DANACH...
Die Leipziger Buchmesse hat im Frühjahr 2018 als Gastland Rumänien begrüßt und damit eine der dynamischsten literarischen Szenerien Europas näher vorgestellt. Wir wollen dieses Ereignis zum Anlass nehmen, die Literatur, aber auch die Künste und die Geschichte sowohl Rumäniens als auch der Republik Moldau in ihren meist im Westen unbekannt gebliebenen Hintergründen als auch aktuellen Entwicklungen zu beleuchten. In Buchrezensionen, Interviews, Reportagen, Essays und Aufsätzen wollen Autorinnen und Autoren ihre eigenen Themen und ihre Perspektiven auf die Kultur Rumäniens und der Republik Moldau formulieren und damit beitragen zu einer immer noch notwendigen Aufklärung im deutschsprachigen Raum über die kulturellen Landschaften um den Karpatenbogen und zwischen Pruth und Dnjestr.
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Über die Zeiten
Ausgewählte Presseartikel des Schweizer Journalisten Andreas Saurer
Rumänien ist in den deutschsprachigen Presselandschaften unterschiedlich, aber meist nur sehr dünn vertreten. Es müssen schon außergewöhnliche Ereignisse geschehen, damit in den Zeitungen und Zeitschriften Platz für einen größeren Artikel freigehalten wird. In Österreich liegen die Dinge besser, was die geographische Nähe und die damit verbundene größere Präsenz der österreichischen Wirtschaft im Karpatenland reflektiert. In der BRD geht die reiche Presselandschaft eher nur punktuell auf Rumänien ein, während die Schweiz in der Person des Journalisten und Schriftstellers Andreas Saurer über Jahre hinweg eine kompetente und nachhaltig berichtende Instanz aufwies. Für die Berner Zeitung als Auslandsredakteur arbeitend bereiste Saurer bereits während der kommunistischen Diktatur Rumänien und lieferte anschauliche Einblicke in die Realität der "epoca de aur" (ironisch: Goldene Epoche) unter Nicolae Ceaușescu. Die Auswahl seiner "Reportagen und Essays aus 33 Jahren" lässt mit großem Gewinn kompetente und unterschiedlich perspektivierte Ansichten von Rumänien vor und nach der Revolution von 1989 nachlesen. So können wir jetzt verfolgen, was die LeserInnen der WochenZeitung am 1. Dezember 1989 – also wenige Wochen vor der "Revolution" – erfuhren. Saurer klärt über die als "Systematisierung" bezeichneten Vorhaben der Dorfzerstörungen ebenso auf wie über die unentgeltliche Arbeit, die jeder Rumäne in seiner Freizeit leisten musste. Und wer weiß noch etwas von den über 30000 ungarischsprechenden Flüchtlingen, die bereits vor der Revolution aus dem Karpatenstaat nach Ungarn geflohen waren? Oder – noch weiter historisch ausgreifend – von der Botschaftsbesetzung in der schweizerischen Hauptstadt Bern durch Exilrumänen, die in der Eiszeit des Kalten Krieges internationale Wellen schlug und tragische Weiterungen bis nach München und Ostberlin hatte.
Die Artikel Saurers setzen Markierungen in der jüngeren Geschichte Rumäniens, an denen sich die wichtigen Entwicklungen verfolgen lassen. Dies ist auch möglich, weil der Schweizer Journalist nachfasste, wieder in die Städte und auf das Land reiste, um nachzufragen, wie sich bestimmte Dinge entwickelt haben. Zu solcher Vertiefung tragen seine Interviews etwa mit Ana Blandiana oder Andrei Pleșu ebenso bei, wie seine Treffen mit Schriftstellern wie Petre Stoica, Ion Zubașcu und Gheorghe Crăciun.
Saurer wirft in seinen Texten ebenso präzise wie eindringliche Schlaglichter – etwa auf das Problem der Securitate und die politische Entwicklung mit ihren spezifischen Merkwürdigkeiten. Aber auch auf die neuen Veränderungen im Land, anschaulich skizziert in einem Text über die Maramuresch und Neueinwanderer aus Trier, die in Botiza eine Reihe von touristischen Projekten in diesem landschaftlichen Paradies initiiert haben. Besonders interessant sind jene Artikel, die gerade erst "vergangene" Entwicklungen und Hoffnungen in den Blick nehmen, wie den Europagedanken in Rumänien und anderen Staaten der Region. Was schien vor 15 oder 20 Jahren alles möglich! Es stellt den dokumentarischen Wert von solchen gesammelten Artikeln dar, dass sie auch an die jüngst vergangene Zeit erinnern, die von der Gegenwart aus oft am nachdrücklichsten der Vergessenheit anheimfällt.
Nicht nur am Ende der in 7 Kapiteln angeordneten Beiträge geht der Blick auch über die Grenzen in die Republik Moldau und die Ukraine. Stellt Saurer die Celan-Stadt Czernowitz (Černivci/Cernăuți) als "begehbares Gedächtnis" vor, so kann ebenso der heutige Lesende durch die Lektüre von Saurers plastischen Darstellungen die rumänische Welt als vielfältiges Textgedächtnis betreten.
Andreas Saurer: Rumänische Helden. Vom Realsozialismus bis zum EU-Vorsitz. Reportagen, Porträts, Interviews, Essays und Analysen aus 33 Jahren. Pop Verlag Ludwigsburg 2019, 196 Seiten, ISBN 978-3-86356-250-2
Wen die lyrische Seite der rumänischen Reisen von Andreas Saurer interessiert, findet spannende Hinweise in der Nummer 186 der Schweizer Literaturzeitschrift orte ("Rumänische Raritäten") vom Mai 2016.
Krieg, Holocaust und "Rumäniendeutsche"
Paul Milatas Standardwerk über die Deutschen aus Rumänien in der Waffen-SS
Dass eine voluminöse Dissertation zu einem historischen Thema in die 3. Auflage geht, ist eher eine Seltenheit. Da müssen schon Thema, Bearbeitung und allgemeines Interesse eine innige Verbindung miteinander eingehen. Dem rumänischen Historiker Paul Milata ist dies mit seiner Arbeit zu den "Rumänidendeutschen in der Waffen-SS" so überzeugend gelungen, dass jetzt eine weitere Auflage der zweiten von 2009 folgen konnte. Gegenstand der Diss. und Gründlichkeit der Forschungsarbeit dürften die Hauptursachen für den Erfolg des Buches darstellen.
Dass 64000 rumäniendeutsche Männer und wenige Frauen in die SS eintraten und die Hitlersche Kriegspolitik realisierten, hat nach der Niederlage eine der wichtigen Stimmen der Siebenbürger Sachsen dazu veranlasst, festzustellen: "Die SS-Aktion war der folgenschwerste Fehler der sächsischen Geschichte." Sie veränderte die Nach-kriegsgeschichte der deutschen Minderheiten aus Rumänien auch in der BRD, wo die Mitgliedschaft in der Waffen-SS ein heißes Eisen war und eher nicht ausführlich erforscht wurde. So dauerte es bis lange nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion und dem Fall des kommunistischen Regimes in Rumänien, dass Milata Zugang zu den entscheidenden Archiven und Quellen erhielt, die es ermöglichten, das komplexe Geschehen einer breiten Darstellung zugänglich zu machen.
Milata nennt als sein Hauptinteresse die Frage nach der nach dem Krieg immer wieder betonten "Freiwilligkeit" des Beitritts zur SS. Diese Fragestellung leitet zahl-reiche seiner Detailuntersuchungen. So wird die entscheidende Erhebung von 1943, bei der über 60000 Sachsen und Schwaben gemustert und militärisch in die SS eingegliedert wurden, ausführlich in ihrem eigenartigen politischen und organi-satorischen Hintergrund aber auch in der Motivation der jungen "Rumänien-deutschen" dargelegt (die Problematik des Begriffs "Rumäniendeutsche" ist Milata sehr bewusst). Schließlich waren die Siebenbürger Sachsen und Banater Schwaben rumänische Staatsbürger deren "zuständige" Militärformation die armata română darstellte.
Heute vor 31 Jahren
Die Revolution in Rumänien in Tageschroniken
31 Jahre nach dem Aufstand der rumänischen Bevölkerung gegen das diktatorische Regime von Nicolae Ceaușescu und der kommunistischen Partei lassen sich viele der Details des Geschehens genauer beschreiben als in den Jahren zuvor, als sie vielfach nicht präzise eingeordnet werden konnten.
Abb. CC BY-SA 2.5 pl, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=1237708
Zahlreiche Fotos, Videos, Dokumente, Augenzeugenberichte, Gerichtsprotokolle lassen ein Bild entstehen, das die Vorgänge an der Oberfläche dokumentiert, während entscheidende Fragen nach den politischen Manövern innerhalb der Parteistrukturen, der Armee und der Securitate vor, während und nach der Revolution noch nicht offengelegt wurden. In einigen Fällen sind die Verantwortlichen klar benannt worden, allerdings haben sich daraus oft keine strafrechtlichen Konsequenzen ergeben.
An den Ablauf der Geschehnisse im Dezember soll die folgende Chronik erinnern.
Freitag, 15. Dezember 1989
Der bereits wegen seiner regimekritischen Aussagen (u.a. in ausländischen Radiosendern) aufgefallene Priester der Reformierten Kirche in Temeswar, László Tökés, hatte im Sonntagsgottesdienst am 10.12. seine Gemeinde aufgefordert, am 15. Zeuge bei seiner gegen seinen Willen angeordneten Versetzung in ein isoliertes Dorf bei Sălaj zu sein. Es kommen am frühen Morgen einige Hundert meist ungarischsprachige Gläubige an das überwachte Gebäude der Reformierten Kirche in der strada Timotei Ciparu an der Piața Maria, nicht weit entfernt von der Innenstadt. Securitate-Mitarbeiter in Zivil versuchen, Verhaftungen unter der Menge vorzunehmen, wobei es zu Auseinandersetzungen kommt, die sich aber noch nicht ausbreiten. Nachmittags finden sich weitere Menschen ein, jetzt auch Rumänen aus der baptistischen Gemeinde. Tökés kritisiert das Regime von Parteichef Nicolae Ceaușescu, es wird erstmals das Lied "Deșteapte-te române!" (Erhebe dich, Rumäne) gesungen. Um 20.00 Uhr kommt der Bürgermeister von Temeswar, Petru Moț, um mit Tökés zu verhandeln. Einige Protestierer bleiben über Nacht beim Kirchenamt.
