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Wiederholung der Wahl zum Präsidenten am 4. Mai 2025
Der nachträglich vom Verfassunggericht CCR für ungültig erklärte Wahlprozess 2024 zur Wahl des rumänischen Staatspräsidenten wird am Sonntag, 4. Mai 2025, wiederholt. Der mögliche zweite Wahlgang ist für den 18. Mai vorgesehen. Dies erklärte der amtierende Ministerpräsident Marcel Ciolacu (PSD). Zugleich erwähnte der Politiker, dass verschärfte Strafen für die Nichtbeachtung der Wahlvorschriften eingeführt werden. Der Sieger des ersten Wahlgangs der annullierten Wahl, Călin Georgescu, scheiterte mittlerweile definitiv mit seiner Klage gegen die Ungültigkeitserklärung der Wahl 2024. Ob der Rechtsextreme sich wieder zur Wahl stellen wird, scheint noch offen.
Welche PolitikerInnen zur Wiederholung der Wahl im Mai antreten werden, ist auch in vielen Parteien noch ungeklärt. Voraussichtlich wird die Regierungskoalition aus PSD und PNL den früheren PNL-Politiker Crin Antonescu aufstellen. Für die USR, deren Präsidentin Elena Lasconi bei der annullierten Wahl die Stichwahl erreichte, könnte der Bürgermeister von Bukarest, Nicușor Dan, ins Rennen gehen. Er hat sich als unabhängiger Kandidat aufgestellt, während in seiner Partei noch diskutiert wird, ob Dan oder Lasconi antreten soll.
Spuren der Verschwundenen
Eine außergewöhnliche Studie zur "Umsiedlung" der Bessarabiendeutschen
In den Geisteswissenschaften gibt es eine Darstellungsform, die nicht primär aus dem Thema oder Gegenstand der Forschung abgeleitet wird, sondern die den/die Forschende/n selbst als Ausgangspunkt für die Darstellung des Gegenstands nimmt: In der Thematisierung der eigenen Motivation, des Vorgehens, der gewählten Methode und des Gangs der Recherche und Darstellung gewinnt diese Variante eine große Unmittelbarkeit und Nähe zu den Umständen, unter denen Wissenschaft "gemacht" wird und ihre Resultate entstehen. Es ist sicher nicht unangemessen, auch die große Studie von Susanne Schlechter über verschwundene kranke Umsiedler aus Bessarabien unter diese zweite Darstellungsform einzuordnen. Denn nicht nur in der umfangreichen Einleitung, sondern auch im Fortgang der Arbeit wird immer wieder die wissenschaftliche Spurensuche mit den eigenen Umständen und Voraussetzungen reflektiert/kontextualisiert und das Wachstum der Quellen und Informationen sowohl mit der vorgenommenen Aufgabe als auch zu neuen Fragestellungen in Bezug gesetzt. Dass bei diesem Vorgehen sich Redundanzen und auch überflüssig erscheinende Hinweise (wie etwa die Abbildung des Berichts einer Lokalzeitung über die Arbeit der Doktorandin) einschleichen, ist ein angesichts des Gewinns ein zu vernachlässigendes Monitum.
So beginnt das Buch mit einer Skizzierung des "kulturellen Kontexts", in dem Gegenstand und dessen Erforschung zu situieren sind. Sie lassen sich allgemein mit einem "Unbehagen an der Erinnerungskultur" (Aleida Assmann) bezeichnen, ein Unbehagen, das auch unmittelbar die Autorin betraf. Die Studie entstand während eines langen Zeitraums, von 2007 bis 2017, und hatte einen noch längeren Vorlauf – denn der Autorin Interesse an der Frage der Umsiedlung und den Euthanasiemorden rührte aus der Familiengeschichte: Der Großvater war 1940 aus Bessarabien umgesiedelt worden, aber in Westpreußen in einer Heil-und Pflegeanstalt "zu Tode gekommen". 14 Jahre sammelte die Autorin bereits zu diesem Fall. Sie arbeitete als Leiterin einer "kleinen NS-Gedenkstätte auf dem Gelände einer psychiatrischen Klinik in Wehnen bei Oldenburg" (15)" – ein prekäre Absicherung für eine aufwendige wissenschaftliche Arbeit. Allerdings war es auch der Ort, an dem 2005 eine Besucherin der Autorin den Nachlass ihrer Mutter, einer NS-Schwester, die an der "Umsiedlung" beteiligt gewesen war, zugänglich zu machen begann. Mit einem kleinen 6-monatigen Stipendium konnte die Autorin diese Dokumente bearbeiten. Sie sind im Quelleninventar des Bandes abgedruckt und beschrieben, so dass die Seiten 383 bis 640 als umfangreiche Edition dieses Nachlasses der NS-Schwester Dorothee Rakow/Körten fungieren.
Diese Arbeit war das erste von 4 Modulen der Förderung durch die Beauftragte der Bundesregierung für Kultur und Medien (BKM), in denen Schlechter bis 2010 ihre Forschungen durchführte. Danach dauerte es noch einmal mehrere Jahre bis neue Literatur ihr Thema veränderte und die Ergebnisse in anderem Licht darstellten, so dass das jetzige voluminöse Buch einen Schlusspunkt unter eine lange "work in progress" darstellt.
Rechtsradikale Umtriebe um den Präsidentenkandidaten
Die aufsehenerregenden Vorgänge um die gescheiterte Wahl des Staatspräsidenten in Rumänien haben auch die Behörden veranlasst, die unübersehbaren Aktivitäten von rechtsextremen und neo-legionären Gruppen und Personen ans Licht zu bringen. Was Publizisten wie William Totok seit Jahren beobachten und in ihren Folgen beschreiben (halbjahreschrift.blogspot) hat es nun nicht nur in die rumänischen Medien geschafft, sondern die Staatsanwaltschaft selbst hat die Maskierten der Jandarmeria, Polizei und DIICOT (Direcția de Investigare a Infracțiunilor de Criminalitate Organizată și Terorism; Direktion zur Untersuchung von Verbrechen der Organisierten Kriminalität und Terrorismus) losgeschickt, um Beweise zu beschlagnahmen und Akteure zu verhören.
Am 7.12.2024 wurde in Brașov (Kronstadt) die Wohnung des in den veröffentlichten Geheimdienstdokumenten genannten Bloggers Bogdan Peșchir (bogpr) durchsucht. Der frühere Programmierer und Mitarbeiter einer Kryptowährungsfirma in Südafrika hatte mehr als 1 Million Euro in die TikTok-Werbung für den Kandidaten Georgescu investiert – z.T. noch nach Schließung der Wahllokale – und dem weitgehend unbekannten Kandidaten eine Sichtbarkeit aufgebaut, die nur durch den Algorithmus vorgespiegelt wurde. Dies sei nicht mit den rumänischen Wahlgesetzen vereinbar, auch weil Georgescu seine Wahlkampfkosten mit 0 angegeben hatte. Die Geheimdienste beschreiben Peșchirs Lebensstil als nicht mit seinem Einkommen übereinstimmend. Peșchir verglich sich in einer Nachricht mit Elon Musk: Er habe wie dieser lediglich seinen präferierten Kandidaten unterstützt.
Noch drastischeres Licht fällt auf Georgescu durch eine weitere "afrikanische" Verbindung. Videoaufnahmen belegen, dass der Kandidat am 7.11.2024 auf einem Pferdehof bei Bukarest eines Bekannten den Ex-Fremdenlegionär und Anführer einer in Afrika aktiven Söldnertruppe, Horațiu Potra, getroffen hat. Ebenfalls anwesend war der Neo-Legionär Eugen Schila. Später leugnete der Kandidat, Potra zu kennen, er habe von ihm lediglich gehört. Potra hat in den vergangenen 20 Jahren fast in jedem der blutigen Konflikte in afrikanischen Staaten eine Rolle gespielt und entsprechende Verbindungen bis in die Politik. Es wird spekuliert, ob er nicht auch solche zur russischen Gruppe Wagner unterhält.
Potra wurde am Morgen darauf mit 20 seiner Angestellten von der Polizei gestoppt, als sie mit Waffen wie Messer, Machete, Schlagstöcke und Pistole auf dem Weg nach Bukarest waren, wo sie offenbar gegen Protestierende am Piața Universității vorgehen wollten. Nach 3 Tagen in Polizeigewahrsam wurde Potra mit einem elektronischen Überwachungsband und der Auflage, den Kreis Sibiu nicht zu verlassen, entlassen. Potra hatte in seiner Heimatstadt Mediaș mit nur wenigen Stimmen Abstand die Bürgermeisterwahl verloren. Er verfügt laut Eigenauskunft für seine lokalpolitischen Aktivitäten über ein großes Vermögen an Immobilien, Gold und Finanzmitteln.
Eugen Schila, Leibwächter Georgescus und ebenfalls früherer Fremdenlegionär, ist ein Anhänger der faschistischen rumänischen Legion des Erzengels Michael, der in der Dobrogea Kinderlager zur Manipulation der Teilnehmenden im Sinne dieser Ideologie veranstaltet. An solchen sollen auch Kinder von Georgescu teilgenommen haben, der 2020 ebenfalls Sympathien für die rechtsextreme Legion geäußert hat. Schila tritt mit verbotenen Abzeichen der Legion auf und agitiert im Internet für die Gruppe "Gogo-Puiu Haiducii Dobrodgei" (nach einem Legionär benannt). Der orthodoxe Bischof von Constana, Teodosie unterstützt öffentlich diese neolegionäre Gruppe, wie auch einige Priester und Mönche gegen die Anordnung der Kirchenspitze Georgescu unterstützen.
Diese Einblicke werfen auch ihr Licht auf die Erinnerung an den Gründer Corneliu Z.Codreanu, der im November 1938 an einer Straße bei Bukarest auf Anweisung des Königs Carol II. zusammen mit einigen seiner Genossen getötet wurde. Unverblümt traten kürzlich an dem Ort Anhänger des Legionsgründers auf und zeigen dort verbotene Abzeichen und den verbotenen faschistischen Gruß. Auch die frühere AUR-Politikerin und skandalträchtige Impfgegnerin Diana Șoșoacă (S.O.S.) war vor den Wahlen dort und hat ihre Verehrung für Codreanu geäußert. Georgescu hat 2020 im Gespräch mit einer Vertreterin der Neolegionären gesagt, die Legion sei "die stärkste Essenz und Ausdruck der Gesundheit und des eigenen Willens des rumänischen Volkes" gewesen.
Es scheint mittlerweile nur noch schwer vorstellbar, dass dieser Kandidat noch einmal sich zur Wahl des Staatspräsidenten aufstellen kann.
Benjamin Fondane
Von der Physiognomie des XX. Jahrhunderts
Foto: Man Ray (1926)
Auf Benjamin Wechsler aufmerksam zu machen, heisst in Deutschland auch 80 Jahre nach seiner Ermordung in Auschwitz weitgehend einen Unbekannten vorzustellen. Während in seinem Geburtsland Rumänien allmählich die Bedeutung des in Iași geborenen Dichters, Filmemachers, Philosophen – in der Literatur bedeutendster Sohn dieser Kulturmetropole – anerkannt wird, findet vor allem in Frankreich seit längerem eine kontinuierliche Beschäftigung mit dem auf Französisch hervorgetretenen Autor statt – einem Autor und Denker, der in seinem breiten Schaffen eine Vielzahl von Antrieben, Impulsen, Überzeugungen vereinigte, denen er in seinem eigensinnigen Leben seit der Jugend nachging.
