Last Christmas (of Ceaușescu)
Ein Fotoband lotet historische Tiefen aus
Bevor das eigentliche Titelblatt aufgeblättert wird, erscheint eine Fotomontage: Ceaușescu im offiziellen schwarz-weißen Porträt, aber ohne Gesicht, das von einer weißen Fläche eingenommen wird. Eine fast schon klassische Darstellung mit
Konnotationen in Richtung der Gesichtslosigkeit des
von Ceaușescu repräsentierten und beherrschten Regimes, der Anonymität der Macht, ihrer fehlenden Menschlichkeit,
aber auch als Erinnerung an die Tage der "Revolution", als aus den Fahnen das kommunistische Symbol von Hammer und Sichel ausgeschnitten wurde. Es folgen sehr passend
abgedruckt die Hallo-Rufe
des Diktators bei seiner letzten Rede kurz vor Weihnachten 1989 – echolose Ansprachen, wie sie üblich waren in der Diktatur, hier aber endgültig die tödliche Einsamkeit des "conducător"
anzeigend. Dieses Text-Motiv wird bildlich umgesetzt in einem Foto, das eine alte Olympia-Schreibmaschine zeigt mit einem eingespannten Blatt Papier, auf dem groß "ALO" zu lesen ist. Wie der
Fotograf erläutert, erinnert die Schreibmaschine an den Vater in Bukarest, den er "jedes Jahr um Weihnachten herum exzessiv darauf klappern hörte, die gesamte Klaviatur durch, aaaa, bbbb, ccccc,
Taste für Taste, wurde zeilenweise wiederholt, um ihre charakteristische Zeichenspur akkurat aufzunehmen und bei der miliția zu hinterlegen, Jahr für Jahr. Er musste persönlich samt
Schreibmaschine im Revier antreten und vor Ort einen vorgegebenen Text abtippen."
Dem Fotografen Anton Roland Laub gelingt bereits auf diesen ersten Seiten dieses fasnzinierenden Fotobuchs, die Komplexität seiner Herangehensweise ebenso zu demonstrieren wie auch die Sorgfalt bei der Umsetzung von in die Vergangenheit lauschenden Fotografien und Montagen. Aus verschiedenen Fotoserien aus dem Zeitraum von 2015 bis 2020 komponiert Laub seinen eindringlichen medienreflexiven Blick auf die Welt des/der DiktatorIn, der sehr subtil und variantenreich die Atmosphäre und Mentalität der 25 Jahre währenden Herrschaft des Ehepaars evoziert. Laub hat auch Aufnahmen vor Ort gemacht – wie sich nach dem überzeugenden Auftakt erwarten lässt aussagekräftige Detailaufnahmen etwa von muffigen Räumen aus den Villen der beiden Diktatoren, die jenes Stilideal des "opulenten Kitsches" der Emporkömmlinge erahnen lassen: den verstaubten Plüsch, die Intarsienporträts, den Schrank voller Pelzmäntel, Puppenmannequins mit den offiziellen Kleidungen des Paares. Eine Aufnahme zeigt in einer Ecke eines offenbar sehr großen Raumes eine leere Thekentruhe und an der Wand eines jener esoterisch-spirituellen Gemälde, die den Maler Sabin Bălașa noch nach dem Ende des Regimes zu einem der bestbezahlten des Landes machten (z.B. an der Universität Iași).
Im Kontrast dazu stehen Aufnahmen aus dem Raum des improvisierten Militärgerichts der Kaserne in Târgoviște, das das Ehepaar zum Tode verurteilte und hinrichten ließ: primitive Stühle mit Metallrohrbeinen, heruntergekommene Wände, die in allen Institutionen obligatorischen Spitzenvorhänge – ein Ende unter miserablen Umständen. Und zwischen den Fotoserien immer wieder Detailaufnahmen der Olympia-Schreibmaschine auf dem leeren Farbhintergrund der Greenscreens, die auf die Literatur und die Zensur, die Überwachung verweisen.
Weitere Montagen legen auf das TV-Grieselbild von der Unterbrechung von Ceaușescus letzter Rede Aufnahmen vom Prozess oder den Zuschauern auf dem Platz vor dem ZK in Bukarest – eine
Anspielung auf jene These Andrei Ujicăs von der "Tele-Revolution", die die Ereignisse 1989 kennzeichnete als einem vor allem durch das Fernsehen und seine Manipulationsmöglichkeiten bedingten und
geprägten Aufstand.