Samstag, 16. Dezember 1989
An der Piața Maria in Temeswar versammeln sich anfangs etwa 300-500 Menschen, um gegen die Evakuierung des Priesters Tökes, aber auch bereits gegen das System von Partei und Staat zu protestieren. Ein Teil der Menge hält Straßenbahnen der Linie Nr. 2 in der Nähe des Gemeindeamtes der Reformierten Kirche an, um mit ihnen unter dem Rufen von Losungen wie "Jos Ceaușescu!", "Libertate" oder "Vrem paine!" (Wir wollen Brot!) in die Innenstadt zu gelangen. In größeren Gruppen marschieren Demonstranten in das Stadtzentrum. Eine Buchhandlung mit Büchern Ceaușescus wird zerstört, auch zahlreiche Schaufenster an der Einkaufsstraße im Zentrum gehen zu Bruch. Die Plakate mit Parteilosungen und Fotos von Ceaușescu werden zerstört. Auf einem ungarischen Radiosender wird über die Demonstrationen berichtet. Tökés bittet die Menge vom Pfarramt aus, die Demonstration aufzulösen und nach Hause zu gehen. In der Innenstadt auf dem Platz zwischen Oper und Kathedrale kommt es zu Konfrontationen mit der Miliz und den Wasserwerfern der Feuerwehr und zu zahlreichen Verhaftungen. Hunderte werden in Gefängnisse eingeliefert. Gruppen von Demonstranten gehen in andere Viertel der Stadt, vor allem solche mit Studentenheimen, um weitere Demonstranten zu animieren, auf die Straße zu gehen.
Nach Mitternacht sperrt Miliz die Straße zur Reformierten Kirche ab und räumt die Piața Maria. Tökés flüchtet sich mit seiner hochschwangeren Ehefrau, einem Schwager und dem Studenten Gazda Arpad in die Kirche, wo sie nachts von der Securitate verhaftet und ins Gefängnis gebracht werden. Der Aufstand scheint niedergeschlagen worden zu sein.
Sonntag, 17. Dezember 1989
Die Auseinandersetzungen in Temeswar zwischen Demonstranten gegen das Regime Ceaușescu und den Ordnungskräften verschärft sich in mehreren Stadtteilen. Panzer und gepanzerte Fahrzeuge sind auf Seiten der Miliz und der Armee im Einsatz. Barrikaden werden gebaut. Unbekannte zerstören systematisch Geschäfte, zünden sie an, ohne dass die Ordnungskräfte einschreiten. Auf Befehl Ceaușecus, den General Vasile Milea umsetzt, wird, vor allem als die Dunkelheit nach 16 Uhr einbricht, scharf in die immer größer werdende Menge geschossen und die ersten Verletzten und Toten unter den Demonstranten sind zu verzeichnen. Auch in die Häuser wird geschossen. Die Einheiten von Securitate, Armee, Miliz, Innenministerium, die an den Schießereien beteiligt sind, sind nicht genau zu verifizieren.
Montag, 18. Dezember 1989
Sânpetru Mare
Foto: Dobrivoie Kerpenisan
/aus Rebels With A Cause, 2019/
Angehörige begeben sich in der gespannten Atmosphäre der Stadt Timișoara in die Spitäler, um ihre Toten zu finden und zu beerdigen. Jede Gruppenbildung auf den Straßen ist verboten, auf Ansammlungen werde sofort geschossen. In den Firmen und Fabriken werden die Fehlenden gezählt. In einzelnen Vierteln wie dem Arbeiterviertel Girocului sind die Straßen übersät mit Gewehrpatronen und weisen auf eine kriegsähnliche Situation hin.
Vor der verschlossenen Kathedrale werden Kinder und Jugendliche, die dort Kerzen aufstellen wollen und Anti-Ceaușescu-Parolen rufen, von der Armee erschossen. 60 Tote und hunderte Verletzte sind das Ergebnis dieses Tages.
In dem Dorf Sânpetru Mare veranlassen Berichte von den Vorgängen in Temeswar eine Menschenmenge zum Marsch auf die Primaria, wo sie Bilder und Bücher von Ceaușescu zerstören.
In der Nacht zum Dienstag wird die "Operațiunea Trandafirul" (Operation Rose) durchgeführt: 40 Leichen werden von der Miliz aus den Krankenhäusern entwendet (einige noch Lebende werden ermordet), in einem Kühlwagen nach Bukarest gebracht, dort in einem Krematorium verbrannt und ihre Asche in einem Graben bei Bukarest verteilt.
Der Staatspräsident Ceaușescu begibt sich ohne Ehefrau Elena zu einem Staatsbesuch in den Iran.
Dienstag, 19. Dezember 1989
Sânpetru Mare
Foto: Dobrivoie Kerpenisan
/aus Rebels With A Cause, 2019/
Es werden zahlreiche weitere Verhaftungen vorgenommen. Die Arbeiter der Firma ELBA (Electrobanat) erklären den Generalstreik. In den Betrieben wird über das weitere Vorgehen diskutiert. Viele Fabriken sind von Ordnungskräften umstellt, um die Arbeiter an Demonstrationen zu hindern. Um 11 Uhr versuchen der erste Sekretär der Partei im Kreis, Radu Bălan, und Bürgermeister Moț, die Arbeiter zum Einstellen der Arbeitsniederlegungen und Demonstrationen zu bewegen. Bălan scheint bereit, in das Lager der Revolutionäre zu wechseln. General Gușă, ebenfalls in der Fabrik ELBA, ordnet einen Teilrückzug der Armee an. Auf den Straßen dominieren die Ordnungskräfte von Armee, Miliz, Securitate, bei Zusammenstößen sterben 8 Menschen.
Mittwoch, 20. Dezember 1989
Zehntausende, vor allem aus den Betrieben und Fabriken, demonstrieren in Temeswar gegen die Diktatur. Der Platz zwischen der Oper und Kathedrale füllt sich ab 14 Uhr mit Menschen, die aus den Nationalfahnen die Parteizeichen herausgeschnitten haben. Vom Balkon der Oper werden Reden gehalten (die installierten Mikrofone und Lautsprecher waren für eine prokommunistische Kundgebung vorgesehen). Der erste Redner, Ioan Chiș, prägt den Spruch: Endlich ist die Mămăligă explodiert. Die Menge ruft enthusiasmiert: "Libertate", „Azi în Timişoara, mâine-n toată ţara!” (Heute in Temeswar, morgen im ganzen Land),
Eine große Zahl begibt sich zum Consiliul Județean, wo der Premierminister Constantin Dăscălescu sich aufhält. Eine Abordnung von Revolutionären (Ioan Savu, Corneliu Vaida, Sorin Oprea, Marcu, Boloșoiu, Hanus Sandu, Petrișor u.a.) führt einen Dialog mit dem Premierminister in dem Gebäude und fordert Rückzug der Armee, genaue Aufklärung über die Schießbefehle und die Zahl der Toten, Freilassung der Verhafteten, freie Wahlen, privates Unternehmertum, freie Presse. Die Befreiung der 980 Verhafteten und der Rückzug der Armee in die Kasernen wird erreicht. Vereinzelt werden Verbrüderungen mit der Armee beobachtet.
In der Stadt Lugoj im Banat finden ebenfalls Demonstrationen statt. Es ist die erste Stadt, die dem Beispiel von Temeswar folgt. Zwei junge Protestierer werden gegen 20.00 Uhr aus einer Armeekaserne heraus erschossen, die Parteizentrale geht in Flammen auf, zahlreiche Fensterscheiben von Geschäften werden eingeschlagen.
Um 19 Uhr hält der aus dem Iran zurückgekehrte Ceaușescu eine Rede im Fernsehen, in der er die Vorgänge und die "reaktionären, hooliganistischen, terroristischen Elemente" verurteilt. Der Ausnahmezustand wird über Temeswar verhängt. Aus seiner Heimatregion Oltenien (Craiova) sendet Ceaușescu Arbeiter als Nationalmilizen nach Temeswar, um gegen die Demonstranten vorzugehen. Sie solidarisieren sich aber mit den Aufständischen und verbreiten nach ihrer Rückkehr die Nachrichten über den Aufstand.
Auf dem Platz vor der Oper in Temeswar bleiben etwa 60 Menschen über Nacht.
Donnerstag, 21. Dezember 1989
Auf dem Balkon der Oper in Temeswar verliest Lorin Fortuna morgens eine Proklamation, die einen neu konstituierten Frontul Democratic Român vorstellt und Temeswar zur ersten kommunismusfreien Stadt (oraș liber de comunism) Rumäniens erklärt.
In Arad gehen ab 8.30 Uhr die ArbeiterInnen zahlreicher Betriebe auf die Straße und marschieren in Richtung des zentralen Platzes, wo sich das Parteibüro befindet. Um 12.30 Uhr verspricht die Kreissekretärin der Partei, Elena Pugna, ähnlich wie Ceaușescu in Bukarest, eine Erhöhung der Löhne und der Kinderzulagen, wird aber ausgepfiffen. Am Abend wird unter den Demonstranten nach dem Temeswarer Vorbild ein Komitee mit der Bezeichnung Frontul Democratic Român gebildet mit dem Schauspieler Valentin Voicilă als führendem Mitglied. Der um das Parteigebäude postierte, mit Kriegsmunition bewaffnete Kordon aus Miliz und Militär findet keinen Anlass zum Eingreifen.
In Cluj wird hingegen auf dem zentralen Platz ohne Anlass von der Armee auf Befehl lokaler Offiziere in die Menge geschossen, 26 Menschen sterben, 79 werden verletzt.
In Târgu Mureș/Marosvásárhely wehren sich Arbeiter in den Fabriken gegen die von Ceaușescu vorgeschriebene Interpretation der Ereignisse in Temeswar. Der Parteisekretär der Stadt wird in der Firma IMATEX gezwungen, ein Protestschreiben an den Staatschef abzusenden. Nach konfrontationsreichen, vor allem von Arbeitern aus den Fabriken begonnenen Demonstrationen werden am Abend gegen 21.20 Uhr auf dem zentralen Platz 6 Menschen erschossen, 21 durch Kugeln verletzt, zahlreiche verhaftet und misshandelt.
In Sibiu/Hermannstadt/Nagyvaros wird eine kleine Demonstration von Arbeitern aus der Firma Balana gegen 8.30 Uhr aufgelöst. Kurze Zeit später finden sich zahlreiche Protestierer auf den Straßen, marschieren ins Zentrum, wo sie Bilder und Bücher von Ceaușescu aus Buchhandlungen verbrennen. Ab 10.00 Uhr beginnen auf Anordnung von Kreisparteisekretär Nicu Ceaușescu, Sohn von Nicolae Ceaușescu, Armeeschüler gegen die Protestierer vorzugehen. Sie eröffnen das Feuer und töten 1 Demonstranten, 4 werden verletzt. Daraufhin strömen Tausende in verschiedenen Teilen der Stadt auf die Straßen.