Es begann mit Gedichten zur jüdischen Umwelt, in die er 1898 hineingeboren wurde. Wechsler war eine Art literarisches Wunderkind, geboren in eine jüdische Familie, die mütterlicherseits berühmte Gelehrte der Familie Schwarzfeld hervorgebracht hatte. Mit 14 erschienen bereits erste Verse, mit 16 schrieb er in der von A. Steuerman-Rodion, einem Freund der Familie, herausgegebenen Zeitschrift Versuri și proză; der Jugendliche übersetzte aus den europäischen Sprachen und war bald ständiger Gast der zahlreichen Zeitschriften in der lebhaften intellektuellen jüdischen Atmosphäre von Iași - nicht nur mit Lyrik, sondern auch Prosa, Feuilletons, Berichten, Essays vor allem aus der jüdischen Welt, über Palästina, Bolschewismus, Zionismus, Jiddischismus (gesammelt in B. Fundoianu: Iudaism și elenism). Aus den anfangs zahlreichen Pseudonymen Wechslers kristallisiert sich "Fundoianu" heraus, benannt nach einem kleinen Landgut der begüterten Familie bei Herța. 1919 interviewt Fundoianu Arnold Margoline, den Vizeaußenminister der kurzlebigen unabhängigen Ukraine Petljuras über die Lage der Juden dort. 1916 erscheint in Hatikvah ein Zyklus mit biblischen Themen. Mit 19 Jahren schreibt er die Gedichtfolge Herța, in der die Stimmungen des ländlichen Shtetls mit seiner Bevölkerung aus Rumänen und Juden, Bauern und Kleinbürgern lesbar werden:
Mit gelben Schuhn sind Gänse um den Zaun geprescht;
du hörst jetzt, wie der Regen die Petroleumlampe löscht,
wie in der Bronzeglocke die Zeit vom Blatte frißt –
du hörst das lange Schweigen, das grau der Herbst schon ist,
und auch die Kutsche kommend aus Richtung Dorohoi.
Die Büffelherden steigen aus der Ebne ödem Brei,
und wie sie brüllen, die Köpfe gewandt als ob sie saugen –
der Marktflecken, voll Angst, brüllt mit blutigroten Augen.
(Übers.: Franz Hodjak)
Fundoianu studiert nach dem Krieg Jura in Bukarest, pflegt die bereits in Iași geknüpften Freundschaften mit der aufkommenden Avantgarde, publiziert im symbolistischen Sburătorul literar, der Zeitschrift des Kritikers Eugen Lovinescu, aber auch in Marcel Iancus Contimporanul, dem Blatt der Moderne. Einen Teil seiner zahlreichen Kritiken und Essays publiziert der ungeduldige und scharf urteilende Dichter 1922 in einem nicht zufällig den Titel Imagini și cărți din Franța (1922) tragenden Band, der bereits auf die starke Beeinflussung durch französische Vorbilder und die Orientierung nach Westen hinweist. Fundoianus Freunde sind die Avantgardisten Ion Vinea, Stefan Roll, Sașa Pană, Brunea-Fox, Ilarie Voronca. Die wegen ihrer Seltenheit heute legendären Zeitschriften Integral, 75HP, Unu, halten die erregendsten und radikalsten neuen Formen und Ideen bereit, an denen Fundoianu Anteil nimmt: "Exzess – die einzige Möglichkeit neu zu sein".
Außerdem eröffnet der Avantgardist mit Freunden und der Schwester Lina und deren Mann Armand Pascal ein avantgardistisches Theater, Insula. Das Theaterexperiment scheitert bald an mangelndem Geld und Publikumsinteresse und Fundoianu sieht als einziges Fenster aus dem grassierenden Antisemitismus an der Universität die Migration nach Paris. Er war sich bewusst, dass „die Fremde die erste Nachwelt bedeutet.“ Nicht wenige seiner Freunde wie Victor Brauner, Claude Sernet (Mihai Cosma), Ilarie Voronca, sollten diese Option wählen. Fundoianu kommt zunächst bei dem Bruder des Schriftstellers Remy Gourmont als Bibliothekar unter, arbeitet später für eine Versicherungsfirma, aber schreibt weiter vor allem auch für die rumänischen Avantgardezeitschriften. 1930 erscheint sein noch in Rumänien geschriebener Gedichtband Priveliști (Landschaften) – einer der markantesten jener Epoche mit zwischen 1917 und 1923 geschriebenen Gedichten, darunter der Zyklus Herța. Brâncuși hat die Priveliști mit einem Porträt Fondanes illustriert.
Mittlerweile hatte in Paris der Dichter eine Anstellung bei der Filmgesellschaft Paramount gefunden, was ihn einerseits eine neue Kunstform – ciné-poèmes – erfinden ließ, aber auch in eigenen Regiearbeiten resultierte, die ihn nach Argentinien führten. Fondane, wie nun sein Name lautete – verheiratet mit Geneviève Tissier (Trauzeugen waren Brâncuși und der exilierte russische Philosoph Leo Shestov) – nahm 1933 an der Verfilmung des Romans Rapt von Jean Giono mit dem deutschen Star Dita Parlo teil. Vorher hatte er auf Einladung der Schriftstellerin Victoria Ocampo bereits in Argentinien Filme der französischen Avantgarde vorgestellt, 1936 verfilmt er dann in Südamerika Tararira, einen satirischen Stoff aus dem Milieu der populären Musik und Tangos, von dem allerdings nur wenige Sequenzen erhalten sind.
In den 1930er Jahren nimmt Fondane intensiv an den Debatten um die politische Ausrichtung der Avantgarde teil. Er kritisiert bestimmte Aspekte des Surrealismus, der sich an konkrete Parteiforderungen gebunden hatte und dadurch viele AnhängerInnen verliert. Zugleich formuliert Fondane Positionen gegenüber der Politisierung der SchriftstellerInnen, wie sie auf dem Internationalen Schriftstellerkongress 1935 in Paris gefordert wird – sein Kongressbeitrag Der Schriftsteller vor der Revolution wird allerdings verhindert und erst postum veröffentlicht. Fondane bewegt sich dissidentisch am Rande der Debatten und publiziert vor allem in den Cahiers du Sud, aber auch in zahlreichen, oft kurzlebigen Zeitschriften. In Buchform erscheinen der vielbeachtete polemische Essay über Rimbaud, le voyou (1933), die Aufsatzsammlung La conscience malheureuse (1936) und der Essay Faux traité d'estéthique (1938) über die Rolle der Dichtung in der Moderne. Dazu erscheinen in kleinen Ausgaben Gedichtzyklen wie Ulysse (1933), Titanic (1937); L' Exode wird nur in Fragmenten in klandestinen Zeitschriften der Résistance ediert, bevor es Fondanes Freund Claude Sernet 1965 postum publiziert.
Unterlegt sind seine engagierten und kritischen Darlegungen mit Reflexionen der existenzialistischen Philosophie von Leo Shestov. Exiliert aus der Sowjetunion hat dieser Denker durch seine Schriften einen wachsenden Einfluss in Europa ausgeübt, die von Kierkegaard über Dostojevskij bis zu Husserl und Heidegger die prekäre Existenz des modernen Menschen nach dem postulierten Ende der Religion thematisieren. Aufsätze widmet Fondane Heidegger und Husserl, Baudelaire und Shestov. Fondanes engagierter Skeptizismus lässt sich an Gedichten wie Ulysse, Titanic, Exodus, überprüfen, die zugleich die Bedrohung jüdischer Existenz aufgreifen. Walter Benjamin schreibt anerkennend über den naturalisierten Franzosen mit rumänischer Herkunft, Fondane hat einen weiten Bekanntenkreis innerhalb der französischen Geisteswelt und den Exilcommunities.
Mit dem Beginn des Zweiten Weltkriegs nahm der inzwischen naturalisierte Franzose aus Iași an der drôle de guerre teil, wird gefangengenommen, kommt wieder frei. Möglicherweise floh er danach in den noch unbesetzten Süden Frankreichs oder hielt sich länger in Paris auf. Fondane publizierte und schrieb weiter, besaß Kontakte zur Résistance und lernte auch Emil Cioran kennen. Ein später Text ist dem rumänischen Philosophen Ștefan Lupașco gewidmet. Beide und auch Jean Paulhan, Herausgeber der Revue Française, setzen sich für Fondane ein, als dieser im März 1944 aufgrund einer Denunziation in Paris verhaftet und in das Deportationslager Drancy gebracht wird, wo bereits seine Schwester Lina interniert ist. Es gelingt den Freunden, für Fondane die Deportation zu verhindern, aber der Philosoph verweigert diese Rettung, als absehbar wird, dass Lina nach Auschwitz deportiert wird. Beide werden im Konvoi 75 am 30. Mai 1944 nach Auschwitz verbracht und ermordet. Ein Überlebender bezeugt, dass der Dichter eine unerschütterliche Haltung bewahrt habe und am 2. oder 3. Oktober 1944 in der Gaskammer starb.
Zahlreiche seiner Texte wurden postum publiziert, in Frankreich widmen sich die Société d'étude Benjamin Fondane und die Association Benjamin Fondane der Erforschung und Erinnerung an der außerordentlichen, im Land der TäterInnen auch 80 Jahre nach seinem Tod immer noch unbekannten geistigen Gestalt Benjamin Fondanes, die der jüdischen Welt der rumänischen Moldau entsprang.
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Auf Deutsch erschienen:
Rimbaud, der Strolch und die poetische Erfahrung.
Hg. von Michel Carrassou. Übertragen von Michaela Meißner. Matthes & Seitz Verlag, München 1991
Falscher Traktat über Ästhetik. Ein Versuch über die Krise der Wirklichkeit.
Aus dem Französischen von Peter Geble und Monika Petzenhauser. Mit einem Nachwort v. Peter Geble. Edition Plasma 1991
Auf Rumänisch:
B. Fundoianu (Fondane): Conștiința
nefericită. Eseuri.
Traducere de Andreea Vlădescu. Humanitas, Bukarest
1993.
B. Fundoianu: Iudaism și elenism. Editura Hasefer, Bukarest 1999.
Benjamin Fondane: paysages (poèmes 1917-1923) / priveliști (poeme 1917-1923). Traduit du romains par Odile Serre / Traducere în franceză de Odile Serre (Gemini. colecția bilingvă de poezie) Editura Paralela 45, Pitești 1999.
Benjamin Fondane: Ființa și cunoașterea. Încercarea asupra lui Lupașco. (colecția transpuneri: 3) Prezentat de Michael Finkenthal. Traducere, note și postfața: Vasile Sporici. Editura Ștefan Lupașcu, Iași 2000.
Olivier Salazar-Ferrer: Benjamin Fondane. Traducere din limba franceză de Elena Tudorie. Junimea, Iași 2005.
Benjamin Fundoianu: Poezia antumă. (Seria Fundoianu-Fondane) Opere I. Ediție critică de Paul Daniel, George Zarafu, Mircea Martin. Editura Art, Bukarest 2012.