Zwei Texte von Herausgeberin Frizzi Krella und Lotte Laub nehmen (für mit dem Land nicht vertraute BetrachterInnen) den historisch-kulturellen Hintergrund in den Blick, wenn auch wieder einmal das Vampir- und Dracula-Motiv ins Spiel gebracht wird, das in der Ceaușescu-Epoche kaum präsent war.
Laubs Präzision, handwerkliche Perfektion und reflektierte Herangehensweise machen diesen Band zu einer
außergewöhnlich aussagekräftigen fotografischen Expedition in eine Vergangenheit, deren äußere Präsenz auch heute noch zu sehen ist. Es genügt die Versenkung in diese Bilder, um vieles von der
damaligen Atmosphäre und ihrer seinerzeitigen bildlichen Repräsentation heute noch/wieder aufzunehmen. Der Verlag hat den Band in ein zeittypisches rotes Kunstleder mit Goldaufdruck gebunden, das
in seiner Retroanmutung bereits auf die Bilder Laubs vorbereitet. Ein ästhetisch kompaktes und dennoch äußerst vielschichtiges Fotobuch.
Anton Roland Laub: Last Christmas (of Ceaușescu).
Hg. v. Frizzi Krella. Texte von Frizzi Krella u. Lotte Laub, deutsch/englisch.
Kehrer Verlag Heidelberg 2020, 143 Seiten, ISBN 978-3-96900-013-7
Leporello und Fototapeten
Eine sehenswerte Ausstellung rumänischer Fotografie
©Dani Gherca, High Voltage Lab – interior [part of the Becoming Urbanized series], Inkjet print on Photo Rag Baryta, Paper mounted on aluminium, 150 x 190 cm
Die Betonmauer läuft genau auf den/die BetrachterIn zu, schmal, links Wasser eines Sees, Flusses oder gar des Meeres, rechts der Schatten einer merkwürdig geometrischen Ausbuchtung, so dass das großformatige Foto aus einiger Entfernung wie die geometrische Figur eines Sphäroids aussieht und den Blick auf sich zieht. Es handelt sich um eine der "Synapsen", die der rumänische Künstler Iosif Király wie ein Band aneinandergereiht hat und die eigentlich eine sich überlappende Montage von mehreren Fotos bilden, die nur scheinbar eindeutig Ufer an der Donau oder am Meer abbilden. Diese Arbeit von Király (Synapses), der mit Călin Dan und Dan Mihălțianu einst die Künstlergruppe subREAL bildete, fügt sich ein in weitere fotografische Auseinandersetzungen mit dem Alltag und der Umwelt Rumäniens, die bis 22. August in der Kommunalen Galerie Wilmersdorf zu sehen sind.
Ebenfalls als Fries sind die s/w-Aufnahmen des Kunst-Altmeisters Ion Grigorescu angeordnet, in 3 kurzen nebeneinander gereihten kleinen Aufnahmen von Interieurs der 1970er Jahren. Wie durch einen Türspion mit Fischaugenobjektiv geben sie diffusen Einblick in das Atelier, die Küche, das Kinderzimmer (At Home: Balta Albă 1980; At Home: Mozart 49; Me in the Studio) - eine vergangene Zeit, die sich mit nicht wenigen der in der Ausstellung vertretenen FotografInnen kreuzt.
Gleich eingangs des Saales dominiert die blassfarbige wandfüllende
Ansicht eines Hotelinterieurs, das wiederum von einer verblichenen Fotowand dominiert wird, auf der junge Menschen aus dem Meer auf den BetrachterIn zulaufen - beides zusammen zugleich die
melancholische Tristesse des realsozialistischen Alltags mit ihren kleinen Freuden aufrufend wie auch den Urlaub am Meer als einen Erinnerungsort (Hotel Vedea).
In die rechte untere Ecke der Wand projiziert Nicu Ilfoveanu mit einem Diaprojektor zudem kleine s/w-Alltagsaufnahmen (Elektro+).