In Bukarest hält Ceaușescu um 12 Uhr eine von TV România übertragene Rede vom Balkon des ZK vor etwa 100000 eilig herbei transportierten Unterstützern der Partei. Während der Rede entsteht Unruhe in der Masse, es sind Knallgeräusche zu hören, es entsteht Bewegung in der Menge. Die TV-Übertragung wird mehrmals unterbrochen, als die Rufe "Timioșara" für kurze Zeit deutlicher durchdringen. Der Conducător reagiert zunächst verunsichert und fahrig, seine Ehefrau Elena neben ihm gibt Anweisungen - die Übertragung wird bald abgebrochen. Ceaușescu kann die Rede allerdings beenden, in der er vor allem finanzielle Versprechungen für Arbeiter, Mütter und Pensionäre macht. Die Ereignisse von Temeswar nennt er einen Angriff auf Unabhängigkeit, Integrität und Souveränität Rumäniens und erinnert an die Situation von 1968, als Rumänien nicht am Einmarsch in die CSSR teilnahm. In der Stadt finden Kämpfe zwischen Ordnungskräften und Demonstranten statt, vor allem an der nahe gelegenen Piaţa Universităţii, die ein erstes Todesopfer fordern. Abends wird dort vor dem Hotel Intercontinental eine Barrikade errichtet. Scharfschützen schießen von den Dächern auf die Demonstranten. In der Nacht sterben hier 49 Aufständische, 500 werden verletzt, Tausende verhaftet.
Cluj 21.12. 1989
Foto: Răzvan Rotta (https://ro.wikibooks.org/wiki/Revolu%C
8%9Bia_Rom%C3%A2n%C4%83_de_la_Cluj_%C3%AEn_imagini)
Sibiu, Casa de Cultură a Sindecatelor
Freitag, 22. Dezember 1989
In Bukarest findet im Gebäude des Zentralkomitees dessen letzte Sitzung statt.
9.00 In Sibiu beginnen Demonstrationen in Richtung Piața Mare und zur Casa de cultură a sindecatelor (Gewerkschaftskultur-haus), wo sich etwa 30000 Menschen versammeln. Unter ihnen konstituiert sich das Demokratische Forum des Kreises Sibiu.
9.55 Uhr Bukarest: Nachrichtensprecher George Marinescu verliest im TVR die Verkündung des Ausnahmezustandes (starea de necesitate) über das ganze Land. Jede öffentliche Gruppenbildung von mehr als 5 Personen ist verboten.
In der gleichen Nachrichtensendung teilt der Sprecher mit, dass Verteidigungsminister General Vasile Milea Selbstmord begangen habe. Milea hatte den Schießbefehl Ceaușescus weitergegeben, blieb aber nicht konsequent bei dieser Haltung. In den Nachrichten wird Milea als "Verräter" bezeichnet, der Gerüchte und Lügen in die Welt gesetzt und mit den "imperialistischen Kreisen" die Aufstände verursacht habe. Während der Nachrichten bewegen sich wie am Vortag große Demonstrationszüge in Bukarest von der Piața Universității Richtung Boulevard Brătianu und Magheru. Hier ist auch Maschinengewehrfeuer zu hören.
11.00 Nach einiger Zeit gelingt es, den DemonstrantInnen, den Platz vor dem ZK zu erreichen und in das Gebäude einzudringen.
11.50 Das TV-Gebäude ist von Protestierern besetzt, das Fernsehen in Televiziunea Română Liberă (TVRL, Freies rumänisches Fernsehen) umbenannt.
12.09 Uhr Nicolae und Elena Ceaușescu fliehen mit einem Hubschrauber vom Dach des ZK-Gebäudes, während sich der Platz mit einer unübersehbaren und enthusiastischen Menschenmenge füllt.
Petre Roman spricht vom Balkon des ZK-Gebäudes zur Menge und erklärt den Sieg der Revolution.
12.55 Im TVRL verkündet Mircea Dinescu aus einer Gruppe von Aktivisten - darunter der Regisseur Sergei Nicolaescu und der Schauspieler Ion Caramitru - in die Live-Kameras: "Am invins! Am invins!" (Wir haben gesiegt.)
General Chițac ruft aus dem Studio die Armee zur Unterstützung der Aufständischen auf.
12.00 In Temeswar werden auf dem Armenfriedhof die Gräber von vorgeblichen Opfern der Ceaușescu-Herrschaft und der Niederschlagung der Revolution geöffnet. Durch die wieder geöffneten Grenzen kann im Ausland der Eindruck erweckt werden, dass die Kämpfe in Temeswar mehrere Tausend Tote forderten. Falschnachrichten, die ihren Weg wieder zurück nach Rumänien finden.
12.00 Sibiu: Aufständische belagern den Sitz der Miliz auf der strada Armata Roșie, Ecke strada Moscovei. Diese hängt ein Transparent an das Gebäude, mit dem Text: "Noi, miliţia, slujim interesele poporului. Suntem cu voi! Fără violenţă! Organizaţi-vă pentru dialog!" (Wir, die Miliz, arbeiten im Interesse das Volkes. Wir sind mit euch. Ohne Gewalt! Organisiert euch für den Dialog.) Die Demonstranten gelangen in das Gebäude, die Miliz flieht zur auf der gleichen Straße benachbarten Armee, von wo aus auf die Milizionäre geschossen wird und 19 sterben. Auf die Menge vor der Casa de Cultură wird ebenfalls geschossen, sie flieht in Panik.
12.30 Nach der Flucht der Ceaușescus kommt es in Sibiu zu weiteren Schießereien zwischen Armee, Securitate und "Terroristen", die über 43 Tote fordern, unter ihnen auch Zivilisten und Demonstranten. Der Sitz der Securitate in Sibiu in unmittelbarer Nachbarschaft zur Armee wird 4 Stunden lang mit unterschiedlichen Waffen angegriffen, bis das Gebäude weitgehend zerstört ist. Hauptverantwortlicher für das Verhalten der Armee ist Leutnant Aurel Dragomir, der dem Kreisparteivorsitzenden Nicu Ceaușescu, Sohn des geflohenen Diktators, nahesteht.
Unentdeckte Scharfschützen belegen immer wieder Straßen mit Gewehrfeuer. Die Armee setzt auch Panzer und Geschütze gegen bestimmte Gebäude ein, die völlig zerstört werden.
Zudem hält sie mehr als 500 Personen in einer Sporthalle und einem leeren Schwimmbad fest, die als "Terroristen" bezeichnet werden. Es kommt bei dieser bis in den Januar dauernden Freiheitsberaubung zu Mißhandlungen und Verletzungen.
Zum blutigen Chaos in Sibiu tragen auch die während der Dauersendung des TVRL in Bukarest verbreiteten Gerüchte wie, dass das Wasser in Sibiu vergiftet sei, ebenso bei, wie die Suggestion einer von der Securitate angegriffenen Armee, die es zu verteidigen gelte. Mehrere Generäle fordern im TV ihre Kollegen auf, das "Gemetzel" zu beenden.
Im besetzten TVRL in Bukarest treten aufgeregte Redner mit Appellen, Informationen, politischen Statements, praktischen Vorschlägen auf. Petre Roman, Silviu Brucan, Mircea Dinescu, Ion Caramitru, mehrere Generäle, Priester, u.a. wirken bis in den Abend auf die Zuschauer ein, der Nachrichtensprecher Marinescu liest nun die Kommuniqués der Revolutionäre in die Kameras.
17.00 Nach einem Treffen mit den wichtigsten Militärs hält der frühere Minister für Jugend, Ion Iliescu, eine Rede vom Balkon des früheren ZK-Gebäudes in der er die Armee zur einzigen Ordnungskraft erklärt. Einige Zeit danach beginnen auf dem Platz Schüsse zu fallen.
Es bestätigen sich Nachrichten, dass das Ehepaar Ceaușescu in einer Dacia bei Târgoviște gefasst worden sei und in einer Armeeeinheit gefangen gehalten werde.
22.00 Im TVRL in Bukarest wird der gefangengenommene Sohn Nicu Ceaușescu, Parteichef von Sibiu, präsentiert.
23.00 Iliescu verliest im TVRL das Manifest des Frontul Național de Salvare, der von der Armee unterstützt werde und alle "gesunden Kräfte" des Landes umfasse. Alle Organisationen der Regierung des Ceaușescu-Clans seien aufgelöst, freie Wahlen für den April 1990 vorgesehen.
Am Abend und in der Nacht auf den 23. Dezember lassen die Attacken auf die Universitätsibliothek und den nun als Nationalmuseum funktionierenden früheren Königspalast nicht nach. Beide Gebäude geraten nach Beschuss durch Panzer in Brand, eine große Zahl wertvoller Gemälde, Tapisserien, Bücher, Handschriften, wird zerstört.
Samstag, 23. Dezember 1989
0.00 In Târgoviște wird die Militäreinheit 01714 angegriffen, in der Nicolae und Elena Ceaușescu gefangen gehalten werden.
In der Nacht brechen in den größeren Städten wie Temeswar, Cluj, Sibiu, Brașov und Bukarest Schießereien aus, deren Ursachen nicht genau auszumachen sind. Allgemein wird von "Terroristen" als Angreifern gesprochen, die skrupellos und ohne erkennbares Motiv auf Zivilisten, Soldaten Securitate, Miliz, in Häuser, Wohnblocks, Krankenhäuser schießen. Bewaffnete und wenig informierte Zivilisten beteiligen sich an den Kämpfen. In Brașov sterben in dieser Nacht 39 Menschen, nachdem die Armee - wie in Sibiu - gegen Vorlage des Personalausweises Waffen an Zivilisten ausgegeben hat. In der Banater Industriestadt Reșița, in der bis dahin die Demonstrationen keine Auseinandersetzungen mit den Ordnungskräften verursacht hatten, beginnen in der Nacht ebenfalls tagelange Gefechte, in deren Verlauf 25 Menschen sterben.
6.30 Bukarest: In 3 Autobussen werden Gendarmen, Armeeschüler und Wehrdienstleistende zum Flughafen Otopeni transportiert, um eventuelle Terrorattacken abzuwehren. Bei ihrer Ankunft werden sie noch in den Bussen aus verschiedenen Richtungen beschossen. In 10 Minuten sterben 22 Insassen, weitere Gefechte fordern am Flughafen das Leben von 15 Menschen. Zunächst wird als Ursache eine mangelhafte Kommunikation zwischen Armee und den Gendarmen vermutet, später eine gezielt geschürte Hysterie wegen möglicher "Terroristen".
Die Kämpfe um das Nationalmuseum und die Bibliothek halten an. Beide Gebäude stehen in Flammen, während sich auf den Straßen die Menschen hinter Panzern verschanzen.
In Sibiu wird weiterhin geschossen: Es herrscht Verwirrung, Chaos, Gerüchte unterschiedlichster Art machen die Runde. Aus den Dachfenstern (den "Augen von Hermannstadt") schießen Unbekannte, es wird wahllos zurückgeschossen, Panzer zerstören Gebäude, in denen "Terroristen" vermutet werden, Helikopter jagen Menschen, Zivilisten werden von Scharfschützen auf den Straßen erschossen, die mit Geschosshülsen übersät sind (nach einer plausiblen Schätzung wurden in den Tagen der Revolution in Sibiu über 2 Millionen Patronen benutzt).
In weiteren Städten kommt es zu weniger gewalttätigen Demonstrationen und Versammlungen.