Benjamin Fondane: Baudelaire și experiența abisului. Traducere din limba franceză de Ion Pop şi Ioan Pop-Curşeu. (Seria Fundoianu-Fondane). Opere XIV Ediţie critică de Ion Pop, Ioan Pop-Curşeu şi Mircea Martin. Editura Art, Bukarest 2013
Ausführliche Bibliografien auf den Websites der beiden o.g. Gesellschaften.
Wahldesaster III
Foto: CSAT (Oberster Nationaler Verteidigungsrat)
Die Entscheidung des rumänischen Verfassungsgerichtshofs (entgegen dem Beschluss vom 2.12.2024), die gesamte Wahl zum Präsidentenamt doch noch zu annulieren, hat ein politisches Erdbeben ausgelöst – nicht nur in Rumänien. Auch in der EU-Zentrale in Brüssel sind eilige Maßnahmen hinsichtlich des Verhaltens der Online-Plattform TikTok veranlasst worden. EU-Kommissarin Henna Virkkunen forderte in Verfolgung bereits seit Wochen laufender Diskussionen die chinesische Firma auf der Basis des Digital Security Acts (DSA) auf, für die rumänischen wie für künftige Wahlen in der EU bis zum 31.03.2025 Informationen über Online-Abläufe aufzubewahren. Sie verweist dabei explizit auf die von dem rumänischen CSAT (Oberster Nationaler Verteidigungsrat) deklassifizierten Einschätzungen der rumänischen Dienste.
Der CSAT unterstellt, dass über 100 Influencer, die insgesamt 8 Millionen Follower haben, z.T. ohne ihr Wissen, mitwirkten an der "anormal hohen Zahl von Aufrufen" und der extremen Sichtbarkeit des vorher weitgehend unbekannten Kandidaten Călin Georgescu. Diese Vorgänge seien auf namentlich bekannte Personen, die z.T. aus der Unterwelt kommen, zurückzuführen. In einem Fall habe einer der Verursacher mehrere Hunderttausend Euro für sein Vorgehen ausgegeben. Ebenso sei auch eine digitale Marketingfirma im Hintergrund aktiv gewesen. Zudem habe TikTok nicht auf Anordnungen des Birou Electoral Central reagiert und unerlaubte Inhalte zum Vorteil von Georgescu nicht gelöscht.
Auf der Basis dieser deklassifizierten Dokumente anullierte in einem bisher einmaligen Vorgang die CCR den Wahlprozess. Während der PSD-Kandidat und Ministerpräsident Ciolacu dies als "einzige korrekte Lösung" bezeichnete, sagte Georgescus Gegenkandiatin, Elena Lasconi, dass dies der Tag sei, an dem "der rumänische Staat die Demokratie mit Füßen getreten habe".
Dass der zweite Wahlgang in der Diaspora bereits begonnen hat, stellt in diesem Gang der Ereignisse einen offensichtlich zu vernachlässigenden Aspekt dar.
PRÄSIDENTENWAHL
ANNULLIERT!
Die CCR (Curtea
Constituțională României), der
rumänische Verfassungsgerichtshof, hat
am 6.12.2024 den für den 8.12. vorgesehenen zweiten Wahlgang zur Wahl des Staatspräsidenten abgesagt. Der Gerichtshof entschied, dass der gesamte Wahlvorgang annulliert sei und wiederholt werden muss. Die
Entscheidung über das Datum des neuerlichen Wahlverfahrens treffe die Regierung. Die Entscheidung fiel nach 5-stündiger Sitzung einstimmig.
Hintergrund des Urteils ist offensichtlich die durch den von Staatspräsident Klaus Johannis geleiteten Consiliul Suprem de Apărare a Țării (CSAT, Oberster Nationaler Rat für Verteidigung) erfolgte Veröffentlichung von Unterlagen zu der Behauptung des Wahlsiegers im ersten Wahlgangs, Călin Georgescu, er habe keine Ausgaben im Wahlkampf getätigt. Die Dokumente belegen wohl, dass seine aufwändige Internetkampagne in den sozialen Medien durchaus Kosten verursacht hatte, die der Kandidat nicht deklarierte. Hinweise auf diese Vorgänge kamen durch die rumänischen Geheimdienste, die sowohl Unregelmäßigkeiten bei den sozialen Medien, vor allem TikTok, als auch hybride Angriffe durch Russland beobachteten.
Staatspräsident Klaus Johannis erklärte, dass die nach den Parlamentswahlen vom 1.12.2024 neu zu bildende Regierung das Wahldatum festlege. Bis zur Vereidigung eines neuen Präsidenten bleibe er im Amt gemäß Art. 83 der Verfassung.
Wahldesaster II
"Die Rechtsextremen fallen ins Parlament ein" (adevărul.ro)
Nach dem umstrittenen ersten Wahlgang der Präsidentenwahl, über die heute, 2.Dezember 2024 das
Verfassungsgericht CCR eine Entscheidung fällen soll, haben gestern die Parlamentswahlen zu Abgeordnetenhaus und Senat beunruhigende Ergebnisse gezeitigt. Die Wahlbehörde BEC teilte das
vorläufige Ergebnis nach einer hohen Wahlbeteiligung von 52% mit:
PSD 21,98%,
AUR 18,01%,
PNL 13,21%,
USR 12,41%,
UDMR 6,34%.
Ebenfalls ins Parlament gelangten die Partei POT (Partidul Oamenilor Tineri - Partei der jungen Menschen), die als Unterstützerin des Präsidentenkandidaten Călin Georgescu fungiert mit 6,45% und die Gruppe S.O.S (S.O.S România), die von der skandalträchtigen AUR-Abtrünnigen und Anti-Impfaktivistin Diana Șoșoacă geführt wird, mit 7,35% der Stimmen. Damit erreichen die rechtsextremen Parteien AUR, S.O.S, POT mindestens 31% der Plätze im Parlament. Bei der Verteilung der Sitze der nicht in das Parlament gelangten Parteien dürfte sich dieser Anteil noch erhöhen.
Als stärkste Partei ist zwar die PSD hervorgegangen, hat aber ihr historisch schlechtestes Ergebnis erreicht und wäre zum Regieren auf Koalitionspartner angewiesen. Auf niedrigem Niveau schnitt der frühere Koalitionspartner PNL ab. Während die PSD in 25 von den insgesamt 42 Kreisen führt, gelang das der PNL in 6 Kreisen, darunter Cluj (Klausenburg), Ilfov, Bihor. Die USR führt in Bukarest, Temesvar, Brașov (Kronstadt), AUR in Constanța, Arad und Suceava, die Partei der ungarischen Minderheit UDMR in 5 Kreisen.
Der Journalist Dan Tăpălagă schätzt die Situation so ein: "Wirklich schlimm wäre es, wenn die Extremisten und Neolegionäre auf 40% sprängen. Bei diesem Szenario kämen sie in die Lage, nicht mehr vermieden werden zu können. Alles hängt jetzt davon ab, wer PräsidentIn wird: Elena Lasconi oder Călin Georgescu? Der/die zukünftige PräsidentIn wird den Kandidaten für das Amt des Premierministers vorschlagen. Dieser Kandidat wird eine Mehrheit organisieren müssen. Das wird nicht einfach." (g4media.ro)
In der Diaspora lagen die rechtsextreme AUR vor der USR der Präsidentschaftskandidatin Elena Lasconi (auch der Temeswarer deutsche Bürgermeister Dominic Fritz gehört dieser Partei an). Die frühere Regierungspartei PNL erreichte in der Diaspora 0,02% Stimmen, die PSD kaum mehr als 3%.
UPDATE
02.12.2024
Der Verfassungsgerichtshof CCR hat am 2.12. 2024 entschieden, dass der erste Wahlgang zur Präsidentenwahl gültig war und damit am 8. Dezember im zweiten Wahlgang die Entscheidung zwischen Călin Georgescu und Elena Lasconi stattfinden wird.
Die Tiefe des Desasters
Nach dem Schock die Fragen. Viele Fragen: Wie hat der Sieger im ersten Wahlgang seine Plakate, Flyer, Internetauftritte, etc. finanziert, wenn er zugleich gegenüber der Wahlbehörde Autoritatea Electorală Permanentă (AEP) behauptet, dass er für seinen Wahlkampf keinerlei Geld ausgegeben habe? Wieso konnte Călin Georgescu überhaupt kandidieren, wenn doch gegen ihn ein Verfahren wegen Verherrlichung der Legion Codreanus und des Marschall Antonescu eröffnet worden war? Wie konnte zahlreiches Werbematerial ohne den erforderlichen Code zur Kennzeichnung der Finanzierung von ihm veröffentlicht werden? Wie konnte er angeblich Millionen Follower auf TikTok haben, wenn er den meisten Wählenden doch völlig unbekannt war? Welche Rolle haben womöglich ausländische Geheimdienste bei diesem Überraschungscoup gespielt? Wie präzise wird die Neuauszählung sein können? Wird die Wahl wiederholt werden müssen? Ist das Ganze nur ein Manöver, um den PSD-Kandidaten Marcel Ciolacu doch noch in die Stichwahl zu bringen, da er mit nur 2000 Stimmen weniger als die Zweite ausgeschieden war? Von Fragen nach der weitergehenden Bedeutung und möglichen Folgen dieser Wahl ganz abgesehen. Denn am 1.12.2024 stehen die Parlamentswahlen vor der Tür, deren Einschätzung nun keineswegs simpel erscheint. Bis Sonntag, 1.12. 22 Uhr sollen auch die Ergebnisse der Neuzählung vorliegen. Die AEP hat mittlerweile in Aussicht gestellt, den Finanzreport von Georgescu noch einmal zu überprüfen.
Die zivilgesellschaftliche Gruppe Corupția ucide (Korruption tötet) sieht die Entscheidung der CCR (Curtea constituțională al României - Verfassungsgerichtshof) zur Neuzählung als mögliches taktisches Mittel der PSD, ihren Kandidaten Ciolacu doch noch in die Stichwahl zu hieven. Daher fordert die Gruppe internationale BeobachterInnen und den Einsatz von Kameras bei der mittlerweile bereits laufenden Neuzählung. Der Antrag auf Neuzählung war von einem der unterlegenen Präsidentschaftskandidaten gestellt worden. Die Zweitplazierte, Elena Lasconi von der USR hat die Entscheidung zur Neuzählung hart kritisiert: Sie sei nur durch den Versuch motiviert, das Ergebnis im Interesse der PSD zu manipulieren.
Eine weitere Betrachtungsebene stellt der geopolitische Kontext des Angriffskrieges Russlands auf die benachbarte Ukraine dar, der massive digitale Attacken auf die Infrastrukturen und Manipulation von Wählenden mit sich bringt. Der Consiliul Suprem de Apărare a Țării (CSAT; Oberster Nationaler Rat für Verteidigung) verlangt von den zuständigen Behörden, Maßnahmen zu ergreifen gegen die Einflußnahme ausländischer Institutionen (insbesondere Russlands) auf die Wahlen. Auch TikTok, Facebook, u.a. sind gefordert, Nachweise über die Entwicklung des Kontos von Georgescu zu liefern.