Den Projektor ersetzt Patricia Moroșan durch den Beamer - um aber ebenfalls eine körnige s/w-Super-8-Aufnahme eines alten Paars, das einen Hügel
hinaufläuft, zu zeigen. Auch ihre auffallende Installation mit von der Decke herabhängenden Bahnen aus fast textilfaserigem Papier und darauf gedruckten s/w-Fotos ruft eindeutig die Vergangenheit
auf (symptomatischer Titel: Re/Turn). Gegen die Projektion entschied sich Decebal Scriba für das gerahmte Tableau, in dem er
s/w-Originalpapierabzüge sauber angeordnet präsentiert, eine familiäre soziale Praxis der Fotografie imitierend (Suite #1 Monads). Eine andere Form hat
Mircea Stănescu für seine s/w-Papierfotos aus der Welt der klassischen Avantgardefotografie mit scharfen geometrischen Schattenspielen und Schriften gewählt: Seine Präsentationsform
des Leporello verweist bereits auf das Prinzip der Anhäufung von archiviertem Material - Fotografie als Massenartikel.
Klassische Großfotografie hingegen in der Hilla und
Bernd Becher-Nachfolge bietet Dani Ghercă mit den Farbaufnahmen von ebenso science-fiction-mäßig wie postmodern wirkenden riesigen Apparaturen einer
Elektrizitätsanlage und der Außenansicht der Halle. Verlassen und faszinierend zeigt sich diese Vergangenheit vielleicht bereits auch als Zukunft (Becoming Urbanized). Aktuell wirkt die Serie Botanică von Ioana
Cîrlig in ihrer Auseinandersetzung mit Natur und Technik. Statische Aufnahmen zeigen ein
altes Gewächshaus mit seinen weiblichen Angestellten, aber auch Detailaufnahmen der unberührt keimenden Pflanzen oder zarten Gebilden, die durch zerstörerisches Plastikgewebe scheinbar umworben
werden - letztere Aufnahmen durch Hintergrundlicht in ein irisierend helles und intensives Leuchten gebracht.
Dienstag - Freitag 10 - 17 Uhr
Mittwoch 10 - 19 Uhr
Samstag u. Sonntag 11 - 17 Uhr
Jenseits des rumänischen Traums
Fotografien von
Mihai Barabancea
©Mihai Barabancea, "Falling on Blades", Edition Patrick Frey, 2020
The light shines only through the people who have cracked. (Das Licht scheint nur durch die Menschen, die gescheitert sind.) Mit diesem ersten Satz eines eigenwilligen, an das Kino der Dark Science Fiction erinnernden Textes auf dem Frontispiz dieses schonungslosen Fotobandes wird so etwas wie die künstlerische Haltung ausgedrückt, die den Fotografen Mihai Barabancea bei seinen Aufnahmen leitet: Die Kamera scheut nicht vor dem Krassen und vermeintlich Unschönen zurück, sondern findet gerade erst dort ihre Motive und Themen. Sie entlarvt die nur zu oft ausgeblendete Realität jener Sektoren einer Gesellschaft, die in ihrer Anstrengung nach Wohlstand und Rechtschaffenheit erstarrt ist. Und sie nimmt das Groteske wahr, wo es sich im Alltag bietet. Ein Foto zeigt die fast surreal wirkende Ansicht von als antike römische Soldaten verkleideten Männern, die an einem Prozessionsspiel teilnehmen. Es fehlt auch nicht das Motiv der Lackschnüffler – aber hier gehört die Plastiktüte mit dem Stoff zu einer fast spielerisch wirkenden Inszenierung in silbern glitzerndem Anzug – wenn nicht die Augen des Schnüfflers eine andere Geschichte andeuteten. Mehrfach sind die Zähne von Menschen und Tieren zu sehen, einmal kommt ein Hund der Kamera so nahe, dass man um das Wohlergehen des Fotografen fürchten muss. Aggressionen und Blut gehören allenthalben zur Darstellung.