23.30 Uhr Gegenüber dem Sitz des Verteidigungsministeriums in Bukarest an der Straße Drumul Taberei sind Panzer zur Verteidigung aufgestellt. Die Insassen von auf Befehl des reaktivierten Generals Nicolai Militaru herbeigerufenen leicht gepanzerten Fahrzeugen der U.S.L.A (Unitatea Specială de Luptă Antiteroristă) werden zu "Terroristen" erklärt und zusammengeschossen. Die 8 Toten (unter ihnen lt. col. Gheorghe Trosca, von dem es heißt, er sei an der Enttarnung von Militaru als Agent des KGB beteiligt gewesen) bleiben tagelang auf der Straße liegen, der abgetrennte Kopf von Trosca auf der Motorhaube eines Fahrzeugs ausgestellt. Die Zeitung România Liberă erklärt die Toten zu "Söldnern". Militaru wird zwei Tage später von Iliescu in der von Petre Roman geleiteten ersten postrevolutionären Regierung zum Verteidigungsminister erklärt.
Sonntag, 24. Dezember 1989
Der Consiliul Frontului Salvării Naționale und ein Comandamentul Militar Unic teilen über TVRL und Radio mit, dass "aus militärischer Sicht die Situation in der Hauptstadt und den Kreisen des Landes sich unter Kontrolle befindet. Zu dieser Stunde führen unsere Armee, Einheiten der Miliz und des Inneren Operationen zur raschen Lösung der Probleme, die noch bestehen, aus, um die Nester der Terroristen zu neutralisieren."
An einzelnen Punkten in den großen Städten wird noch geschossen, zugleich finden bereits Aufräumarbeiten statt.
Foto: www.kultro.de
Montag, 25. Dezember 1989
13.20 In der Garnison Târgoviște findet ein außerordentlicher Militärprozess gegen das Ehepaar Ceaușescu statt. Aus Bukarest sind auf Betreiben des Frontul Salvării Naționale (FSN) in mehreren Helikoptern ein Militärstaatsanwalt, Richter, Verteidiger, Schriftführer, Schöffen angereist. Die Anklage gegen Nicolae und Elena Ceaușescu lautet auf Genozid, gewaltsame Zerstörung kommunaler Einrichtungen und Gebäude während der Revolution, Zerstörung der Ökonomie, Deponierung von mehreren Hundert Millionen Dollar auf ausländischen Konten zur Fluchtvorbereitung. Ceaușescu erkennt das "tribunal poporului" (Volksgericht) nicht an.
Das Urteil lautet auf die Todesstrafe durch Erschießen und wird um 14.50 Uhr vollstreckt.
In den nächsten Stunden und Tagen lassen die Kämpfe in den Städten allmählich nach.
Vom 15. Dezember 1989 bis zum 22. Dezember wurden durch die Repression in Rumänien 271 Menschen getötet, vom Nachmittag des 22. Dezember (Flucht Ceaușescus) bis zum 25. Dezember (Hinrichtung) 715, nach dem 25. Dezember 113 (bei 67 Opfern konnte das genaue Todesdatum nicht festgestellt werden). Insgesamt 1166 Tote.
*
29 Jahre nach den Ereignissen erhob auf Basis eines Urteils des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte das höchste rumänische Gericht Anklage gegen den früheren Staatspräsidenten Ion Iliescu und 3 weitere Beschuldigte wegen ihrer Rolle bei den Kämpfen gegen "Terroristen" nach dem 22. Dezember 1989.
Paul Celan vor 100 Jahren geboren
Abb.: Paul Celan und Petre Solomon in Bukarest am Bulevard Brătianu
Am 23. November 1920 wurde in der in Gefolge des Ersten Weltkriegs zu Rumänien gehörenden, früher österreichischen Stadt Cernăuți (Czernowitz) in der Wassilkogasse 5 Paul Antschel (rum. Ancel) geboren, der unter dem Namen Paul Celan zu einem der, wenn nicht sogar zu dem bedeutendsten Lyriker deutscher Sprache in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhundert werden sollte. In die jüdische Familie eines Händlers und Bauingenieurs geboren durchlief Ancel sowohl hebräische, deutsche als auch rumänische Schulen bis zum Abitur an dem Liceul Marele Voievod Mihai (früher Viertes ['Ukrainisches'] Gymnasium). Bereits zur Schulzeit mit dem Antisemitismus der Eisernen Garden und der zunehmenden behördlichen Diskriminierung konfrontiert, entschloss sich der Abiturient, in Frankreich ein Studium der Medizin zu beginnen. Auf dem Weg nach Tours durchfuhr Celan Berlin an jenem 9. November 1938, als gerade das reichsweit von den Nazis inszenierte Pogrom an der jüdischen Bevölkerung stattgefunden hatte. Nach dem ersten Studienjahr kehrte Celan nach Czernowitz zurück und begann wegen des Ausbruchs des Weltkrieges in Czernowitz ein neues Studium, diesmal der Romanistik. Bereits in der Schule hatte sich der künftige Dichter als sehr sprachbegabt erwiesen und erlernte Hebräisch, Rumänisch, Französisch, auch Russisch. Aufgrund des Hitler-Stalin-Pakts fiel die Nordbukowina an die Sowjetunion und im Juni 1940 marschierten sowjetische Truppen in die Stadt ein. Die anfänglichen Sympathien des in rumänischer Zeit gegen den zunehmenden Abbau der demokratischen Rechte und die Diskriminierungen Widerstand leistenden Kreises um Celan wich bald der Einsicht in den Charakter des wenige Freiheiten gewährenden und eine nicht geringe Zahl von Bewohnern deportierenden Sowjetregimes. Immerhin hörte nun die Diskriminierung der Juden auf, jiddische Schulen und Kultureinrichtungen wurden gefördert. Ein Jahr später griffen Nazi-Deutschland und Rumänien als Alliierte die Sowjetunion an und Czernowitz wurde von rumänischen Truppen erobert. Nun folgten sowohl von den Einsatzgruppen der Wehrmacht wie vor allem von den rumänischen Militärs und Behörden die Ghettoisierung, Deportierung und Ermordung von Juden. Celan musste Zwangsarbeit verrichten, seine Familie wurde in das neu geschaffene Ghetto eingewiesen. Im Juni 1942 versteckte sich Celan in der Fabrik eines Rumänen, seine Eltern weigerten sich aber, in den Untergrund zu gehen und wurden an den Bug transportiert, wo der Vater im Herbst 1942 starb, die Mutter im Frühjahr 1943 von den Deutschen ermordet wurde. Dieses Geschehen, von dem Celan im Arbeitslager bei Buzău erfuhr, wird ihn zeitlebens belasten und vielfach seine Dichtung prägen.
1944 kehrten die Sowjets zurück und der Student nahm wieder das Studium auf, diesmal der Anglistik, und schrieb zudem für die ukrainische Lokalzeitung. In dieser Zeit erst machte er die Bekanntschaft der Lyrikerin Rose Ausländer, während zu seinen Schulfreunden die Dichter Immanuel Weißglas und zu seinen Verwandten die in der Deportation ermordete Selma Merbaum-Eisinger gehörten. Im Arbeitslager entstanden eine Reihe von Gedichten, die er sammelte und in ein Typoskript überführte. Sie sind seiner Freundin Ruth Lackner-Kraft gewidmet, die nach Bukarest emigrierte.
Über diese lange unbekanntgebliebene Jugendzeit Celans hat der ebenfalls aus Czernowitz stammende Israel Chalfen ein seinerzeit Aufsehen erregendes Buch geschrieben auf der Basis von Gesprächen mit zahlreichen der JugendfreundInnen Celans, die meist nach Israel emigriert waren.1)
Celan folgte mit Verwandten dem Weg in die rumänische Hauptstadt im Frühsommer 1945. Aufgrund seiner Sprachkenntnisse kann er im Herbst eine Stelle als Übersetzer im Verlag Cartea Rusă antreten, wo er mehrere russische Romane ins Rumänische übersetzt. Celan bewegt sich in einem Kreis von Schriftstellerfreunden wie Petre Solomon, Nina Cassian, Ion Caraion oder Ovid Crohmălniceanu. Sie verschafften ihm die Möglichkeit, auch in rumänischen Zeitschriften zu publizieren. So erscheint in Contemporanul am 2. Mai 1947 sein erstes gedrucktes Gedicht auf Rumänisch – Tangoul Morții, übersetzt von Solomon, das später in Wien als Todesfuge erstmals auf Deutsch erscheint. Auch sind einzelne in rumänischer Sprache geschriebene Gedichte und Kurzprosa überliefert. Peripher kommt Celan mit dem aufblühenden Kreis der rumänischen Surrealisten in Kontakt. Durch den seit dem Krieg in Bukarest lebenden Mentor der bukowinischen Dichtung, Alfred Margul-Sperber, kann der junge Debutant briefliche Kontakte nach Westeuropa knüpfen. Seine surrealistische Phase setzt Celan in Wien fort, nachdem er wegen der zunehmenden Beschneidung der Demokratie durch die stalinistischen Kommunisten Rumänien im Dezember 1947 in Richtung Donaustadt verlassen hat. Ausführlicher ist diese Bukarester Zeit von Juni 1945 bis zum Dezember 1947 von seinem Freund Petre Solomon beschrieben worden.2)
Nach dem Fall der Mauer konnten die Jahre vor der Wiener Phase, der Celans Übersiedelung nach Paris 1948 folgen sollte, sehr viel intensiver aus den Quellen in der Ukraine und Rumänien erforscht werden, so dass mittlerweile weitere Darstellungen der rumänischen Jahre des Dichters vorliegen. Nicht zu übersehen ist dabei, dass Celan die Erinnerung an die Bukowina und die Bukarester Freunde bis in seine letzten Tage nicht verließ.
1) Israel Chalfen: Paul Celan. Eine Biographie seiner Jugend. Frankfurt a.M. 1979.
2) Petre Solomon: Paul Celan. Dimensiunea românească. Bukarest 1987.
Corona-Intensivstation in Brand geraten
10 Tote in Piatra Neamț
Foto: ISU
In der am Ostrand der Karpaten gelegenen Stadt Piatra Neamț ist am Samstagabend, 14.11.20, in der Intensiveinheit des Kreiskrankenhauses ein Feuer ausgebrochen und hat 10 Todesopfer gefordert. Ein diensthabender Arzt wurde mit schweren Verbrennungen geborgen und mittlerweile nach Belgien in ein Spezialkrankenhaus für Verbrennungen geflogen. Das Feuer brach explosionsartig gegen 19 Uhr aus und verbrannte die auf der Intensivstation behandelten Intubierten und an ihre Betten gefesselten Patienten. Schwer verletzt wurden weitere 6 Patienten in den beiden Sälen der Station. Sie wurden in ein mobiles Krankenhaus in Lețcani verlegt.
Als Ursache kommen nach ersten Spekulationen elektrische Infusionsgeber in Zusammenhang mit elektrischen Arbeiten zur Vergrößerung der Station in Frage, während der Präfekt des Kreises berichtete, dass in dem Krankenhaus wenige Stunden vor Ausbruch des Feuers die Intensivstation ohne Benachrichtigung zuständiger Stellen vom 3. in den 2. Stock verlegt worden war.