Schwierig ist es, einen Wahlkampf für die Stichwahl zu führen, wenn das Ergebnis der ersten Wahl noch nicht – wie notwendig – vom CCR anerkannt worden ist. Der CCR hat am Freitag eine Entscheidung über die Gültigkeit des ersten Wahlgangs auf Montag, 2.12., 17 Uhr vertagt.
Wahldesaster
Um 9 Uhr am 25.11.2025 überholte bei der Auszählung der Wahlstimmen die Kandidatin Elena Lasconi von der jungen bürgerlichen Reformpartei USR den lange als Favoriten gehandelten Premierminister Marcel Ciolacu von der PSD. Vor dem endgültigen Wahlergebnis liegt sie mit 2000 Stimmen in Front vor dem vermeintlichen und nun ausgeschiedenen Favoriten, aber der Sieger der ersten Runde der rumänischen Präsidentschaftswahlen ist ein Fast-Nobody, der in den Sondagen vor der Wahl bei nur 8% lag: Călin Georgescu. Er erreichte 22,95 %, Lasconi 19,18 %, Ciolacu 19,15% und als Vierter der Kandidat der rechtsextremen AUR 13,86%. Die Wahlbeteiligung lag bei 52%. Aus der Diaspora stimmten 43,35% für Georgescu.
Der äußerlich wie ein seriöser TV-Vorabendserien-Darsteller wirkende ausgebildete Agronomie-Ingenieur und Angehörige der Universität Pitești fiel in den vergangenen Jahren durch antisemitische und prorussische Aussagen auf. Er war Ehrenpräsident der nationalistisch-rechtsradikalen Partei AUR, bevor er sich mit deren Anführer zerstritt. Gegen Georgescu bestand ein Verfahren wegen der Verherrlichung von Personen, die für Genozide und Kriegsverbrechen verantwortlich sind (Marschall Antonescu), das aber im Sande verlief. Sein Wahlerfolg dürfte viel mit dem digitalen Medium TikTok zu tun haben, auf dem er die Staatlichkeit der Ukraine leugnete und eine Neuorientierung Rumäniens an Russland und China forderte.
Der Historiker und Rumänien-Experte Jens Uwe Schmitt sagte in einem Interview, dass die Sprache Georgescus voller legionärer Elemente sei und die kritische Presse übersehen habe, wie sehr die legionäre Propaganda bereits im Mainstream Rumäniens angekommen sei. Der Autor William Totok publizierte ein Foto Georgescus mit neolegionären Aktivisten.
Update:
Sowohl der Ministerpräsident und PDS-Vorsitzende Marcel Ciolacu als auch der Vorsitzende der PNL, Nicolae Ciucă, sind nach der ersten Runde der Präsidentschaftswahlen, an denen beide für ihre Parteien teilnahmen, von ihren Ämtern als Vorsitzende zurückgetreten.
Maia Sandu gewinnt
Präsidentschaftswahl in Moldau
Mit 55,33% der Stimmen gegenüber 44,67% ihres Gegners Alexandr Stoianoglo hat die moldauische Präsidentin Maia Sandu
am 3. November 2024 zum zweiten Mal das Mandat für die Präsidentschaft gewonnen. Die ausschlaggebenden Stimmen scheinen auch im zweiten Wahlgang vor allem aus der Diaspora gekommen zu sein. So
hatte bei Auszählung der landesweiten Stimmen Stoianoglo um 23 Uhr noch knapp geführt (90,90% der ausgezählten Wahllokale), bevor die letzten 200 Wahllokale und die Diaspora gezählt wurden. Die
Wahlbeteiligung lag bei 54,31%. Die bestbesuchten ausländischen Wahllokale lagen in Moskau.
In der autonomen Region Gagausien erhielt Stoianoglo 97% der Stimmen, Sandu weniger als 2%.
Dominic Fritz gewinnt
in Temeswar
Neben den Europaparlamentswahlen haben in Rumänien ein größeres Augenmerk die Lokal- und Regionalwahlen am 9. Juni 2024 gefunden. In der Kulturhauptstadt 2023 Temeswar gewann sein zweites Mandat der aus dem Schwarzwald stammende Bürgermeister Dominic Fritz, der auf Vorschlag der USR kandidierte und von einem Bündnis aus Alianța Timișoara Unită - USR-PMP-Forța Dreptei-UDMR unterstützt wurde. Er erreichte 49,57% (50143) der Stimmen, sein erneuter Konkurrent Nicolae Robu nur 37,57% (37864). Die Wahlbeteiligung lag bei 45,67% der Wahlberechtigten. Der frühere Bürgermeister Robu kandidierte auf Vorschlag der Regierungsparteien PNL-PSD und hatte vor vier Jahren seinen Bürgermeisterposten gegen Fritz verloren. Nach dem Rücktritt des USR-Chefs Cătălin Drulă machte dieser auf Fritz als möglichen Nachfolgekandidaten für den Parteivorsitz aufmerksam.
Präsident des Kreisrates von Temeswar wurde Alfred Simonis, ebenfalls aus dem Bündnis Alianța Timișoara Unită.
In Sibiu/Hermannstadt wurde Astrid Fodor vom Demokratischen Forum der Deutschen im Bürgermeisteramt bestätigt.
Auch die Hauptstadt Bukarest wurde von einem Kandidaten des Bündnisses USR-PMP-Forța Dreptei gewonnen: Nicușor Dan verteidigte sein Amt mit ca. 46,88% der Stimmen.
In den größeren Städten wie Cluj, Iași, Craiova, Constanța, Brașov, gewannen allerdings Kandidaten aus den Parteien der Regierungskoalition PNL-PSD.
"Empowerment" und Skepsis
Mihaela Drăgan, Nicoleta Ghiță (TechnoWitches)
Der letzte Tag des Festivals steigerte die inhaltlichen und auch formalen Tendenzen der vorangegangenen Tage in der Hinwendung zu den Grenzen der literarischen Mittel und Absichten. So eröffnete die Veranstaltung überzeugend eine Performance mit Filmen der ausdrucksstarken, international anerkannten und mit dem Deutschen Schauspielpreis ausgezeichneten Roma-Aktivistin Alina Șerban. Sie führte in einer Pantomime die Wege ihrer eigenen Biographie auf, die wie auch die Filmausschnitte auf die jahrhundertelangen und aktuellen Diskriminierungen der Roma hinwiesen.
Im anschließenden Panel diskutierte Ioana Elena Urda mit Tudor Ganea, Miruna Vlada und Mihaela Drăgan über Fragen der Selbstermächtigung, gesellschaftliche Benachteiligung und Perspektiven der Emanzipationspolitik. Miruna Vlada kam im Widerstand gegen die väterliche Autorität und als Politikwissenschaftlerin zur Dichtung, in der sie erkennen lässt, wie ihre Forschungen auch ihre sehr persönlichen Wahrnehmungen erweitern. Ganea schildert in seinem Roman Cazemata Erlebnisse seiner Jugend in einem von Jugendgewalt und ethnischen Problemen geprägten Stadtviertel in Constanța. Heute als Architekt tätig, entwirft der Roman ein eindringliches Bild der frühen Wendejahre. Die Roma-Aktivistin Mihaela Drăgan, die u.a. am Berliner Gorki-Theater aufgeführt wurde, las aus einem von den sog. sozialen Medien inspirierten Stück, das die Verherrlichung der Jungfräulichkeit in ihrer community kritisiert und auf das Unglück verweist, das dieser Mythos immer noch verursachen könne. Einem von diesen Themen und Thesen sehr eingenommenen Publikum widersprach teilweise der "soziale Entrepreneur" Valeriu Nicolae, der in einem erfolgreichen Buch über seine nicht eindeutige Roma-Herkunft berichtet hat, ansonsten aber seinen Weg zur Errichtung von Kindergärten für mehrere hundert vernachlässigte Kinder zeigt, die ihn glücklicher mache als all seine früheren Tätigkeiten als Politiker, Autor oder Geschäftsmann.
Am Abend lud dann die Rap-Musik von Mihaela Drăgan und Nicoleta Ghiță (TechnoWitches) das sehr gemischte Publikum ein, sich auch auf diese mitreißende Art zu "empowern". So endete dieses sehr anregende, informative und erhellende Festival zur aktuellen rumänischen Kultur in einer zerrissenenen Gegenwart mit ihren Problemen und künstlerischen Suchbewegungen.
Privilegien und neue Heimaten
Adrian Șchiop, Gianina Cărbunariu
Am vorletzten Tag des Festivals (1.3.2024) eröffneten zwei unterschiedliche Panels ebenso unterschiedliche Perspektiven auf die rumänische Literatur. Zunächst begrüßte Moderator Alexander Graeff unter der sich widerständig erweisenden Frage nach der "Heimat" die AutorInnen Theo Herghelegiu (per Zoom) und Adrian Șchiop, Radu Pavel Gheo und Gianina Cărbunariu. Gheo hat in seinem Essayband Adio patria mea, der ein groteskes und unzugängliches Amerika zeichnet, seine Erfahrungen einer gescheiterten Auswanderung in die USA thematisiert. Aus seinem bisherigen Werk soll im Frühjahr zur Buchmesse in Leipzig der ebenfalls eine Migration, nämlich die nach Jugoslawien, reflektierende Roman Disco Titanic in deutscher Übersetzung im KLAK-Verlag vorliegen. Auswanderung ist auch Thema seines Panoramas der Wende-Jugend in Noapte bune, copii! (s. auch auf unserer Unterseite "Literatur"[downscroll]!).
Ebenfalls aus einer Auswanderung – nach Neuseeland – kehrte der sich nicht nur als Klimaaktivist und China-Anhänger outende Șchiop nach Rumänien zurück, das er als den Ort bezeichnete, an dem es ihm am besten gefalle. Als sehr häufig Reisende definierte Cărbunariu als ihr patria das, wo das Leben einen Sinn macht, während nach Herghelegius Kritik an KI und political correctness die Diskussion auch die Frage erreichte, inwieweit Freiheitsrechte auf dem Papier ihren Wert haben, wenn die soziale Situation ihre Realisierung verhindert.
Im nächsten Panel konnte die Schriftstellerin Dana Grigorcea als Moderatorin drei weitere Autorinnen
begrüßen. Die Dichterin Anastasia Gavrilovici ist in Rumänien eine der auffallendsten Jungautorinnen, wie der Auszug aus ihrem Gedicht Viețiile altora bestätigte. Während es ihr um
Frauenrechte, Gewaltverhältnisse, Vorurteile geht, ging die Romanautorin Iris Wolff bei der Frage nach der "Heimat" sehr differenziert auf ihr Verhältnis zu Rumänien als Ort der Handlungen ihrer
erfolgreichen Bücher ein. Die auch als Drehbuchautorin erfolgreiche Ilinca Florian erklärte ihre Auswanderung nach Deutschland als "Hängengebliebensein" auf dem Weg in die USA (zunächst in Österreich). So ging die facettenreiche Auseinandersetzung über mögliche "neue Heimaten" von ganz unterschiedlichen Voraussetzungen und literarischen Ausformungen
aus, deren Ergebnisse unterschiedliche Lichter auf die aktuelle rumänische Literatur werfen.