Zweigeteilt ist der Band in Tag- und Nachtaufnahmen. Wo am Tag bereits viel nackte Haut mit vielen Tattoos zu sehen ist, dazu das Groteske des Alltags in Unfällen und Ritualen, der Schmutz der Zivilisation, ihre Aggressionen und Freuden gezeigt werden, ist im Dunkel der Nacht die Spirale des Obszönen, Gewalttätigen, Außergewöhnlichen, Abseitigen noch einmal weitergedreht. Seltsame und eindeutige Bilder aus den Bereichen der merkwürdigen menschlichen Aktivitäten jenseits der im Tageslicht noch gezügelt erscheinenden Verhaltensweisen. Man fragt sich, auf welchen "Partys" der Fotograf zu seinen Fotos kam.
Wenn man diese Fotosammlung auf eine eher theoretische Ebene heben möchte, könnten sie als das gelesen werden, was da ist, aber nicht mehr unter die Augen der "transformierten" neuen europäischen Gesellschaft Rumäniens (aber auch der Republik Moldova) treffen darf. Eine Art Albtraum im sozialen Haushalt der Bilder, die Rumänien/Moldova von sich selbst macht. Diesen zu zeigen und zu Wort bzw. zu Bild kommen zu lassen, ist nicht das geringste Verdienst dieses außergewöhnlichen Fotobandes. Zumal die Ästhetik der Drastik in der rumänischen Kultur seit langem angelegt ist, wie die Aufnahme eines sich anlässlich einer Folkloretradition mit Wolfsmasken verkleideten Paares nahelegt.
Bei längerer Betrachtung wird neben dem dokumentarisch-naturalistischen Ansatz auch eine tieferliegende Dimension erahnbar. Es sind vergleichbare Gegenstände und Gesten, die lediglich am Tag anders aussehen als in der Nacht. Es zeigt sich, dass über das Skandalös-Obszöne hinaus hier in den Fotografien etwas im Bild festgehalten wird, als ginge es um eine Meditation über das menschliche Tun.
Entsprechend den schrill-außergewöhnlichen Thematiken des Fotografen Barabancea hat der Verlag die Aufnahmen in ein aufwendiges und auffälliges Großformat gehüllt. Ein silberner Rundumschnitt und die silberne Titelschrift entsprechen einigen der gezeigten Fotomotive; die Schrift des Textes ist eine fette Signs/Maxitype; der Rücken wurde freigelassen und gibt den Blick auf die rohen Klebebünde frei; die Fotos sind oft doppelseitig ohne Rand gedruckt und entsprechend wirksam. Der Band hat alle Voraussetzungen für einen Klassiker des Untergrunds.
Mihai Barabancea: Falling On Blades.
144 Photographien.
Mit einem Text von Mihai Barabancea.
Edition Patrick Frey, Zürich 2020, ISBN 978-3-906803-95-1
Erstmals rumänische Oscar-Nominierungen!
Alexander Nanau
in 2 Kategorien vorgeschlagen
Foto: MDR
Der Dokumentarfilm Colectiv von Alexander Nanau (produziert von
Alexander Nanau mit Colectiv
auf Oscar-Shortlist
Foto: MDR
Der vom MDR mitproduzierte Dokumentarfilm über den Brand im Bukarester Club Colectiv und die skandalösen Zustände in den rumänischen Krankenhäusern wurde auf die 15 Filme umfassende Shortlist der Academy Awards (Oscar) für den besten Dokumentar-Film und auch für den besten internationalen Film gesetzt. Der eindringlich-schonungslose und vielschichtige Film erhielt bereits den Europäischen Filmpreis. Regisseur Nanau folgt darin dem Journalisten Cătălin Tolontan von der Sportzeitschrift Gazeta Sporturilor bei seinen Recherchen über die Ursachen des Todes von zahlreichen Überlebenden des Brandes in den Krankenhäusern. Er findet dabei heraus, dass eine Chemiefirma seit Jahren die von ihr hergestellten Desinfektionsmittel verdünnte und daher die Resistenz gegenüber Keimen verringert war. Der Firmeninhaber beging während der Untersuchungen Selbstmord, der Gesundheitsminister trat zurück.
Der Film wird am 21. März 2021 im MDR ausgestrahlt, bis dahin ist er in der MDR-Mediathek abrufbar.
OLGA LUCOVNICOVA GEWINNT GOLDENEN BÄREN!