Erste Reaktionen der Öffentlichkeit stellen das Unglück in einen Zusammenhang mit dem Behördenversagen bei dem Großbrand im Club "Colectiv" in Bukarest, bei dem 2015 64 Menschen ums Leben kamen.
Rumänien dystopisch
Ein Roman von Radu Găvan entwirft eine gewaltvolle Welt der Marginalisierten
Wenig zu verlieren hat der junge Literaturdozent nach dem Tod seiner Ehefrau und Mutter ihrer kleinen Tochter. So scheint es ihm jedenfalls: wenig Geld, keine Freunde, winzige Wohnung, schlechte Wohngegend. Einziger Lichtblick bleibt die Tochter Letitia, die er abgöttisch liebt. Aber Radu Găvans Roman inszeniert eine Wende im Leben des Anton, die in das Genre des Pulp Fiction führt: Der Held gerät in Kontakt mit der Welt des lokalen Verbrechens, das über Geld und durch brutale Gewaltanwendung über Macht verfügt. Und genregerecht entfaltet sich eine Story, die fatal enden muss. An Kinofilme erinnernd verbindet der Plot die Handlung mit Wahrnehmungen des städtischen Umfelds in einer namenlosen Vorstadt Bukarests mit Wohnblöcken, versteinert wirkenden Menschen und rumpelnden Straßenbahnen. Găvan arbeitet mit starken Kontrasten, die insbesondere durch rohe Gewaltszenen und die Darstellung der vergötterten Tochter Letitia entstehen.
Der Literaturdozent gerät selbst in den Sog der hinter der Alltagswelt stehenden Gewaltstruktur, wenn er wegen der Tochter einen Nachbarn verprügelt. Und der Kontakt mit der Welt der "interlopii" zeigt ihm mehr an Mechanismen der Gewalt und ihrer Entstehung, als im lieb sein könnten. Eine Nebenhandlung führt die Entwicklung eines der Schergen des Unterweltchefs von den Mißhandlungen der Kindheit bis hin zur Gewalt des Gefängnisses als einziger Ausdruck von Dominanz vor. Dem Genre gemäß ergreift Anton die vermeintliche Chance auf das große Geld und ein Glück im Ausland, aber muss dabei natürlich scheitern. Diese Szenen wirken fast traumartig, so dass ihre Realitätshaltigkeit in Frage gestellt werden kann, wie überhaupt der Realismus der Szenen noch keinen Realismus des Romans bedingt. Găvan geht es mehr um Stimmungen, Träume, Gefühle der Hoffnungslosigkeit und des Glücks, die den Roman über seinen Plot transzendieren. Eine bemerkenswerte Stimme in der rumänischen Literatur!
Radu Găvan: Neverland. Roman. Aus dem Rumänischen von Edith Konradt. Pop Verlag Ludwigsburg 2018, 182 Seiten, ISBN 978-3-86356-181-9
Kulturhauptstadt-jahr
Temeswar
verschoben
Wie der Temeswarer Bürgermeister Nicolae Robu nach einer Sitzung des Direktionsrates der Asociaţia Timişoara Capitală Culturală Europeană 2021 (Asociaţia TM 21) als deren Ehrenpräsident und Vertreter der Stadt als des größten Geldgebers am 10.4.2020 mitteilte, habe der Verein dem Vorschlag der EU-Kommission zugestimmt, die Wahrnehmung des Titels Kulturhauptstadt Europas auf das nächste Jahr oder 2022, evtl. auch 2023 zu verschieben. Grund sei die Pandemie, die es den beiden diesjährigen Trägern (Rijeka und Galway) nicht erlaube, die entwickelten Programme zum Kulturhauptstadtjahr auszuführen. Die Verschiebung muss nun noch durch das rumänische Kulturministerium bestätigt werden.
Hauptthema der Sitzung der Asociaţia TM 21 bildeten allerdings gravierende Probleme in der Organisation und Vorgehensweise des die Vorbereitungsaktivitäten bündelnden Vereins. Bürgermeister Robu erklärte: "Ich unterstreiche, dass der Verein ein sehr negatives Bild abgibt, einen mehrheitlichen Vertrauensverlust in der Gemeinde aufweist und dass es notwendig ist, konsequente Maßnahmen zu ergreifen, um die Dinge zu korrigieren." Robu forderte radikale Umstrukturierungen, mehr Transparenz des Vereins und Offenheit für neue Mitglieder ein. Die nächste Sitzung des Direktionsrates ist bereits für den 17.6. vorgesehen.
Am 1. Mai 1970 wird in Paris die Leiche des Dichters Paul Celan aus der Seine geborgen. Es wird angenommen, dass er in der Nacht vom 19. auf den 20. oder 20. auf den 21. April den Tod in dem Fluss gesucht hat. Zuvor war der in Czernowitz 1920 geborene Paul Antschel (Ancel) längere Zeit in einer psychiatrischen Klinik behandelt worden, drei Jahre vorher hatte er bereits einen Suizidversuch unternommen.
Celans Herkunft aus der österreichisch geprägten Bukowina, als diese nach dem Ersten Weltkrieg an Groß-Rumänien gefallen war, hat, nach diesem tragischen Tod und nachdem die Dichtungsweise Celans in der deutschen Literatur als eine einzigartig aktuelle und moderne entdeckt worden war, ein beispielloses Interesse an der deutschsprachigen Kultur dieses kleinen Kronlandes an der Grenze zu Russland und Rumänien freigesetzt. Der Untergang dieser Kultur im von Deutschen und Rumänen verursachten "vergessenen" Holocaust, während dem auch die Eltern Celans ermordet wurden, fand seine einzigartige Sprache in der Auseinandersetzung Celans mit der deutschen Sprache, die auch in der rumänischen Zeit noch die Sprache der jüdischen Bevölkerung der Bukowina geblieben war und in der Celan nach dem Krieg und der Flucht aus Rumänien über Wien nach Paris weiter festhielt. Seine opak erscheinenden Verse brachen jedes semantische Kontinuum auf, um es neu zu verwenden zur Sichtbarmachung der geschehenen Gewalt - aber auch zur lyrischen Evokation von Schönheit, die bis heute Celan zu einem der wenigen von einem großen Lesepublikum rezipierten aktuellen Lyriker hat werden lassen. War es zunächst die in rumänischer Übersetzung erschienene "Todesfuge" (Tangoul morţii), die das Bild des mörderischen Geschehens im Gedicht fasste, so beinhalteten die späteren Lyrikbände Mohn und Gedächtnis (1952), Von Schwelle zu Schwelle (1955), Sprachgitter (1959), Die Niemandsrose (1963) Atemwende (1967), Fadensonnen (1968) mitunter rätselhafte Chiffren der Traumatisierung und des Suchens nach einer "neuen" Sprache.
Paris spielte in dieser Biographie eine besondere Rolle. In der Einleitung zu seiner Studie zu Celans Pariser Zeit ruft der Iaşier Germanist Andrei Corbea-Hoişie in gedrängter Folge die wesentlichen Stimmen auf, die Celan in seiner Herkunft und Gebrochenheit beschreiben: von des Dichters eigener Aussage in einem Brief an Max Rychner 1946 "Mein Schicksal ist dieses: deutsche Gedichte schreiben zu müssen" bis zur dekonstruktiven psychoanalytischen Theorie der in Bulgarien geborenen Julia Kristeva von der Verdrängung und Hervorhebung des Jüdischen zwischen Vatergebot und Muttersprache. Der Bewältigung des Traumas gesellt sich der Versuch bei, sich ein "Hier" zu schaffen, das Paris hieß. Hoişies reich dokumentierte Arbeit zum "unbequemen Zuhause" interessiert sich für 3 biographische Schwellen in Frankreich: "das Germanistik-Studium an der Sorbonne, das Bestreben, die französische Staatsbürgerschaft zu erhalten und die Anstellung als Deutsch-Lektor an der Pariser École Normale Supérieure". In Gesprächen mit Serge Moscovici, Virgil Ierunca u.a. aus Rumänien stammenden Freunden und Bekannten und durch akribisch erschlossene Archivquellen erfährt der Autor viel über die Lebenswelt des Flüchtlings, der in einer intellektuell faszinierenden Welt des Nachkriegs sich als deutscher Dichter durchzusetzen bemüht (und dies auch erreicht). Es zeigt sich der Alltag eines jungen Autors jenseits der mittlerweile vielfach thematisierten emotionalen Beziehungen im Umgang mit beruflichen und bürokratischen Prozeduren, die für sein Überleben in der anfangs fremden Umgebung entscheidend sind.
Dass Hoişie die theoretischen Probleme des biographischen Zugangs zu Celan ernst nimmt, zeigt seine Diskussion dieser Wende in der Celan-Forschung - bei einem Autor, der immerhin erklärte, "kein Freund der Vergesellschaftung des Innenlebens" zu sein, aber zugleich auch offenbarte, "Ich habe nie eine Zeile geschrieben, die nicht mit meiner Existenz zu tun gehabt hätte." Es sollte u.a. der Celan befreundete und ebenfalls als Flüchtling nach Westen gelangte Philologe Peter Szondi sein, der eine Vermittlung dieser beiden diametralen Positionen versuchte. Abgeschlossen wird der äußerst informative Band durch die Rezension zweier "Ego-Dokumente": Edith Silbermanns Erinnerungen an die gemeinsame Kindheit und Jugend in Czernowitz und Brigitta Eisenreichs Schilderung ihrer Liebesbeziehung zu Celan.
Andrei Corbea-Hoisie: Paul Celans "unbequemes Zuhause". Sein erstes Jahrzehnt in Paris. Aachen: Rimbaud 2017 (Celan Studien. Neue Folge 5), 127 S., ISBN 978-3-89086-379-5
Bereits um die Jahrtausendwende hatte Hoişie einen Sammelband in einer Zusammenarbeit dreier Verlage aus Rumänien, Deutschland und Frankreich vorgelegt:
Andrei Corbea-Hoisie (Hg. / éd.): Paul Celan. Biographie und Interpretation / Biographie et interprétation. Konstanz: Hartung-Gorre, Paris: Éditions Suger, Iaşi: Polirom 2000, 235 Seiten, ISBN (Hartung-Gorre) 3-89649-578-X, 2-912590-15-9 (Éditions Suger), 973-683-537-5 (Polirom)
Karlspreis an rumänischen Präsidenten
Der rumänische Staatspräsident Klaus Johannis erhält den Internationalen Karlspreis zu Aachen für das Jahr 2020. Wie das Direktorium bekannt gab, werde Johannis der Preis als herausragendem Streiter "für die europäischen Werte, für Freiheit und Demokratie, den Schutz von Minderheiten und kulturelle Vielfalt“ und für seinen Einsatz für Rechtstaatlichkeit und die Unabhängigkeit der Justiz verliehen. Diesjähriger Preisträger ist UN-Generalsekretär Guterres, zu den bisher Ausgezeichneten gehören u.a. Konrad Adenauer, Winston Churchill, Papst Johannes Paul II., Angela Merkel, Bill Clinton, Jean-Claude Juncker, Simone Veil, Königin Beatrix, Javier Solana, Timothy Garton Ash, Juan Carlos v. Spanien, Václav Havel. Die Preisübergabe findet am 21. Mai 2020 im Krönungssaal des Aachener Rathauses statt.