Klassiker und Kurzfilme
Zwei Filmabende beim Festival "Don't look back"
Bernd Buder, Corneliu Porumboiu
Das Festival widmete sich nicht nur der Literatur, sondern bezog auch Film, Fotografie, Musik, Theater
mit ein. So standen am 29. und 30. Februar 2024 Lang- und Kurzfilme aus Rumänien und Berlin auf dem Programm. Der erste Abend brachte den Klassiker von Corneliu Porumboiu A fost s-au n-a fost (12:08 East of Bucharest) zur Aufführung, dem sich ein Gespräch des Programmdirektors des Cottbuser Filmfestivals, Bernd Buder, mit dem anwesenden
Regisseur anschloss. 2006 entstanden, bleibt Porumboius Geschichte von dem halbherzigen Versuch eines provinziellen Lokal-TV-Besitzers, über das revolutionäre Geschehen vor Ort zu diskutieren,
ein früher Höhepunkt der rumänischen "Neuen Welle". Hervorragend besetzt, satirisch und zugleich realistisch lesbar als Auseinandersetzung mit dem verstörenden Geschehen von 1989. Porumboiu
bestätigte im Gespräch diese Sichtweise als die unterschiedlichen Ebenen seines Films.
Danach schloss sich ein "Special Screening" von Radu Judes neuem Film Don't expect too much from the end of the world. Der über zweieinhalb Stunden lange Streifen vereint die Vorzüge der sprunghaften und schonungslosen filmischen Herangehensweise des
Berlinale-Gewinners: drastisch-vulgäre Sprache, direkt-dokumentarisch wirkende Inszenierung, beißende Entlarvung gesellschaftlicher Realitäten – diesmal im Milieu einer prekär ausgebeuteten Medienmacherin,
die von früh bis spät sich mit ihrem Auto durch den
grotesken Bukarester Straßenverkehr schimpfend und fluchend von Auftrag zu Auftrag bewegt. In der Video-Diskussion mit der Produzentin des Films, Ada Solomon, betonte diese Judes auch in seinem neuen Film sichtbare große Freiheit beim Filmen.
Der nächste Abend brachte Kurzfilme aus Rumänien und Berlin. Darunter fielen Mezzo forte und Mezzo piano von Eugen Dediu durch ihre präzise Arbeit mit großen Darstellern der rumänischen Filmgeschichte auf, ebenso wie Roxana Stroe vom amerikanischen Film beeinflusst in O noapte în Tokoriki und Appalachia überraschende Blicke auf ein Rumänien der Jugend und ihrer Musik warf. Der mittlerweile beim Fernsehen beschäftigte Mihai Pavel inszenierte für seine Abschlussarbeit Take my breath away das in einer Mittelschichtnachbarschaft verbreitete Pokerspielen mit überraschender Pointe.
Nicht überraschend erweiterten die Bilder der Filme die literarischen Ansichten rumänischer Gegenwart, wobei sich immer wieder auch thematische Überschneidungen ergaben. So fanden sich in Literatur und Film gleichermaßen Kritik an den Prägungen der Arbeitswelt durch die Macht der Hierarchien oder konkret auch an den Mülltransporten nach Rumänien oder der Zerstörung der Wälder durch illegale Abholzungen.
Langer Abend
der rumänischen
Literatur
Janika Gelinek, Șerban Busuioc, Andreea Răsuceanu, Ema Stere, Joachim Umlauf, Carmen Francesca Banciu
Am zweiten Tag des Festivals "Don't look back" stellten sich sich am 27.2.2024 sehr unterschiedliche rumänische AutorInnen den Fragen der Moderatoren. Zunächst aber gewannen Studierende der Hochschule für Schauspielkunst Ernst-Busch das vollbesetzte Haus für ihre turbulente szenische Lesung des "Dokumentarmärchens" Waste von Gianina Cărbunariu (Teatru Tineretului Piatra Neamț), das satirisch die Versäumnisse der Recyclingspolitik thematisiert.
Im ersten Panel moderierte danach der Leiter des Goethe-Instituts Bukarest, Joachim Umlauf, das Gespräch mit drei Schriftstellerinnen: Die seit längerem in Deutschland lebende und auf Deutsch schreibende Carmen Francesca Banciu erinnerte an die familiären Konstellationen mit einem parteigläubigen Vater in ihrer "Trilogie der Optimisten" mit ihrem Abschlussband Lebt wohl, Ihr Genossen und Geliebten. Ema Stere schildert in Copiii lui Marcel (Die Kinder von Marcel) die in das 20. Jahrhundert versetzte historische Kommune der Falanstère von Scăieni von 1835, während Andreea Răsuceanu für ihren Roman Linia Kármán (Die Kármán-Linie) die physikalische Grenze zwischen Himmel und Erde als Metapher für trennende Emigration und Entwurzelung fruchtbar macht.
Nicht nur das ungeplante Auftauchen der aktuellen rumänischen Kulturministerin Raluca Turcan verzögerte den weiteren Ablauf des Programms, so dass sich das nächste Panel bereits in den späten Abend verschob und die zum Abschluss geplante Performance Familienreise von France-Elena Damian auf den 6.4.2024 verlegt werden musste. Im späten Panel stellte Catalin Dorian Florescu bilderreich seine Geschichte von der Feuerwehr-Dynastie in Bukarest und ihrem Domizil "Foișorul de Foc", in seinem neuesten Roman Der Feuerturm vor. Ganz anders als diese über Generationen sich erstreckende Sage erzählt Radu Găvan sehr gegenwärtig von Gewalt, Ängsten, Unsicherheit, den "Dämonen" der Individuen in seinem Roman Exorcizat (Exorziert; von Găvan liegt auf Deutsch bereits der Roman Neverland im Pop Verlag [Ludwigsburg] vor). Ähnlich Găvan hat der vielfach ausgezeichnete Augustin Cupșa eine psychologische Ausbildung und schildert in seinem Kurzprosaband Străinătate (Ausland) diverse Zustände nicht nur der Fremdheit, sondern auch der Entfremdung.
Moderator Alexandru Bulucz begrüßte zudem die Lyrikerin Moni Stănilă, deren Gedichtband Ofsaid (Abseits) überraschend die Themen Fußball, Glauben und Krieg miteinander in Beziehung setzt. Stănilă hat Theologie studiert und zog 2010 aus Rumänien in die moldauische Hauptstadt Chișinău, wo sie mit dem Schriftsteller Alexandru Vakulovski lebt. Ihre Lyrik verbindet sehr gegenwärtig die medialen und politischen Einflüsse auf das Leben junger Menschen.
Mit den ingeniösen Übersetzungen von Șerban Busoioc und den Text-Lesungen von Hannah Ley und Daniel Hoevels wurde das
Thema des Abends, "Ressourcen und Identität" der neuesten Literatur aus und über Rumänien in einen beziehungsreichen
Dialog zwischen Fremde und Entfremdung versetzt.
»DON'T LOOK BACK« eröffnet
Rumänien/Moldova-Festival im Literaturhaus Berlin
Gabriela Adameșteanu, Thomas Böhm
Im Berliner Literaturhaus wurde gestern, 26.2.2024, das einwöchige Festival zu rumänischer und moldauischer Literatur, Film und Kunst "Don't look back" eröffnet. Im Beisein von Botschafterin Adriana Stănescu und der moldauischen Botschaftergattin Tatiana Ciocoi erklärte die Organisatorin des Festivals, Ricarda Ciontos, ihren Ansatz, die Migration in Europa als Thema des Blicks auf Rumäniens und der Republik Moldovas Kultur zu fokussieren.
Am Beginn stand die Vernissage der Fotoausstellung "Away / Plecat" von Elena Stancu und Cosmin Bumbuț, die in ihrem viel beachteten Projekt zur rumänischen Arbeitsmigration seit einigen Jahren in einem Wohnmobil in ganz Europa touren, um rumänische MigrantInnen zu fotografieren und über sie zu berichten. Es sind aussagekräftige Bilder mit erhellenden Perspektiven auf die vielfach unbekannte oder verdrängte Realität Europas.
Dass das Motto der Veranstaltung ambivalent aufgefasst werden kann, zeigte der in Bukarest lebende Autor Jan Koneffke in einer kritischen Dekonstruktion der Vergangenheitsverdrängung in der rumänischen Geschichte. Paul Celan, Emil Cioran und Mihai Eminescu waren ihm Zeuge der Auseinandersetzung mit Traumata, Befreiung und Gedächtnis (Lesung durch den "Kafka"-Filmdarsteller und Autor Sabin Tambrea)
Solcherart vorbereitet begann der literarische Teil des Abends, den Radiomoderator Thomas Böhm geschickt leitete, um Gabriela Adameșteanu, Tatiana Țîbuleac und Alexandru Bulucz mit ihren ganz spezifischen Auffassungen der Vergangenheit und Erinnerung in Lesung (TV-Schauspielerin Claudia Michelsen) und Diskussion (Dolmetscher: Șerban Busuioc) zur Sprache zu bringen. Ein zahlreiches Publikum folgte ihnen animiert und aufmerksam bis in den späten Abend, bevor im Kaminzimmer des Literaturhauses ein Kammerkonzert (Alexandra Paladi u. Eleonora Kotlibulatova) die BesucherInnen mit Enescu, Dimitrescu und Brahms entließ. Ein sehr anregender und gelungener Auftakt für das Festval.
Heute vor 33 Jahren
Die Revolution in Rumänien in Tageschroniken
35 Jahre nach dem Aufstand der rumänischen Bevölkerung gegen das diktatorische Regime von Nicolae Ceaușescu und der kommunistischen Partei lassen sich viele der Details des Geschehens genauer beschreiben als in den Jahren zuvor, als
Abb. CC BY-SA 2.5 pl, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=1237708
sie vielfach noch nicht präzise eingeordnet werden konnten. Zahlreiche Fotos, Videos, Dokumente, Augenzeugenberichte, Gerichtsprotokolle lassen ein Bild entstehen, das die Vorgänge an der Oberfläche dokumentiert, während entscheidende Fragen nach den politischen Manövern innerhalb der Parteistrukturen, der Armee und der Securitate vor, während und nach der Revolution noch nicht offengelegt wurden. In einigen Fällen sind die Verantwortlichen klar benannt worden, allerdings haben sich daraus oft keine strafrechtlichen Konsequenzen ergeben.
An den Ablauf der Geschehnisse im Dezember soll die folgende Chronik erinnern.
Freitag, 15. Dezember 1989
Der bereits wegen seiner regimekritischen Aussagen (u.a. in ausländischen Radiosendern) aufgefallene Priester der Reformierten Kirche in Temeswar, László Tökés, hatte im Sonntagsgottesdienst am 10.12. seine Gemeinde aufgefordert, am 15. Zeuge bei seiner gegen seinen Willen angeordneten Versetzung in ein isoliertes Dorf bei Sălaj zu sein. Es kommen am frühen Morgen einige Hundert meist ungarischsprachige Gläubige an das überwachte Gebäude der Reformierten Kirche in der strada Timotei Ciparu an der Piața Maria, nicht weit entfernt von der Innenstadt. Securitate-Mitarbeiter in Zivil versuchen, Verhaftungen unter der Menge vorzunehmen, wobei es zu Auseinandersetzungen kommt, die sich aber noch nicht ausbreiten. Nachmittags finden sich weitere Menschen ein, jetzt auch Rumänen aus der baptistischen Gemeinde. Tökés kritisiert das Regime von Parteichef Nicolae Ceaușescu, es wird erstmals das Lied "Deșteapte-te române!" (Erhebe dich, Rumäne) gesungen. Um 20.00 Uhr kommt der Bürgermeister von Temeswar, Petru Moț, um mit Tökés zu verhandeln. Einige Protestierer bleiben über Nacht beim Kirchenamt.