Foto: Berlinale
Die moldauische Regisseurin Olga Lucovnicova hat bei der Berlinale 2021 den Goldenen Bären für Kurzfilme gewonnen. Mit ihrem Drama Nanu Tudor (Onkel Tudor), das Kindesmissbrauch in der Familie thematisiert, hat Lucovnicova aus 20 WettbewerberInnen den Hauptpreis erhalten. In ihrem Film "[fängt] in intimen Nahaufnahmen die Kamera ein Idyll ein, das wie aus der Zeit gefallen wirkt: reife Kirschen, Schwarz-Weiß-Fotografien und ein Sommerhaus voller Erinnerungen an scheinbar unbeschwerte Kindheiten mehrerer Generationen. Die alten Tanten erzählen von früher und auch Onkel Tudor beantwortet die Fragen der Filmemacherin. Nach und nach konfrontiert sie ihn mit ihrem Trauma, das er zu verantworten hat."
Lucovnicova hat den Kurzfilm in belgisch-portugiesisch-ungarischer Koproduktion mit einem Stipendium an den Universitäten in Budapest und Lissabon alleine fertiggestellt. Seit 2013 hat sie mehrere Kurzfilme gedreht. Lucovnicova wurde 1991 in Chișinău geboren und wandte sich nach einer Ausbildung als Buchhalterin der Fotografie und dem Filmstudium an der Academia de Muzică, Teatru și Arte Plastice din Chișinău zu, zu dessen Abschluss sie das Stipendium in Belgien, Portugal und Ungarn erhielt. Ihr Film erhielt in Belgien bereits eine Auszeichnung durch den Fonds audiovisuel flamand (VAF).
RADU JUDE GEWINNT GOLDENEN BÄREN!
Foto: microFilm
Der rumänische Regisseur Radu Jude hat bei der Berlinale mit seinem Film Babardeală cu bucluc sau porno
balamuc (Bad Luck Banging or Loony Porn) den Goldenen Bären für den besten Film gewonnen. Der Film zeigt eine Satire über eine Lehrerin, die mit einem privaten Sexvideo
plötzlich im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit steht. Die Begründung der Jury (Ildikó Enyedi, Nadav Lapid, Adina Pintilie, Mohammad Rasoulof, Gianfranco Rosi, Jasmila Žbanić):
„Der Goldene Bär geht an einen Film, der die seltenen und grundlegenden Eigenschaften eines beständigen Kunstwerks besitzt. Es fängt auf der Leinwand den eigentlichen Gehalt, die Quintessenz,
Geist und Körper, die Wertvorstellungen und das nackte Fleisch unseres gegenwärtigen Augenblicks ein. Genau dieses Augenblicks menschlichen Daseins. Er tut das, indem er den Zeitgeist
heraufbeschwört, ihn ohrfeigt, zum Duell herausfordert. Und damit hinterfragt er auch den gegenwärtigen Zeitpunkt im Kinofilm, indem er mit derselben Kamerabewegung unsere gesellschaftlichen und
filmischen Konventionen erschüttert.
Es ist ein kunstvoll ausgearbeiteter Film, der zugleich ausgelassen ist, intelligent und kindisch, geometrisch und lebendig, auf beste Art ungenau. Er greift die Zuschauer*innen an, ruft
Widerspruch hervor, und erlaubt doch niemandem, Sicherheitsabstand zu halten.“
Bereits vor der Berlinale hatte der Film begeisterte Kritiken erhalten. Verliehen wird der Preis an die Produzentin des Films, Ada Salomon.
Radu Jude war im vergangenen Jahr mit dem zusammen mit dem Historiker Adrian Cioflâncă gedrehten Film Ieșirea trenurilor din gară über das Pogrom von Iași und einem Film über die Unterdrückung während der Ceaușescu-Diktatur (Tipografic Majuscul) bei der Berlinale vertreten. 2015 gewann Jude den Silbernen Bären der Berlinale für die Regie von Aferim!. Nach Călin Peter Netzer (Poziția copilului, 2013) und Adina Pintilie (Touch me not, 2018) gewinnt damit innerhalb weniger Jahre bereits der dritte rumänische Beitrag den Hauptpreis der Berlinale.
