von Târgu Frumos bis Iași ließen sich vor einigen Jahren allein 16 Kreuze aum rechten Straßenrand zählen, die Zahl der "Opfer" dieser "Todesstrecke" liegt natürlich weit höher.
Vom wachsenden Autoverkehr nicht verschont bleiben auch die touristisch interessanten Ziele. Das so idyllisch am Rande der Berge in der Bukowina gelegene Gura Humorului verzeichnet im Zentrum während der Arbeitswoche einen solchen Verkehr von Besuchern in Bussen, von Einheimischen, Wirtschaftsfahrzeugen, etc., dass von einem "Luftkurort" kaum noch die Rede sein dürfte. Vor allem ist es der Schwerlastverkehr von Lkws und Transportern, der den Aufenthalt im Zentrum eher als lautes Spektakel in Abgaswolken denn als Erholung erleben lässt. Einer der Gründe dieser Ballung liegt in der Tatsache, dass es keine Straßenalternative aus dem Tal von Câmpulung Moldovenesc nach Osten Richtung Iași gibt.
So bleibt der Autoverkehr eines der Probleme in einer Region, deren landschaftliche Schönheit nur bewahrt werden kann, wenn nicht versucht wird, diese der bequemen Erreichbarkeit und Zugänglichkeit zu opfern – während zugleich die wachsenden Chancen des EU-Staates auf ökonomischem Gebiet den Ausbau des Straßennetzes unausweichlich zu machen scheinen.
In diesem Zusammenhang wurde bisher das Eisenbahnnetz kaum genannt. So überrascht es, in der Tageszeitung Adevărul eine Meldung zu finden, die den Niedergang der CFR (Câile Ferate Române - Rumänische Eisenbahnen) konstatiert. Anlass ist eine neue Studie des Transportministeriums, nach der in den vergangenen 20 Jahren die Infrastruktur der staatlichen Bahngesellschaft kontinuierlich vernachlässigt worden sei und diese daher erheblich an Kunden verloren habe. Die geringe Geschwindigkeit aufgrund der schlechten Schienenverhältnisse und die ebenfalls aus der schlechten Infrastruktur resultierende Unpünktlichkeit seien die Hauptgründe für das geringe Nutzeraufkommen. Die Misere gehe aber letztlich vor allem auf die chronische Unterfinanzierung seit 1990 zurück.
In der Tat stellt die rumänische Bahn ein spezielles Vergnügen dar: War vor 20 Jahren die Fahrt von Bukarest bis Iași (400 km) eine 6-stündiges Dahinkriechen, so bestand doch die Hoffnung, dass in der Zukunft diese Fahrzeit auf vielleicht 5 oder gar 4 1/2 Stunden reduziert werden könnte. Mittlerweile dauert diese Fahrt aber fast 7 Stunden! Und die jetzt häufigen und gut gefüllten Flüge brauchen dafür nur 1 Stunde. Wie sehr das Zugfahren ins Hintertreffen geraten ist, zeigt die Tatsache, dass die CFR es für nötig hält, Plakate in den Zügen anzubringen, auf denen klargestellt wird, dass man für die Zugfahrt eine Fahrkarte braucht und dass bestimmte Regeln zu befolgen sind. Dennoch gelingt es immer wieder, mit dem Schaffner "Deals" zu beiderseitigem Vorteil (und Nachteil der CFR) zu vereinbaren. Im Zug von Câmpulung Moldovenesc nach Gura Humorului fängt eine Reisende eine lautstarke Diskussion mit dem Schaffner an, weshalb so wenige Wagen für die zahlreichen Reisenden bereit gestellt werde, während auf anderen Strecken die Züge nicht so überfüllt seien. Sie fordert bessere Versorgung durch die Bahn, worauf der Schaffner nur wenig zu antworten weiss. Ein deutliches Zeichen für die beginnende Veränderung des Denkens könnte das Wiederaufkommen des Fahrrads im Nahbereich darstellen. Überall sind jüngere Menschen mit neuen Fahrrädern unterwegs. Selbst die zunächst eher wie ein Feigenblatt für eine verfehlte Verkehrspolitik wirkenden grünen Radstreifen in Bukarest machen mittlerweile Sinn, da sie von zahlreichen bicicletiști benutzt - und vielfach auch von den AutofahrerInnen respektiert werden.