Samstag, 16. Dezember 1989
An der Piața Maria in Temeswar versammeln sich anfangs etwa 300-500 Menschen, um gegen die Evakuierung des Priesters Tökes, aber auch bereits gegen das System von Partei und Staat zu protestieren. Ein Teil der Menge hält Straßenbahnen der Linie Nr. 2 in der Nähe des Gemeindeamtes der Reformierten Kirche an, um mit ihnen unter dem Rufen von Losungen wie "Jos Ceaușescu!", "Libertate" oder "Vrem paine!" (Wir wollen Brot!) in die Innenstadt zu gelangen. In größeren Gruppen marschieren Demonstranten in das Stadtzentrum. Eine Buchhandlung mit Büchern Ceaușescus wird zerstört, auch zahlreiche Schaufenster an der Einkaufsstraße im Zentrum gehen zu Bruch. Die Plakate mit Parteilosungen und Fotos von Ceaușescu werden zerstört. Auf einem ungarischen Radiosender wird über die Demonstrationen berichtet. Tökés bittet die Menge vom Pfarramt aus, die Demonstration aufzulösen und nach Hause zu gehen. In der Innenstadt auf dem Platz zwischen Oper und Kathedrale kommt es zu Konfrontationen mit der Miliz und den Wasserwerfern der Feuerwehr und zu zahlreichen Verhaftungen. Hunderte werden in Gefängnisse eingeliefert. Gruppen von Demonstranten gehen in andere Viertel der Stadt, vor allem solche mit Studentenheimen, um weitere Demonstranten zu animieren, auf die Straße zu gehen.
Nach Mitternacht sperrt Miliz die Straße zur Reformierten Kirche ab und räumt die Piața Maria. Tökés flüchtet sich mit seiner hochschwangeren Ehefrau, einem Schwager und dem Studenten Gazda Arpad in die Kirche, wo sie nachts von der Securitate verhaftet und ins Gefängnis gebracht werden. Der Aufstand scheint niedergeschlagen worden zu sein.
Sonntag, 17. Dezember 1989
Die Auseinandersetzungen in Temeswar zwischen Demonstranten gegen das Regime Ceaușescu und den Ordnungskräften verschärft sich in mehreren Stadtteilen. Panzer und gepanzerte Fahrzeuge sind auf Seiten der Miliz und der Armee im Einsatz. Barrikaden werden gebaut. Unbekannte zerstören systematisch Geschäfte, zünden sie an, ohne dass die Ordnungskräfte einschreiten. Auf Befehl Ceaușecus, den General Vasile Milea umsetzt, wird, vor allem als die Dunkelheit nach 16 Uhr einbricht, scharf in die immer größer werdende Menge geschossen und die ersten Verletzten und Toten unter den Demonstranten sind zu verzeichnen. Auch in die Häuser wird geschossen. Die Einheiten von Securitate, Armee, Miliz, Innenministerium, die an den Schießereien beteiligt sind, sind nicht genau zu verifizieren.
Montag, 18. Dezember 1989
Sânpetru Mare
Foto: Dobrivoie Kerpenisan
/aus Rebels With A Cause, 2019/
Angehörige begeben sich in der gespannten Atmosphäre der Stadt Timișoara in die Spitäler, um ihre Toten zu finden und zu beerdigen. Jede Gruppenbildung auf den Straßen ist verboten, auf Ansammlungen werde sofort geschossen. In den Firmen und Fabriken werden die Fehlenden gezählt. In einzelnen Vierteln wie dem Arbeiterviertel Girocului sind die Straßen übersät mit Gewehrpatronen und weisen auf eine kriegsähnliche Situation hin.
Vor der verschlossenen Kathedrale werden Kinder und Jugendliche, die dort Kerzen aufstellen wollen und Anti-Ceaușescu-Parolen rufen, von der Armee erschossen. 60 Tote und hunderte Verletzte sind das Ergebnis dieses Tages.
In dem Dorf Sânpetru Mare veranlassen Berichte von den Vorgängen in Temeswar eine Menschenmenge zum Marsch auf die Primaria, wo sie Bilder und Bücher von Ceaușescu zerstören.
In der Nacht zum Dienstag wird die "Operațiunea Trandafirul" (Operation Rose) durchgeführt: 40 Leichen werden von der Miliz aus den Krankenhäusern entwendet (einige noch Lebende werden ermordet), in einem Kühlwagen nach Bukarest gebracht, dort in einem Krematorium verbrannt und ihre Asche in einem Graben bei Bukarest verteilt.
Der Staatspräsident Ceaușescu begibt sich ohne Ehefrau Elena zu einem Staatsbesuch in den Iran.
Dienstag, 19. Dezember 1989
Sânpetru Mare
Foto: Dobrivoie Kerpenisan
/aus Rebels With A Cause, 2019/
Es werden zahlreiche weitere Verhaftungen vorgenommen. Die Arbeiter der Firma ELBA (Electrobanat) erklären den Generalstreik. In den Betrieben wird über das weitere Vorgehen diskutiert. Viele Fabriken sind von Ordnungskräften umstellt, um die Arbeiter an Demonstrationen zu hindern. Um 11 Uhr versuchen der erste Sekretär der Partei im Kreis, Radu Bălan, und Bürgermeister Moț, die Arbeiter zum Einstellen der Arbeitsniederlegungen und Demonstrationen zu bewegen. Bălan scheint bereit, in das Lager der Revolutionäre zu wechseln. General Gușă, ebenfalls in der Fabrik ELBA, ordnet einen Teilrückzug der Armee an. Auf den Straßen dominieren die Ordnungskräfte von Armee, Miliz, Securitate, bei Zusammenstößen sterben 8 Menschen.
Mittwoch, 20. Dezember 1989
Zehntausende, vor allem aus den Betrieben und Fabriken, demonstrieren in Temeswar gegen die Diktatur. Der Platz zwischen der Oper und Kathedrale füllt sich ab 14 Uhr mit Menschen, die aus den Nationalfahnen die Parteizeichen herausgeschnitten haben. Vom Balkon der Oper werden Reden gehalten (die installierten Mikrofone und Lautsprecher waren für eine prokommunistische Kundgebung vorgesehen). Der erste Redner, Ioan Chiș, prägt den Spruch: "Endlich ist die Mămăligă explodiert." Die Menge ruft enthusiasmiert: "Libertate", „Azi în Timişoara, mâine-n toată ţara!” (Heute in Temeswar, morgen im ganzen Land),
Eine große Zahl begibt sich zum Consiliul Județean, wo der Premierminister Constantin Dăscălescu sich aufhält. Eine Abordnung von Revolutionären (Ioan Savu, Corneliu Vaida, Sorin Oprea, Marcu, Boloșoiu, Hanus Sandu, Petrișor u.a.) führt einen Dialog mit dem Premierminister in dem Gebäude und fordert Rückzug der Armee, genaue Aufklärung über die Schießbefehle und die Zahl der Toten, Freilassung der Verhafteten, freie Wahlen, privates Unternehmertum, freie Presse. Die Befreiung der 980 Verhafteten und der Rückzug der Armee in die Kasernen wird erreicht. Vereinzelt werden Verbrüderungen mit der Armee beobachtet.
In der Stadt Lugoj im Banat finden ebenfalls Demonstrationen statt. Es ist die erste Stadt, die dem Beispiel von Temeswar folgt. Zwei junge Protestierer werden gegen 20.00 Uhr aus einer Armeekaserne heraus erschossen, die Parteizentrale geht in Flammen auf, zahlreiche Fensterscheiben von Geschäften werden eingeschlagen.
Um 19 Uhr hält der aus dem Iran zurückgekehrte Ceaușescu eine Rede im Fernsehen, in der er die Vorgänge und die "reaktionären, hooliganistischen, terroristischen Elemente" verurteilt. Der Ausnahmezustand wird über Temeswar verhängt. Aus seiner Heimatregion Oltenien (Craiova) sendet Ceaușescu Arbeiter als Nationalmilizen nach Temeswar, um gegen die Demonstranten vorzugehen. Sie solidarisieren sich aber mit den Aufständischen und verbreiten nach ihrer Rückkehr die Nachrichten über den Aufstand.
Auf dem Platz vor der Oper in Temeswar bleiben etwa 60 Menschen über Nacht.
Donnerstag, 21. Dezember 1989
Auf dem Balkon der Oper in Temeswar verliest Lorin Fortuna morgens eine Proklamation, die einen neu konstituierten Frontul Democratic Român vorstellt und Temeswar zur ersten kommunismusfreien Stadt (oraș liber de comunism) Rumäniens erklärt.
In Arad gehen ab 8.30 Uhr die ArbeiterInnen zahlreicher Betriebe auf die Straße und marschieren in Richtung des zentralen Platzes, wo sich das Parteibüro befindet. Um 12.30 Uhr verspricht die Kreissekretärin der Partei, Elena Pugna, ähnlich wie Ceaușescu in Bukarest, eine Erhöhung der Löhne und der Kinderzulagen, wird aber ausgepfiffen. Am Abend wird unter den Demonstranten nach dem Temeswarer Vorbild ein Komitee mit der Bezeichnung Frontul Democratic Român gebildet mit dem Schauspieler Valentin Voicilă als führendem Mitglied. Der um das Parteigebäude postierte, mit Kriegsmunition bewaffnete Kordon aus Miliz und Militär findet keinen Anlass zum Eingreifen.
In Cluj wird hingegen auf dem zentralen Platz ohne Anlass von der Armee auf Befehl lokaler Offiziere in die Menge geschossen, 26 Menschen sterben, 79 werden verletzt.
In Târgu Mureș/Marosvásárhely wehren sich Arbeiter in den Fabriken gegen die von Ceaușescu vorgeschriebene Interpretation der Ereignisse in Temeswar. Der Parteisekretär der Stadt wird in der Firma IMATEX gezwungen, ein Protestschreiben an den Staatschef abzusenden. Nach konfrontationsreichen, vor allem von Arbeitern aus den Fabriken begonnenen Demonstrationen werden am Abend gegen 21.20 Uhr auf dem zentralen Platz 6 Menschen erschossen, 21 durch Kugeln verletzt, zahlreiche verhaftet und misshandelt.
In Sibiu/Hermannstadt/Nagyvaros wird eine kleine Demonstration von Arbeitern aus der Firma Balana gegen 8.30 Uhr aufgelöst. Kurze Zeit später finden sich zahlreiche Protestierer auf den Straßen, marschieren ins Zentrum, wo sie Bilder und Bücher von Ceaușescu aus Buchhandlungen verbrennen. Ab 10.00 Uhr beginnen auf Anordnung von Kreisparteisekretär Nicu Ceaușescu, Sohn von Nicolae Ceaușescu, Armeeschüler gegen die Protestierer vorzugehen. Sie eröffnen das Feuer und töten 1 Demonstranten, 4 werden verletzt. Daraufhin strömen Tausende in verschiedenen Teilen der Stadt auf die Straßen.