Das eigene Leben der Kranken
Radu Judes gelungenes M. Blecher-Portrait
Abb. HiFilms Prod./ Zeughauskino
Die Krankheit des jungen Mannes wird gleich benannt: Morbus Pott, die die Wirbel auffrisst. Und einen Abszess im Bauch diagnostiziert der joviale Arzt auch noch, um ihn bald zu punktieren. Die Schreie des Patienten hallen durch die Gänge. Jude entwickelt wie auch in seinem früheren Film Aferim für das 19. Jahrhundert eine präzise Vorstellung, wie es in den 1930er Jahren in einem rumänischen Sanatorium am Schwarzen Meer zuging und ausgesehen hat, um den Raum zu schaffen, in dem sein Personal agiert. Und dieses Personal ist exzellent besetzt, um jene eigentümliche Atmosphäre jugendlicher Kranker in der geschlossenen Welt ihrer Krankheit zu gerieren, die Blecher in seinem Roman Inimi cicatrizate (1937) entworfen hatte. Eine Welt der Diskussionen, Partys, Hoffnungen und ihres Verlusts, des Todes und der Liebe... Die biographischen Zusammenhänge mit Blechers Krankheit und Sterben reduziert Jude geschickt und gewinnbringend nur auf das rumänische Sanatorium, der französische Kurort Berck-sur-Mer wird nur erwähnt, aber nicht Handlungsort. Genau so wenig die Stadt Roman, in der Blecher seine letzten Jahre unter grauenhaften Schmerzen schreibend verbrachte. Auch stürzt sich der Regisseur nicht in die qualvollen Ekstasen eines Dichters, der mit seiner Kunst ringt, um etwa somit der Krankheit einen Spiegel zu liefern. Vielmehr ist die Krankheit und ihre soziale Umgebung in dem Film das Thema, das, was die Krankheit an Institutionen, Verhaltensweisen, Denkmustern auslöst. Blecher ist, wie einst beim Stummfilm, vor allem in Zwischentiteln präsent, die hier aber als literarische Kommentare dienen. Ein thematisch klug reduzierter, optisch überzeugender Film!
Inimi cicatrizate
RO/D/FR/BE 2016, R: Radu Jude, B: Radu Jude, frei nach dem Roman von M. Blecher, K: Marius Panduru, D: Lucian Teodor Rus, Ivana Mladenovic, Marius Damian, 147'
Journalismus - zwischen Ost und West
Adrian Sitarus Parabel auf den Optimierungswahn: Fixeur
Abb. 4 Proof Film/ Zeughauskino
Der Journalist Radu arbeitet für AFP in Bukarest, spricht fließend Französisch, sitzt im neuen Büro in einem Glaskasten - und will als stromlinienförmiger "young urban professional" den Sohn der Freundin zu Höchstleistungen beim Schwimmen antreiben. Das gelingt nicht ganz, zeigt aber die Optimierungsideen einer jungen städtischen, gut bezahlten Bevölkerungsschicht.
Für einen Auftrag lässt er aus Paris einen Kollegen samt Kameramann kommen, um eine junge Prostituierte, die aus Paris ausgewiesen wurde, in Bistriţa (Bistritz) zu interviewen. Ein Scoop, wie er dem Franzosen klarmacht. Einige Telefonate, ein Besuch bei einem Verwandten im Ministerium, der der Leiterin des Mädchenheims klarmachen soll, dass die Journalisten Zugang zu dem Mädchen erhalten, die Sache scheint eingefädelt. Radu fährt seine Kollegen nach Bistriţa, er ist jetzt der Fixeur, der Stringer, der orts- und kulturunkundige Reporter aus dem Ausland vor Ort den Weg zur Story ebnen soll. Radu nimmt diese Rolle ernst, aber es wird der Moment kommen, wo ihm der Franzose klar macht, dass er nicht der Journalist, sondern der "Fixer" ist und keine Verantwortung für die Story habe. Denn irgendwann erkennt Radu, dass der Wunsch, eine Story zu gerieren, über der emotionalen Unversehrtheit des Mädchens steht. Er rät, die Sache abzubrechen, um das Mädchen nicht zu gefährden und nicht ihre weitere Traumatisierung zu befördern. Letztlich findet das Interview statt, "business as usual" - wenn auch möglicherweise kleine "Unebenheiten" im Gedächtnis bleiben.