2019
Rumänien im Sommer (III)
Medien und Behörden
Craiova
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In diesem Sommer kannte die rumänische Presse kein "Sommerloch" - dafür sorgte nicht nur die Politik, sondern auch aufsehenerregende Vorfälle beschäftigten die Öffentlichkeit. Zunächst war es ein Fall von Adoption, der die Gemüter landesweit in Aufwallung brachte. Im Fall von Sorina , einem 8-jährigen Mädchen, begann alles am 21. Juni, als Bilder einer das schreiende und weinende Kind am Arm zerrenden Frau auftauchten, während im Hintergrund die "mascați", die üblicherweise maskiert auftretenden Polizisten der Brigada de intervenție dabei zusahen. Das Kind wurde von seinen Pflegeeltern in Baia de Aramă (Kreis Mehedinți) in Oltenien abgeholt, um zu seinen Adoptiveltern in Craiova gebracht zu werden. Die Frau auf den Bildern mit dem schreienden und sich wehrenden Kind war eine Staatsanwältin. Freunde der Pflegeeltern hatten die Szene mit dem Smartphone gefilmt und über soziale Netze verbreitet, so dass sie in kürzester Zeit auch die Redaktionen der Presse und vor allem der privaten Sender wie antena 3, B1tv, realitatea erreichten. Von dort wurden wie üblich umgehend "meinungsstarke", d.h. in diesem Fall Vorurteile bekräftigende und Emotionen aufrührende Berichte gesendet, die den Adoptiveltern alles vorwarfen, was die Bilder scheinbar belegten: Herzlosigkeit, Unmenschlichkeit, Verachtung der Pflegeeltern, bei denen das Kind 7 Jahre gelebt hatte. Hinzu kam, dass die Adoptiveltern in den USA wohnen und somit sich mehr oder minder unterschwellig noch ein Affekt gegen die ausgewanderten Rumänen einschlich, während die Pflegeeltern als de la noi (von uns) positioniert wurden. Einen Tag später demonstrierten bereits etwa 100 Menschen vor dem Haus der Pflegeeltern "für Sorina" und später vor dem Berufungsgericht in Craiova gegen ihre Adoption. Sie trugen Schilder mit den Losungen "Zerstört nicht das Glück eines Kindes", "Vereint euch für Sorina", "Lasst Sorina entscheiden" ( das rumänische Gesetz sieht eine Mitwirkung des Kindes erst ab 10 Jahren vor). PolitikerInnen wurden zum Eingreifen aufgerufen, Premierministerin Dăncilă - selbst Adoptivmutter eines Jungen, wie sie in einem Interview mit antena 3 im Januar des Jahres offengelegt hatte - sprach sich für eine Berücksichtigung des Kindeswohls und die Bestrafung der falsch handelnden Institutionen aus. Auch die Justiz wurde aktiv, Generalstaatsanwalt Bogdan Licu verlangte, die Ausreise der minderjährigen Adoptierten zu unterbinden, da sie keinen Pass habe und verhinderte so für zwei Wochen die Ausreise, bis das Gericht in Craiova entschied, dass die Adoption rechtens sei. So konnte die Familie Mitte Juli in die USA ausreisen.
Die Vorgeschichte dieser Adoption ist kompliziert und zog sich über 2 Jahre hin. Die Zeitung Adevărul listete auf, welche juristischen und Verwaltungsschritte seit Sorinas Ankunft 2012 mit anderthalb Jahren in der Pflegefamilie unternommen worden waren. Nachdem sie für adoptibilă (adoptionsfähig) erklärt worden war, hatten über 100 Familien Sorinas abgelehnt (wohl vor allem, weil sie ursprünglich aus einer Roma-Familie kommt). Dadurch wurde sie als "schwer vermittelbar" auch für im Ausland lebende rumänische Familien adoptierbar. (Das Gesetz sieht für internationale Adoptionen nur Rumänen mit doppelter Staatsbürgerschaft vor!) Anfang 2018 beantragte die Familie aus den USA die Adoption, während die Pflegefamilie in Baia de Aramă, die noch andere Pflegekinder aufzieht, dies nicht tat und zu einem bestimmten Zeitpunkt ausdrücklich auf die Adoption verzichtete. Sie hatte bei der DIICOT (Direcția de Investigare a Infracțiunilor de Criminalitate Organizată și Terorism - Sonderstaatsanwaltschaft für die Untersuchung von Verbrechen der organisierten Kriminalität und Terrorismus) geklagt, dass die Adoptivfamilie das Kind lediglich zur Organentnahme haben wolle. Im April 2019 entschied das Berufungsgericht in Craiova endgültig, dass die Adoption durch das rumänische Ehepaar in den USA rechtens sei. Die Behörden zeigten eher weniger Entschlusskraft, bis im Juni die Staatsanwältin das Kind zu einer Untersuchung abholte.
Im Nachhinein gesehen warf der Fall ein Schlaglicht auf die nicht wenigen Kinder, die nach der Geburt in das System staatlicher Obhut geraten. Die katholische Theologin Gabriela Blebea Nicolae verwies in der Zeitschrift Dilema veche auf die noch viel schlechtere Lage der Kinder, die nicht wie Sorina adoptiert werden und mit der Volljährigkeit kaum Chancen auf ein selbstbestimmtes Leben außerhalb des staatlichen Betreuungssystems haben.
Advărul berichtete im September noch einmal über Sorina, als der Vater aus den USA verlauten ließ, dass es dem Mädchen gut gehe, es sich mit seinen Geschwistern gut vertrage, Klavier lerne und zum Ballett gehe.
*
Begann sich Mitte Juli die Öffentlichkeit nach der Abreise des adoptierten Kindes in die USA von dem Fall allmählich abzuwenden, so sollte das Verschwinden zweier Jugendlicher ebenfalls in Oltenien für eine bis heute anhaltende Aufregung in der Öffentlichkeit sorgen und viele an den Brand in dem Club Colectiv erinnern, in dessen Folge eine ganze politische Protestbewegung gegen die Korruption entstanden war.
Am 25. Juli gab die Familie von Alexandra Măceșanu über soziale Netzwerke ihre Suche nach der Jugendlichen bekannt, die am Tag zuvor morgens von ihrer Heimatgemeinde Dobrosloveni die wenigen Kilometer in die Kreisstadt Caracal per Anhalter gefahren war. Seither hatte sie niemand mehr gesehen oder kontaktieren können. Auch die Lokalpolizei suchte bereits nach der Jugendlichen und teilte dies in den sozialen Netzwerken mit. Was aber wenige Stunden später bekannt wurde, sollte den Fall zu einem weiteren Beweis für die fatalen Folgen rumänischen Behördenversagens machen. Denn während die lokale Polizei erst allmählich tätig wurde, erhielt die Mutter der Jugendlichen einen Anruf, in dem eine männliche Stimme mitteilte, dass Alexandra mit einem Freund nach England gefahren sei, um Geld zu verdienen und es ihr gut gehe. Dass dies nicht zutraf, wurde im Nachhinein klar, weil es am gleichen 25. Juli von 11:05 Uhr an drei Anrufe von Alexandra bei der Polizei unter der Notfallnummer 112 gab, in denen sie sagte, dass sie von einem Mann entführt und vergewaltigt wurde und in einem Haus gefangen sei. Der veröffentlichte Mitschnitt der Telefonate macht deutlich, dass die Jugendliche verzweifelt und voller Angst auf die Gefahr aufmerksam machen wollte, in der sie schwebt, während die jeweiligen Polizisten ihr nicht zu glauben schienen bzw. nicht in der Lage waren, von Alexandra die nötigen Informationen zu erhalten, um sie zu finden oder die Anrufe an die Stelle weiterzuleiten, die mit dem Verschwinden eines Mädchens aus Dobrosloveni sich befassten. Auch dem STS (Serviciul de Telecomunicaţii Speciale) gelang es nicht, anhand der Anrufdaten genau den Aufenthaltsort zu bestimmen. Die letzten Worte des Mädchens sind "vine, vine, criminalul" (er kommt, er kommt, der Verbrecher). Diese sprach sie, als sie von der Polizei auf dem Telefon zurückgerufen wurde. Mittlerweile wird davon ausgegangen, dass der Täter wenig später die Jugendliche tötete und in einer Metalltonne verbrannte.
Der Polizei gelang es erst gegen 2:30 Uhr am nächsten Morgen, den Aufenthaltsort von Alexandra herauszufinden, allerdings wartete sie bis 6:00 Uhr, um das Gelände des Gheorghe Dincă zu betreten, da dann erst ein Staatsanwalt die Erlaubnis erteilte. Dincă wurde auf dem Gelände angetroffen und stundenlang vernommen (offensichtlich unter Gebrauch von körperlicher Gewalt), wobei er zunächst die Tat leugnete.
Mittlerweile hatte ein Beamter der DIICOT im Zusammenhang mit dem Geschehen auch den Fall der bereits im April aus dem nahe bei Caracal liegenden Dorf Radomir, Gemeinde Dioști im Nachbarkreis Dolj verschwundenen 18-jährigen Mihaela Luiza Melencu aufgebracht und Dincă hierzu befragt. Die Schülerin war ebenfalls auf dem Weg nach Caracal verschwunden, wo sie Geld an einem Bankautomaten abheben wollte, das ihre in England arbeitende Mutter geschickt hatte. Melencu lebte bei ihren Großeltern und ging in Craiova auf die Schule. Nachdem sie nicht von ihrer Fahrt per Anhalter zurückkehrte, wandten sich die Großeltern an die Polizei, die diesen Fall sehr zögerlich behandelte. Auch in diesem Fall gab es einen Anruf, bei dem ein Mann erklärte, dass die junge Frau mit einem Freund in die Schweiz gegangen sei und es ihr gut gehe.
Als am 26. Juni diese Nachrichten bekannt werden, geht eine Welle der Empörung nicht nur durch die lokale Bevölkerung des Kreises Olt. Über das Internet und das Fernsehen verbreiten sich die aktuellen Informationen, es kommt nicht nur in Caracal zu spontanen Demonstrationen mit Hunderten von Beteiligten. Alexandra victimă voastră eroina noastră (A. euer Opfer, unsere Heldin), Alexandra a sunat, nimeni nu a acționat (A. hat angerufen, niemand hat gehandelt), Vrem dreptate (Wir wollen Gerechtigkeit), Iartă-ne Alexandra (Verzeihe uns, A.), Corupția ucide (Korruption tötet), Rușine (Schande) lässt sich auf den selbst gebastelten Plakaten und Bannern lesen. Vor dem Anwesen des vermutlichen Täters versammelt sich eine Menge, die Polizei und Justiz ausbuht und Lärm macht, als der Verdächtige abtransportiert wird.