In Bukarest hält Ceaușescu um 12 Uhr eine von TV România übertragene Rede vom Balkon des ZK vor etwa 100000 eilig herbei transportierten Unterstützern der Partei. Während der Rede entsteht Unruhe in der Masse, es sind Knallgeräusche zu hören, es entsteht Bewegung in der Menge. Die TV-Übertragung wird mehrmals unterbrochen, als die Rufe "Timioșara" für kurze Zeit deutlicher durchdringen. Der Conducător reagiert zunächst verunsichert und fahrig, seine Ehefrau Elena neben ihm gibt Anweisungen - die Übertragung wird bald abgebrochen. Ceaușescu kann die Rede allerdings beenden, in der er vor allem finanzielle Versprechungen für Arbeiter, Mütter und Pensionäre macht. Die Ereignisse von Temeswar nennt er einen Angriff auf Unabhängigkeit, Integrität und Souveränität Rumäniens und erinnert an die Situation von 1968, als Rumänien nicht am Einmarsch in die CSSR teilnahm. In der Stadt finden Kämpfe zwischen Ordnungskräften und Demonstranten statt, vor allem an der nahe gelegenen Piaţa Universităţii, die ein erstes Todesopfer fordern. Abends wird dort vor dem Hotel Intercontinental eine Barrikade errichtet. Scharfschützen schießen von den Dächern auf die Demonstranten. In der Nacht sterben hier 49 Aufständische, 500 werden verletzt, Tausende verhaftet.
Cluj 21.12. 1989
Foto: Răzvan Rotta (https://ro.wikibooks.org/wiki/Revolu%C
8%9Bia_Rom%C3%A2n%C4%83_de_la_Cluj_%C3%AEn_imagini)
Sibiu, Casa de Cultură a Sindecatelor
Freitag, 22. Dezember 1989
In Bukarest findet im Gebäude des Zentralkomitees dessen letzte Sitzung statt.
9.00 In Sibiu beginnen Demonstrationen in Richtung Piața Mare und zur Casa de cultură a sindecatelor (Gewerkschaftskultur-haus), wo sich etwa 30000 Menschen versammeln. Unter ihnen konstituiert sich das Demokratische Forum des Kreises Sibiu.
9.55 Uhr Bukarest: Nachrichtensprecher George Marinescu verliest im TVR die Verkündung des Ausnahmezustandes (starea de necesitate) über das ganze Land. Jede öffentliche Gruppenbildung von mehr als 5 Personen ist verboten.
In der gleichen Nachrichtensendung teilt der Sprecher mit, dass Verteidigungsminister General Vasile Milea Selbstmord begangen habe. Milea hatte den Schießbefehl Ceaușescus weitergegeben, blieb aber nicht konsequent bei dieser Haltung. In den Nachrichten wird Milea als "Verräter" bezeichnet, der Gerüchte und Lügen in die Welt gesetzt und mit den "imperialistischen Kreisen" die Aufstände verursacht habe. Während der Nachrichten bewegen sich wie am Vortag große Demonstrationszüge in Bukarest von der Piața Universității Richtung Boulevard Brătianu und Magheru. Hier ist auch Maschinengewehrfeuer zu hören.
11.00 Nach einiger Zeit gelingt es, den DemonstrantInnen, den Platz vor dem ZK zu erreichen und in das Gebäude einzudringen.
11.50 Das TV-Gebäude ist von Protestierern besetzt, das Fernsehen in Televiziunea Română Liberă (TVRL, Freies rumänisches Fernsehen) umbenannt.
12.09 Uhr Nicolae und Elena Ceaușescu fliehen mit einem Hubschrauber vom Dach des ZK-Gebäudes, während sich der Platz mit einer unübersehbaren und enthusiastischen Menschenmenge füllt.
Petre Roman spricht vom Balkon des ZK-Gebäudes zur Menge und erklärt den Sieg der Revolution.
12.55 Im TVRL verkündet Mircea Dinescu aus einer Gruppe von Aktivisten - darunter der Regisseur Sergei Nicolaescu und der Schauspieler Ion Caramitru - in die Live-Kameras: "Am invins! Am invins!" (Wir haben gesiegt.)
General Chițac ruft aus dem Studio die Armee zur Unterstützung der Aufständischen auf.
12.00 In Temeswar werden auf dem Armenfriedhof die Gräber von vorgeblichen Opfern der Ceaușescu-Herrschaft und der Niederschlagung der Revolution geöffnet. Durch die wieder geöffneten Grenzen kann im Ausland der Eindruck erweckt werden, dass die Kämpfe in Temeswar mehrere Tausend Tote forderten. Falschnachrichten, die ihren Weg wieder zurück nach Rumänien finden.
12.00 Sibiu: Aufständische belagern den Sitz der Miliz auf der strada Armata Roșie, Ecke strada Moscovei. Diese hängt ein Transparent an das Gebäude, mit dem Text: "Noi, miliţia, slujim interesele poporului. Suntem cu voi! Fără violenţă! Organizaţi-vă pentru dialog!" (Wir, die Miliz, arbeiten im Interesse das Volkes. Wir sind mit euch. Ohne Gewalt! Organisiert euch für den Dialog.) Die Demonstranten gelangen in das Gebäude, die Miliz flieht zur auf der gleichen Straße benachbarten Armee, von wo aus auf die Milizionäre geschossen wird und 19 sterben. Auf die Menge vor der Casa de Cultură wird ebenfalls geschossen, sie flieht in Panik.
12.30 Nach der Flucht der Ceaușescus kommt es in Sibiu zu weiteren Schießereien zwischen Armee, Securitate und "Terroristen", die über 43 Tote fordern, unter ihnen auch Zivilisten und Demonstranten. Der Sitz der Securitate in Sibiu in unmittelbarer Nachbarschaft zur Armee wird 4 Stunden lang mit unterschiedlichen Waffen angegriffen, bis das Gebäude weitgehend zerstört ist. Hauptverantwortlicher für das Verhalten der Armee ist Leutnant Aurel Dragomir, der dem Kreisparteivorsitzenden Nicu Ceaușescu, Sohn des geflohenen Diktators, nahesteht.
Unentdeckte Scharfschützen belegen immer wieder Straßen mit Gewehrfeuer. Die Armee setzt auch Panzer und Geschütze gegen bestimmte Gebäude ein, die völlig zerstört werden.
Zudem hält sie mehr als 500 Personen in einer Sporthalle und einem leeren Schwimmbad fest, die als "Terroristen" bezeichnet werden. Es kommt bei dieser bis in den Januar dauernden Freiheitsberaubung zu Mißhandlungen und Verletzungen.
Zum blutigen Chaos in Sibiu tragen auch die während der Dauersendung des TVRL in Bukarest verbreiteten Gerüchte wie, dass das Wasser in Sibiu vergiftet sei, ebenso bei, wie die Suggestion einer von der Securitate angegriffenen Armee, die es zu verteidigen gelte. Mehrere Generäle fordern im TV ihre Kollegen auf, das "Gemetzel" zu beenden.
Im besetzten TVRL in Bukarest treten aufgeregte Redner mit Appellen, Informationen, politischen Statements, praktischen Vorschlägen auf. Petre Roman, Silviu Brucan, Mircea Dinescu, Ion Caramitru, mehrere Generäle, Priester, u.a. wirken bis in den Abend auf die Zuschauer ein, der Nachrichtensprecher Marinescu liest nun die Kommuniqués der Revolutionäre in die Kameras.
17.00 Nach einem Treffen mit den wichtigsten Militärs hält der frühere Minister für Jugend, Ion Iliescu, eine Rede vom Balkon des früheren ZK-Gebäudes in der er die Armee zur einzigen Ordnungskraft erklärt. Einige Zeit danach beginnen auf dem Platz Schüsse zu fallen.
Es bestätigen sich Nachrichten, dass das Ehepaar Ceaușescu in einer Dacia bei Târgoviște gefasst worden sei und in einer Armeeeinheit gefangen gehalten werde.
22.00 Im TVRL in Bukarest wird der gefangengenommene Sohn Nicu Ceaușescu, Parteichef von Sibiu, präsentiert.
23.00 Iliescu verliest im TVRL das Manifest des Frontul Național de Salvare, der von der Armee unterstützt werde und alle "gesunden Kräfte" des Landes umfasse. Alle Organisationen der Regierung des Ceaușescu-Clans seien aufgelöst, freie Wahlen für den April 1990 vorgesehen.
Am Abend und in der Nacht auf den 23. Dezember lassen die Attacken auf die Universitätsibliothek und den nun als Nationalmuseum funktionierenden früheren Königspalast nicht nach. Beide Gebäude geraten nach Beschuss durch Panzer in Brand, eine große Zahl wertvoller Gemälde, Tapisserien, Bücher, Handschriften, wird zerstört.
Samstag, 23. Dezember 1989
0.00 In Târgoviște wird die Militäreinheit 01714 angegriffen, in der Nicolae und Elena Ceaușescu gefangen gehalten werden.
In der Nacht brechen in den größeren Städten wie Temeswar, Cluj, Sibiu, Brașov und Bukarest Schießereien aus, deren Ursachen nicht genau auszumachen sind. Allgemein wird von "Terroristen" als Angreifern gesprochen, die skrupellos und ohne erkennbares Motiv auf Zivilisten, Soldaten Securitate, Miliz, in Häuser, Wohnblocks, Krankenhäuser schießen. Bewaffnete und wenig informierte Zivilisten beteiligen sich an den Kämpfen. In Brașov sterben in dieser Nacht 39 Menschen, nachdem die Armee - wie in Sibiu - gegen Vorlage des Personalausweises Waffen an Zivilisten ausgegeben hat. In der Banater Industriestadt Reșița, in der bis dahin die Demonstrationen keine Auseinandersetzungen mit den Ordnungskräften verursacht hatten, beginnen in der Nacht ebenfalls tagelange Gefechte, in deren Verlauf 25 Menschen sterben.
6.30 Bukarest: In 3 Autobussen werden Gendarmen, Armeeschüler und Wehrdienstleistende zum Flughafen Otopeni transportiert, um eventuelle Terrorattacken abzuwehren. Bei ihrer Ankunft werden sie noch in den Bussen aus verschiedenen Richtungen beschossen. In 10 Minuten sterben 22 Insassen, weitere Gefechte fordern am Flughafen das Leben von 15 Menschen. Zunächst wird als Ursache eine mangelhafte Kommunikation zwischen Armee und den Gendarmen vermutet, später eine gezielt geschürte Hysterie wegen möglicher "Terroristen".
Die Kämpfe um das Nationalmuseum und die Bibliothek halten an. Beide Gebäude stehen in Flammen, während sich auf den Straßen die Menschen hinter Panzern verschanzen.