Sitaru geht seine Geschichte leicht an, der Alltag ist zwar hin und wieder stressig für Radu und verlangt nach Kompromissen, aber Radu hofft immer, dass dieser Job erfolgreich abläuft. So bleibt es auf einer Ebene der Alltagsbeschreibung mit kleinen Dramen und Problemen, aber scheinbar ohne große Fallhöhe. Nur am Schluss wird etwas sehr durchsichtig die Haltung Radus hinsichtlich seines Erfolgsdenkens hinterfragt. Wie meist im rumänischen Film sind die SchauspielerInnen von besonderer Klasse (etwa Diana Spătărescu als Mädchen oder Adrian Titieni als einheimischer Polizist [Titieni wurde in Bistriţa geboren]). Sitaru weiß überzeugend, ein Stück rumänischer Gegenwart zu entwerfen.
Fixeur
(RO/FR 2016, R: Adrian Sitaru, B: Claudia Silisteanu, Adrian Silisteanu, K: Adrian Silisteanu, D: Tudor Aaron Istodor, Mehdi Nebbou, Adrian Titieni, 100')
Sieranevada ist überall
Puius Meisterwerk über den rumänischen "lieu de mémoire" 'Wohnblockapartment'
Abb. Mandragora SRL / Zeughauskino
Nicht erst seit Ingmar Bergmans Fanny und Alexander, Thomas Vinterbergs Das Fest oder Martin Scorceses Der Pate ist das familiäre Fest, das Zusammenkommen nach langer Zeit, die Intensität eines kurzen Zeitabschnitts von miteinander verbundenen Menschen ein häufig thematisiertes Motiv der Filmkunst. Lässt es doch präzise Erkundungen menschlicher Psyche, mikrosoziale Prozesse ebenso wie historische Brüche abbilden. Auch im rumänischen jungen Film ist dieses Motiv häufiger zu finden (etwa in Cătălin Peter Netzers Eröffnungsszene seines Berlinale-Siegers "Poziţia copilului). Selten wurde es aber so ausführlich und zugleich virtuos in Szene gesetzt wie von Cristi Puiu in Sieranevada. In dem Dreistundenfilm spielt der größte Teil der Handlung in einer gar nicht geräumigen Wohnung im 7. Stock eines Wohnblocks irgendwo in Bukarest. Dort treffen zusammen die Mutter, zwei Söhne, einer mit Ehefrau, eine Tochter, deren Ehemann und ihr Kleinkind, eine alte Kommunistin, eine Tante mit Sohn und Tochter und (später) Ehemann, ein Priester mit drei Assistenten, eine im Familienzusammenhang nicht definierbare junge Frau, die im Haushalt mithilft, aufeinander. Und eine serbische Drogenabhängige. Und eine Nachbarin, die die Pomană im Haus verteilen hilft.
Es geht also um ein Totenritual, das die Mutter für den seit Jahren verstorbenen Ehemann und Vater zu dessen Gedächtnis veranstaltet. Da scheint der Pope unentbehrlich, aber er verspätet sich und alle müssen auf das Essen warten. Außerdem möchte die Mutter, dass ein Totenritual aus der Heimat des Verstorbenen beachtet wird, wonach ein vom Popen gesegneter Anzug von einem der Erwachsenen getragen werden muss - was für einige Komik sorgt. Ironie strahlt auch der Hauptprotagonist Lary aus, ein gemütlich wirkender bärtiger früherer Arzt, der mit Medizintechnik erfolgreich ist. Er steht dem Vorgang distanziert gegenüber, macht ihn aber mit und verfolgt die größeren und kleineren Dramen, die Puiu in einer Tour de force in dieser kleinen Wohnung mit den vielen Türen zu inszenieren weiß. Je länger man diesem Treiben zuschaut, desto mehr wird man subtil mit hineingezogen in diese familiären Konstellationen aus Liebe, Hass, Unfähigkeit, Schwächen, Unverständnis, diese Gleichzeitigkeit des Ungleichen, wie sie jede/r in der ein oder anderen Form selbst einmal erlebt hat. Puiu geht es dabei nicht um billige Parteinahme auf Kosten der offensichtlich Altmodischen, moralisch Diskreditierten, irgendwie Verpeilten: Selbst die alte Kommunistin erhält ihr Mitspracherecht, wenn sie dem Protagonisten klar macht, dass sie noch vor seiner Geburt in dieser Wohnung seine Eltern besucht hat, diese also länger kennt als er selbst. Oder jener Sebi, der permanent ins Internet starrt und jeder Verschwörungstheorie zu 9/11 hinterherläuft. Keiner kann sich moralisch aufspielen, Puiu scheint auf eine Ethik des Alltagslebens abzuzielen, in der alles im Rahmen bleibt und dieser Rahmen doch permanent diskutiert wird - bis man vergisst, worum es 'eigentlich' geht. Seine virtuose Regie und vor allem Schauspielerführung geben dem Film eine Präsenz der Figuren, die so nahe an dieser Situation ist, wie sie nur sein könnte.