In Fahrt gekommen, setzt der Skandal nicht nur ungehemmte Verdächtigungen, Spekulationen, Vorwürfe frei, sondern veranlasst die Entlassung sowohl des höchsten Polizisten des Landes wie auch einiger weiterer unmittelbar Beteiligter Polizisten wie auch aus der STS. Ohne Unterlass beschäftigen die Hintergründe und Versäumnisse der Institutionen sowohl Presse als auch das Internet. Befördert wird dies durch die weitreichende Untersuchung des Geländes, auf dem der Verhaftete die beiden Frauen nach eigener Aussage ermordet hat und möglicherweise noch weitere grausige Funde gemacht werden. In jahrelanger Tätigkeit hatte der 66-jährige Dincă ein unübersichtliches Labyrinth von Aufbauten, Kellern, Zimmern mit einem überwucherten Hof an einer Ausfallstraße von Caracal geschaffen. Dincă lebte von Klempnerarbeiten, illegalen Taxifahrten, Kleinhandel. Aufnahmen von Überwachungskameras zeigen ihn an jenem Morgen, als er die Jugendliche Alexandra gekidnappt hatte. Auf dem Gelände gefundene Knochen erwiesen sich als die Alexandras, andere außerhalb in einem Wald gefundene sind die einer 15-20-Jährigen, vermutlich die Luizas.
Die Ermittlungen finden statt in einer Atmosphäre des Misstrauens, da viele jetzt von einer bisher tabuisierten Existenz von kriminellen Clans mit sehr guten Verbindungen zu Polizei und Politik in den vernachlässigten Städten Südrumäniens sprechen. Caracal sei eines der Zentren des Menschenhandels in Südrumänien, in dem junge Frauen zur Prostitution in Europa gezwungen werden.
2019
Rumänien im Sommer (II)
China ist da
Foto: www.kultro.de
In der Stadt Piatra-Neamț am östlichen Karpatenrand hat die Neuzeit der Transition durchaus Einzug gehalten. Davon künden äußerlich eine riesige Carrefour-Mall, zwei große renovierte Hotelhochhäuser, eine Reihe von Einkaufsmöglichkeiten, ein zu aufdringlicher Autoverkehr mit fast nur neuen ausländischen Wagen, erneuerte Trottoirs, renovierte oder neu erbaute Villen in blühenden Vorgärten, ein blinkendes neues Fußballstadion, zahlreiche neu gebaute große Kirchen und manch anderes mehr.
Jenseits dieser ins Auge fallenden Neuerungen sind allerdings die Überbleibsel der Vergangenheit ebenso nicht zu übersehen. Im Stadtteil Dărmănești steht noch, was früher Orion hieß, eine nicht übermäßig große Betonburg als Einkaufscenter mit unterschiedlichen Geschäften und Dienstleistungen. Es führt uns die Suche nach einer Lego-Transformers-Figur in das Gebäude, das auch einen chinesischen Laden beherbergen soll. Es zeigt sich, dass das komplette Obergeschoss Verkaufslokal chinesischer Waren ist - günstige (oder billige) Jacken, Kleider, Spielzeug, Haushaltswaren, die zumeist aus Plastikkunststoff hergestellt sind. Geleitet wird der Laden offensichtlich von einem Asiaten und auch eine Verkäuferin scheint asiatischer Herkunft. Bei der Präsenz chinesischer Billigwaren weltweit ist daran sicher nichts Ungewöhnliches festzustellen. Überraschend wird es aber, wenn man dann an der gleichen Straße etwas stadteinwärts ein noch größeres Geschäft in einem neuen Betongebäude neben dem großen Kaufland-Einkaufszentrum findet. In dem ungelüfteten riesigen Raum riecht es penetrant nach Plastik, das Angebot ist von gehobenerer Qualität mit viel Kinderspielzeug. Und wirklich überrascht ist man dann beim Besuch eines weiteren Betonkomplexes gegenüber des alten Historischen Museums im Zentrum der Stadt, der ebenfalls bessere Tage gesehen zu haben scheint. Im obersten Stock neben einem Club findet sich ein chinesisches Geschäft, vor allem mit Sommerkleidung und Sportgeräten. Aber hatten wir nicht noch an einer zentralen Straße neben dem zentralen Einkaufszentrum am Hotel Plaza ein chinesisches Geschäft gesehen? Auch in diesem am sichtbarsten plazierten Magazin chinezesc finden sich all die Dinge, von denen man bisher nur vermutete, dass sie in China hergestellt wurden. Jetzt macht ein Blick im Geschäft klar, dass dies auch der Fall ist. Und die Krönung stellt die Verwunderung über einen kleinen Laden im Orion dar, dessen gehobene Ausstattung mit Kleidung und Spielzeug ihn erst auf den zweiten Blick als chinesische Verkaufsstelle entpuppt. Ganz anders ist hier die Präsentation der Einzelstücke, qualitativ heben sich die Kleidungsstücke von den bisher gesehenen chinesischen Waren ab und fallen gegenüber denen in nichtchinesischen Läden kaum auf. Die gesuchte Transformers-Figur findet sich leider nirgends.
Alle diese chinesischen Läden haben wegen ihrer unterschiedlichen Präsentation und Niveaus ihre Kundschaft, günstige Produkte finden für eine bestimmte Käuferschicht immer Kaufwillige. Dass diese Nachfrage in der rumänischen Provinz fast ausschließlich aus chinesischer Herkunft gedeckt wird, macht deutlich, wie sehr das Modell des fernöstlichen kommunistischen Staates mit der ultrakapitalistischen Wirtschaft bereits die ausufernden Basare der Nachwendezeit Osteuropas (von denen es auch einen am Rande der Stadt gibt) verlassen und sich nun auf die nicht nur unteren Preissegmente fast aller Waren des täglichen Bedarfs ausgebreitet hat. Piatra-Neamț hat jedenfalls mindestens 5 große solcher chinesischer Verkaufsstellen vorzuweisen - und man braucht nicht viel Phantasie für die Annahme, dass es in zahlreichen rumänischen Städten auf dem Land nicht sehr viel anders aussieht. Und auf dem Markt der Stadt mit seinen zahlreichen Ständen und Geschäften erwecken jetzt auch billige Plastikwaren unsere besondere Aufmerksamkeit.
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Neversea, Untold, Afterhills, Electric Castle - Markennamen im trendigen Englisch? In gewisser Weise schon. Aber nicht Gegenstände als Waren sind hier gemeint, sondern Dienstleistungen oder genauer künstlerische Darbietungen - es handelt sich um die Namen von Megamusikfestivals in Rumänien. Spätestens fünfzig Jahre nach Woodstock, der Mutter aller Rockfestivals, hat der internationale Markt für solche Veranstaltungen auch Rumänien entdeckt. Landesweit werben die Medien für UNTOLD und Electric Castle in Cluj (Klausenburg), die große Besucherzahlen in die Universitätsstadt im Norden Siebenbürgens anlocken. Electric Castle findet beim Banffy Schloss in Bonțida statt und hat seinen Namen wegen der eher an elektronischer Musik orientierten Ausrichtung. Hauptact waren Mitte Juli neben dem DJ Nils Frahm und rumänischen Musikern wie Subcarpați, der Heldin älterer Generationen Loredana, den Berlinern Zmei3 auf der zentralen Bühne Florence and the Machine und Thirty seconds to Mars, aber auch die Rockband Limp Bizkit aus den USA. Ihr Konzert war mit 50000 Fans ausverkauft, an den 5 Tagen waren etwa 200000 auf das Gelände mit 10 Bühnen einige Kilometer von Cluj entfernt gekommen, was natürlich ein riesiges Transportchaos verursachte. Ansonsten versucht dieses wie die anderen Festivals als "grün" rüberzukommen - von Lidl (!!) gesponsert wurde eine Eco-Bühne und ein Mülltrennungsverfahren. Der Discounter festigt damit in Rumänien sein Image als Mittelklassesupermarkt. Ansonsten bot das Festival zahlreiche Möglichkeiten zu kreativen Aktivitäten.
Noch mehr Besucher zieht UNTOLD in Cluj an: Die Festivalorganisatoren nannten dieses Jahr 372000 Besucher an 4 Tagen zu dem im Zentrum der Stadt und vor allem im Fußballstadion auf 10 Abspielstätten (darunter ein Tramwaggon!) angesiedelten Musikereignis. Headliner waren in diesem fünften Jahr der Veranstaltung der Sänger Robbie Williams und die Star-DJs Paul Kalkbrenner, David Guetta, Armin van Buuren, aber auch Alt-Rapper Busta Rhymes oder der rumänische Star Smiley. Eine spektakuläre Lightshow zum Finale ließ das Stadion aufblitzen und erglühen.
UNTOLD setzt bei seinem Vermarktungskonzept vor allem auch auf die Wirkung in die Stadt hinein, indem es aus dem Erlös sowohl den benutzten Park neu bepflanzt als auch Kinderspitäler und andere soziale Einrichtungen mit neuer Ausstattung versieht. 20% der BesucherInnen kommen aus Cluj, 20% aus dem Ausland, der Rest aus Rumänien, teilen die Veranstalter mit. Und lassen in der Stadt eine durchaus meßbare ökonomische Spur hinter sich. Im Ansturm der Massen von Zuschauern können luxuriöse Studentenwohnungen schon einmal für über 1000 Euro vermietet werden. Allerdings sieht sich das Festival wegen seiner Größe und der mitten in der Stadt in einem Park aufgebauten Bühnen auch mit kritischen Kommentaren konfrontiert.
Am Meer in Constanța findet Neversea statt, nach eigener Einschätzung das "größte Strandfestival Europas". Hier dominieren am Stadtstrand unterhalb der Uferklippe Constanțas elektrische DJ-Musik bis in den späten Vormittag, sportliche Aktivitäten, Wasser, Sonne. Einige Bühnen sind auf dem Wasser installiert. Die Reihe der DJs ist endlos für die 4 Tage Unterhaltung, deren musikalische Darbietungen vor allem nachts durch permanente Light-und Lasershows sich ins Gedächtnis einschreiben. Unter den Acts sind Sean Paul, die junge rumänische Band The Motans, das Hip-Hop Urgestein Paraziții.
Noch nicht beendet ist das Afterhills Festival in Iași, das vor allem am Wochenende stattfindet. Es startete am 23. August auf 5 Bühnen und wird am 1. September enden. Am ersten Wochenende zog es 67000 Besucher an, als der Topact auf der Bühne stand - die englische Pop-Sängerin Rita Ora. In Dobrovăț bei Iași auf einem Wiesengelände zwischen den Hügeln finden unter der Woche vor allem familienfreundlichere Formen der Unterhaltung statt, Kino, Comedy, Graffiti-Painting, Klettern, Tanzen und einige DJ-Acts. Das Festival im dritten Jahr ist das größte der Moldau. Am letzten Wochenende sind u.a. Morcheeba und Les Elephants Bizarres oder auch Subcarpați die Highlights.
Aber nicht nur diese Festivals fanden ihr zahlreiches Publikum: In Bukarest traten im neuen Nationalstadium die Alt-Rocker von Metallica und vor dem Parlamentspalast Bon Jovi vor jeweils mehreren Zehntausenden Fans auf - Open-Air allerorten.