In Sibiu wird weiterhin geschossen: Es herrscht Verwirrung, Chaos, Gerüchte unterschiedlichster Art machen die Runde. Aus den Dachfenstern (den "Augen von Hermannstadt") schießen Unbekannte, es wird wahllos zurückgeschossen, Panzer zerstören Gebäude, in denen "Terroristen" vermutet werden, Helikopter jagen Menschen, Zivilisten werden von Scharfschützen auf den Straßen erschossen, die mit Geschosshülsen übersät sind (nach einer plausiblen Schätzung wurden in den Tagen der Revolution in Sibiu über 2 Millionen Patronen benutzt).
In weiteren Städten kommt es zu weniger gewalttätigen Demonstrationen und Versammlungen.
23.30 Uhr Gegenüber dem Sitz des Verteidigungsministeriums in Bukarest an der Straße Drumul Taberei sind Panzer zur Verteidigung aufgestellt. Die Insassen von auf Befehl des reaktivierten Generals Nicolai Militaru herbeigerufenen leicht gepanzerten Fahrzeugen der U.S.L.A (Unitatea Specială de Luptă Antiteroristă) werden zu "Terroristen" erklärt und zusammengeschossen. Die 8 Toten (unter ihnen lt. col. Gheorghe Trosca, von dem es heißt, er sei an der Enttarnung von Militaru als Agent des KGB beteiligt gewesen) bleiben tagelang auf der Straße liegen, der abgetrennte Kopf von Trosca auf der Motorhaube eines Fahrzeugs ausgestellt. Die Zeitung România Liberă erklärt die Toten zu "Söldnern". Militaru wird zwei Tage später von Iliescu in der von Petre Roman geleiteten ersten postrevolutionären Regierung zum Verteidigungsminister erklärt.
Sonntag, 24. Dezember 1989
Der Consiliul Frontului Salvării Naționale und ein Comandamentul Militar Unic teilen über TVRL und Radio mit, dass "aus militärischer Sicht die Situation in der Hauptstadt und den Kreisen des Landes sich unter Kontrolle befindet. Zu dieser Stunde führen unsere Armee, Einheiten der Miliz und des Inneren Operationen zur raschen Lösung der Probleme, die noch bestehen, aus, um die Nester der Terroristen zu neutralisieren."
An einzelnen Punkten in den großen Städten wird noch geschossen, zugleich finden bereits Aufräumarbeiten statt.
Foto: www.kultro.de
Montag, 25. Dezember 1989
13.20 In der Garnison Târgoviște findet ein außerordentlicher Militärprozess gegen das Ehepaar Ceaușescu statt. Aus Bukarest sind auf Betreiben des Frontul Salvării Naționale (FSN) in mehreren Helikoptern ein Militärstaatsanwalt, Richter, Verteidiger, Schriftführer, Schöffen angereist. Die Anklage gegen Nicolae und Elena Ceaușescu lautet auf Genozid, gewaltsame Zerstörung kommunaler Einrichtungen und Gebäude während der Revolution, Zerstörung der Ökonomie, Deponierung von mehreren Hundert Millionen Dollar auf ausländischen Konten zur Fluchtvorbereitung. Ceaușescu erkennt das "tribunal poporului" (Volksgericht) nicht an.
Das Urteil lautet auf die Todesstrafe durch Erschießen und wird um 14.50 Uhr vollstreckt.
In den nächsten Stunden und Tagen lassen die Kämpfe in den Städten allmählich nach.
Vom 15. Dezember 1989 bis zum 22. Dezember wurden durch die Repression in Rumänien 271 Menschen getötet, vom Nachmittag des 22. Dezember (Flucht Ceaușescus) bis zum 25. Dezember (Hinrichtung) 715, nach dem 25. Dezember 113 (bei 67 Opfern konnte das genaue Todesdatum nicht festgestellt werden). Insgesamt 1166 Tote.
*
29 Jahre nach den Ereignissen erhob auf Basis eines Urteils des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte das höchste rumänische Gericht Anklage gegen den früheren Staatspräsidenten Ion Iliescu und 3 weitere Beschuldigte wegen ihrer Rolle bei den Kämpfen gegen "Terroristen" nach dem 22. Dezember 1989.
Privates und Öffentliches
Der Schriftsteller Jan Koneffke und seine ganz private Seite von Bukarest
Abb. Screenshot tvr.ro/youtube.com
Im dritten Beitrag der Reihe "Mein Bukarest" erinnert Jan Koneffke an seine erste Ankunft in der Stadt Anfang der 1990er Jahre, als er an einer Schriftstellerkonferenz teilnahm und Nora Iuga kennenlernte. Aber als er Jahre später wieder in die Metropole an der Dîmbovița kam, war er an die Stadt gefesselt durch die Liebe ...
Private Einsichten und Koneffkes Verbundenheit mit Bukarest führen auch in dieser wieder sehr sehenswerten Folge der Reihe zu anregend-eigensinnigen Schlaglichtern.
https://www.youtube.com/watch?v=bM1Ynd4GWnI&list=PLxO8-C91Lp90Zv2wgnrpbE3yxZnGN9F2Q&index=1
Bukarest de altă dată
Jan Koneffke weist auf die verborgenen Preziosen der rumänischen Hauptstadt hin
Abb. Screenshot tvr.ro/youtube.com
Nur wenige kennen hierzulande Bukarest. Der Ruf der Stadt an der Dâmbovița ist nicht der beste, auch in Rumänien nicht. Dass diese Skepsis oft auf Nichtwissen basiert, möchte der in Bukarest lebende Schriftsteller und Dichter Jan Koneffke ändern. In Zusammenarbeit mit dem Goethe-Institut stellt er in der deutschen Sendung Akzente auf TVR in anschaulichen Miniaturen besondere Gebäude und Geschichten der Millionenstadt vor. Zwei Beiträge sind bisher erschienen und können auf dem Youtube-Kanal von Akzente im Internet angeschaut werden, weitere sind in Vorbereitung.
Die beiden stimmungsvollen Reportagen widmen sich einmal der Casa Storck in der strada Vasile Alecsandri, die mittlerweile zu einem prächtigen Museum renoviert wurde. Hier lebten die Malerin Cecilia Cuțescu-Storck und ihr Ehemann, der Bildhauer Frederic Storck. Koneffke weiß geschickt die Lebensgeschichten der beiden Künstler mit einer Geschichte des Hauses und der damaligen Epoche vor und nach dem Ersten Weltkrieg zu verbinden. Ebenso gilt dies für den Beitrag, der die Orte des Schriftstellers Mihail Sebastian (Iosif Hechter) aufsucht und dessen berühmtes (auch ins Deutsche übersetzte) Tagebuch von den 1930er Jahren bis zu seinem frühen Unfalltod 1945 in der Topographie der Stadt verortet. In den beiden Filmen knüpfen Querverbindungen und Zeitfäden ein faszinierendes Netz von der Geschichte dieser Stadt und ihren Bewohner*innen.
https://www.youtube.com/watch?v=xdluiT6ca5U (casa Storck)
https://www.youtube.com/watch?v=i09buPFYCFE (Mihail Sebastian)
"We love football and
we miss important games"
Fußball in Rumänien
von
Volkmar Hoffmann
Abb: FC Voluntari/©Volkmar Hoffmann
Es war Anfang Oktober 2019, ein Samstag um 11 Uhr in Colentina, einem von chinesischen und arabischen Einwanderern geprägten Stadtteil am Ostrand von Bukarest. Zweitligaspiel zwischen ACS Daco–Getica Bucureşti und FC Dunărea Călăraşi im Stadionul Colentina, das versteckt zwischen in den 1970-ern und '80-er Jahren gebauten acht- bis zehnstöckigen Wohnblöcken liegt. Ein großer, meine siebenbürgische Stiefmutter würde sagen stattlicher Mann um die Fünfzig, mit einer nach allen Seiten ausufernden, weinroten Strickmütze, in dickem Anorak, Schal und Polyestertrainingshose. Vor Spielbeginn hatte er sich einen mitgebrachten Pappkarton auf einen der Hartplastikschalensitze gelegt, seinen Regenschirm und eine Unmenge von gut gefüllten Plastiktüten daneben gelagert, aber gesessen war er kaum. Die meiste Zeit stand er ganz oben, auf einem Sitz in der letzten Reihe, auf Höhe der Mittellinie, in seinen Händen zwei Fahnenstangen mit der rumänischen Flagge, die er aus Halterungen im Stadion gezogen hatte. Er sang lautstark die rumänische Hymne mit und schwenkte dabei ausgiebig die Fahnen. Nach der Einspielung steckte er sie wieder zurück. Einmal, als seine Mannschaft augenscheinlich nicht in die Gänge kam, griff er in eine seiner Tüten und bot einem Daco-Stürmer zur Stärkung eine überreife Banane an. Trotz seiner Lautstärke hatte er nichts Aggressives, er schien vieles eher scherzhaft zu meinen, zumindest amüsierte sich eine jüngere Frau in seiner Nähe köstlich.
Aber warum war sein Anfeuerungsruf Juventus, Juventus, wo der Verein doch Daco–Getica hieß? Einige Tage später, eine Sportsbar im Zentrum von Bukarest. An den Wänden ein paar Fotos und Wimpel der erfolgreichsten rumänischen Clubs, vor allem aber Devotionalien der beiden Mailänder Fußballvereine und von Juventus Turin. Ich hatte mich mit meinem Fußballfreund Radu und seinem Vater getroffen um mehr über den rumänischen Fußball zu erfahren. Die EM – mit vier Spielen in Bukarest – stand vor der Tür, die Chancen, dass Rumänien sich doch noch dafür qualifizieren könnte, gingen gegen Null. Ich wollte wissen, wie das so ist, mit der Begeisterung für so ein Event, wenn das eigene Team nicht beteiligt ist. Aber zuerst mussten sich beide meine Begeisterung über den einsamen, unermüdlichen und witzigen Fahnenschwinger anhören. Did you hear the national anthem at the beginning? Ähm, ja schon – aber das machen die Amis auch. But thats not usual in second league games! Do you know, that this club is known for their use of xenophobic symbols and songs, and that the owner, who is known in Bucharest as the trash king, has spent some time in jail? Nein, hatte ich nicht. Aber dass in Rumänien bereits etliche Manager und Besitzer von Profiklubs wegen Steuerhinter-ziehung, Geldwäsche oder Korruption verurteilt worden waren, wusste ich natürlich.
Drei Spieltage später wurden die bisherigen Ergebnisse von Daco annulliert. Der Präsident – oder war's der Manager, oder der Eigentümer, oder alle drei in Personalunion? – war während eines Spieles in der Halbzeitpause verhaftet worden. Die Spielergehälter konnten nicht mehr gezahlt werden, der Spielbetrieb wurde eingestellt.
Daco–Getica Bucureşti. Im Jahr zuvor erst aus den
Überbleibseln von Juventus Colentina Bukarest gegründet, nachdem diesem Verein nach jahrzehntelanger Duldung von Juventus Turin untersagt worden war, den Namen
sowie Trikotdesign und Vereinslogo weiterhin zu nutzen. Ein Name übrigens, der in Colentina überhaupt keine Geschichte hatte, sondern auf zwei italienische Einwanderer zurückgeht, die in 1924 den
Verein Juventus Bukarest gegründet hatten, der 1952 nach Ploieşti weiterzog und seitdem dort als Petrolul Ploieşti spielt. Ein Einzelfall?