2019
Rumänien im Sommer (I)
Impressionen und Splitter
Fotos: www.kultro.de
Der globale Klimawandel hat (natürlich) auch Rumänien erfasst: Dauerregen, Überschwemmungen, Unwetter, Orkane, Temperaturrekorde und abrupte -stürze prägen das Wetter seit Wochen. Das frühere Kontinentalklima mit ziemlich stabilem heißem Sommerwetter von Mai bis Oktober - höchstens unterbrochen von kurzen Unwettern - gehört der Vergangenheit an. Unberechenbar sind die Vorhersagen, dauernder Wechsel wo früher Stabilität den Sommer zu einer unendlich wirkenden Jahreszeit machte. Immerhin lässt der Regen das Land grün erscheinen. Eine ganz neue Erfahrung: Die stundenlange Eisenbahnfahrt von Bukarest ins nur 350 Kilometer entfernte Piatra-Neamț am östlichen Karpatenrand führt nicht wie üblich durch eine verbrannte braun-schwarze Landschaft, sondern durch grüne Hügel und Ebenen.
Diese Veränderung ist natürlich auch im Land nicht unbemerkt geblieben. Ein Taxifahrer in Bukarest stellt fest: "Die Jahreszeiten sind zerstört!" Ein Fahrer in Piatra-Neamț glaubt, dass dies durch "die Raketen" verursacht worden sei. Auf die Entgegnung, dass vor allem die Industrie und der Autoverkehr die Atmosphäre zerstören, meint er sarkastisch: "Industrie haben wir nicht, da sind wir aus dem Schneider."
Das immer wieder wechselnde Wetter und der immer wieder auftretende Starkregen begleiten den Aufenthalt über Wochen hinweg.
Dass das Autofahren mit diesem Klimawandel direkt zu tun hat, setzt sich allmählich als Bewusstsein durch. Ganz erstaunt ist man, wenn man vom Taxifahrer in Bukarest hört: "Es gibt zu viele Autos in der Stadt!" Das ist nicht unbedingt auf die Umweltzerstörung gemünzt, aber dennoch ein vorher nie gehörtes Statement. In der Tageszeitung Adevărul weist ein Kolumnist auf die Situation in Bukarest hin, dessen Luft nach einer von der Stadt veröffentlichten Studie seit Jahren hoch verschmutzt und krebserregend sei. Als Konsequenz müssten eigentlich alle Autos mit Diesel Euro 3 und 4 verboten werden, wenn man die Hauptursache der Verschmutzung beseitigen möchte, wie es die EU verlangt.
Keine leichte Aufgabe, denn Autofahren (vor allem mit großen Protzautos) gilt schließlich in Rumänien weitgehend als sakrosankt. Entsprechend haben FahrradfahrerInnen und FußgängerInnen einen schweren Stand, wenn etwa die Trottoirs quer bis zur Hauswand zugeparkt werden. In den Dörfern wird das Tempolimit nur selten eingehalten, ausgebaute Straßen, die für FußgängerInnen nur schwer zu überqueren sind, teilen die Ortschaften in zwei Hälften. Das Rasen mit den PS-starken ausländischen Wagen ist ein Volkssport vor allem jüngerer Männer, der immer wieder hohe "Opfer" produziert. Deren genaue Zahlen blieben bisher weitgehend im Dunkeln, jetzt schreibt die Zeitung Evenimentul zilei, dass Rumänien nach einer EU-Studie die höchsten Todeszahlen im Straßenverkehr habe: 96 Tote auf 1 Million Einwohner, während es in Großbritannien "nur" 28 sind. (Deutschland liegt auf dem 21. Platz (bzw. 8. Platz mit den wenigsten "Opfern")). Die Zeitung nennt als Ursache die schlechten Straßen (und wirbt so für den Bau von Autobahnen) und die Überschreitung der angemessenenen Geschwindigkeit. Letztere ist immer wieder zu beobachten, gepaart mit unvorstellbaren Fahrmanövern. So bremst in einer Ortschaft in einer scharfen Rechtskurve der Fahrer eines regulär verkehrenden Minibusses nicht hinter einem Pferdewagen, sondern überholt als gerade ein großer Lkw entgegenkommt - Verantwortungsbewusstsein à la roumaine. Ein anderer Minibusfahrer fängt irgendwann an, auf dem Handy zu tippen - nicht um zu telefonieren, sondern um Textnachrichten zu schreiben. Zu diesen selbst erlebten Fällen addieren die Medien die drastischen Nachrichten von Unfällen mit vielen Toten.
Lieblingsthema der Lokalpolitiker in der Moldau und Siebenbürgen hingegen ist der Bau von Autobahnen. Während nach einigen schlechten Erfahrungen mit ausländischen Firmen viele Rumänen glauben, es gäbe überhaupt keine Autobahnen im Land und jede Verzögerung oder Schwierigkeit beim Bau in den Zeitungen als Bestätigung hierfür gilt, sind dennoch bereits nicht wenige Kilometer in die Landschaft gefräst worden. Allerdings nicht in der Moldau, deren Wirtschaft von der Politik in Bukarest dringend eine Verbindung über die Karpaten nach Târgu Mureș in Siebenbürgen verlangt. Das bisherige Scheitern dieser Forderung ist für die Moldauer ein weiterer Baustein für das Bild der Vernachlässigung der Moldau durch die Regierung in Bukarest, für die Rückständigkeit der Region, Anlass für die Verachtung der Politiker, etc. Bei dieser ökonomisch an steigender Produktivität und wachsendem Gewinn orientierten Forderung wird die daraus folgende Zerstörung der bisher weitgehend intakten Landschaft der Karpaten meist mit keinem Wort erwähnt.
Welche Folgen der motorisierte Individualverkehr haben kann, zeigt die Straße zwischen Târgu Neamț und Iași. Die Metropole der Moldau zieht unweigerlich große Verkehrsströme an und wächst entlang der E 58 nach Westen. Hier haben sich im Laufe der letzten 15 Jahre nicht nur Metro oder Carrefour auf der flachen Wiese des breiten Tals Richtung Târgu Neamț angesiedelt, es sind zahlreiche Autohäuser, Verkaufslager, Supermärkte, hinzugekommen. Und entsprechend steigt der Verkehr auf der teilweise zweispurigen Straße an. Welche Folgen Unachtsamkeit, Verantwortungslosigkeit, Hektik und Stress der FahrerInnen dabei entfalten können, zeigen die bereits verwitternden Kreuze an beiden Fahrbahnrändern - es vergeht kaum ein Monat, an dem auf dieser Strecke nicht ein Mensch stirbt. Oft sind es Fußgänger, die in dem Iașier Ortsteil Valea Lupului die Straße überqueren wollen. Auf den 50 Kilometern von Târgu Frumos bis Iași ließen sich vor einigen Jahren allein 16 Kreuze aum rechten Straßenrand zählen, die Zahl der "Opfer" dieser "Todesstrecke" liegt natürlich weit höher.
Vom wachsenden Autoverkehr nicht verschont bleiben auch die touristisch interessanten Ziele. Das so idyllisch am Rande der Berge in der Bukowina gelegene Gura Humorului verzeichnet im Zentrum während der Arbeitswoche einen solchen Verkehr von Besuchern in Bussen, von Einheimischen, Wirtschaftsfahrzeugen, etc., dass von einem "Luftkurort" kaum noch die Rede sein dürfte. Vor allem ist es der Schwerlastverkehr von Lkws und Transportern, der den Aufenthalt im Zentrum eher als lautes Spektakel in Abgaswolken denn als Erholung erleben lässt. Einer der Gründe dieser Ballung liegt in der Tatsache, dass es keine Straßenalternative aus dem Tal von Câmpulung Moldovenesc nach Osten Richtung Iași gibt.
So bleibt der Autoverkehr eines der Probleme in einer Region, deren landschaftliche Schönheit nur bewahrt werden kann, wenn nicht versucht wird, diese der bequemen Erreichbarkeit und Zugänglichkeit zu opfern - während zugleich die wachsenden Chancen des EU-Staates auf ökonomischem Gebiet den Ausbau des Straßennetzes unausweichlich zu machen scheinen.
In diesem Zusammenhang wurde bisher das Eisenbahnnetz kaum genannt. So überrascht es, in der Tageszeitung Adevărul eine Meldung zu finden, die den Niedergang der CFR (Câile Ferate Române - Rumänische Eisenbahnen) konstatiert. Anlass ist eine neue Studie des Transportministeriums, nach der in den vergangenen 20 Jahren die Infrastruktur der staatlichen Bahngesellschaft kontinuierlich vernachlässigt worden sei und diese daher erheblich an Kunden verloren habe. Die geringe Geschwindigkeit aufgrund der schlechten Schienenverhältnisse und die ebenfalls aus der schlechten Infrastruktur resultierende Unpünktlichkeit seien die Hauptgründe für das geringe Nutzeraufkommen. Die Misere gehe aber letztlich vor allem auf die chronische Unterfinanzierung seit 1990 zurück.
In der Tat stellt die rumänische Bahn ein spezielles Vergnügen dar: War vor 20 Jahren die Fahrt von Bukarest bis Iași (400 km) eine 6-stündiges Dahinkriechen, so bestand doch die Hoffnung, dass in der Zukunft diese Fahrzeit auf vielleicht 5 oder gar 4 1/2 Stunden reduziert werden könnte. Mittlerweile dauert diese Fahrt aber fast 7 Stunden! Und die jetzt häufigen und gut gefüllten Flüge brauchen dafür nur 1 Stunde. Wie sehr das Zugfahren ins Hintertreffen geraten ist, zeigt die Tatsache, dass die CFR es für nötig hält, Plakate in den Zügen anzubringen, auf denen klargestellt wird, dass man für die Zugfahrt eine Fahrkarte braucht und dass bestimmte Regeln zu befolgen sind. Dennoch gelingt es immer wieder, mit dem Schaffner "Deals" zu beiderseitigem Vorteil (und Nachteil der CFR) zu vereinbaren. Im Zug von Câmpulung Moldovenesc nach Gura Humorului fängt eine Reisende eine lautstarke Diskussion mit dem Schaffner an, weshalb so wenige Wagen für die zahlreichen Reisenden bereit gestellt werde, während auf anderen Strecken die Züge nicht so überfüllt seien. Sie fordert bessere Versorgung durch die Bahn, worauf der Schaffner nur wenig zu antworten weiss. Ein deutliches Zeichen für die beginnende Veränderung des Denkens könnte das Wiederaufkommen des Fahrrads im Nahbereich darstellen. Überall sind jüngere Menschen mit neuen Fahrrädern unterwegs. Selbst die zunächst eher wie ein Feigenblatt für eine verfehlte Verkehrspolitik wirkenden grünen Radstreifen in Bukarest machen mittlerweile Sinn, da sie von zahlreichen bicicletiști benutzt - und vielfach auch von den AutofahrerInnen respektiert werden.