Sieranevada
(RO/FR/BA/HR/MK 2016, R/B: Cristi Puiu, K: Barbu Balasoiu, D: Mimi Branescu, Bogdan Dumitrache, Dana Dogaru, Ana Ciontea, 173')
"Rekonstruktion"
Radu Judes camouflierte Neuaufnahme von "Reconstituirea"
Abb: Hi Film Productions, Bukarest / Zeughauskino
Vor genau 10 Jahren begann im Berliner Zeughaus-Kino die erste Ausgabe einer Retrospektive der jungen rumänischen Filmkunst. Sie hieß nicht von ungefähr "Rekonstruktion" und zeigte neben den neuen Preziosen der jungen Rumänen wie "Moartea domnului Lăzărescu", "Poliţist, adjectiv", "4 luni, 3 săptămăni şi 2 zile" auch den Namen gebenden Klassiker der rumänischen Filmgeschichte: Lucian Pintilies "Reconstituirea" von 1969/70, der nach kurzem Start vom Regime verboten worden war. Er zeigt die staatsanwaltliche Rekonstruktion der Gewalttat zweier junger Männer, die gefilmt wird, um zur Abschreckung Jugendlicher vorgeführt zu werden.
Der Eröffnungsfilm der vierten Ausgabe 10 Jahre später, die insbesondere auch Filme von Radu Jude zeigt, greift auf Pintilies Rekonstruktion in vielfacher Weise zurück. Radu Jude erzählt in "Îmi este indiferent dacă vom intra în istorie ca barbari" (Es ist mir gleichgültig, ob wir als Barbaren in die Geschichte eingehen) ebenfalls die Geschichte eines "reenactements", wie sie in England oder den USA als Nachstellung eines Schlachtengeschehens sehr verbreitet sind. Was hier in Bukarest nachgestellt werden soll, ist die Eroberung Odessas 1941 mit den Massakern an der jüdischen Bevölkerung. Die Regisseurin Mariana Marin (so heißt auch eine rumänische Dichterin) soll für das Bürgermeisteramt eine solche Rekonstruktion inszenieren, gerät aber zunehmend mit der Behörde in Konflikt, da diese ein volkstümlich militaristisches Spektakel erwartet, während die Regisseurin auf der Darstellung der Ermordung der Juden insistiert. Der lange Titel ist das Zitat des seinerzeitigen Außenministers Mihai Antonescu (aus der Regierung des Diktators Ion Antonescu), der dieses vor der Ermordung von über 20000 Juden in Odessa äußerte. Überhaupt stößt die hartnäckige Regisseurin auf viele Zeichen des Unwissens und Wegsehens, wenn es um die Verbrechen der Antonescu-Diktatur im Zweiten Weltkrieg geht. Sie werden in langen Dialogen mit Schauspielern, Geliebtem, Freunden etc. fast lexikonhaft in Frage gestellt und entlarvt. So steht die Recherche in Büchern und mit alten Filmaufnahmen im Mittelpunkt, es fallen die Namen realer Historiker und ein solcher ist sogar in einer Szene bei der Betrachtung von Wochenschauen zu sehen. Im Gegensatz zu der kennzeichnenden intensiven Schauspielerführung der neuen rumänischen Welle, scheint Jude hier zusammen mit dem Drehbuchautor Florin Lăzărescu einen eher distanzierten Weg zu gehen: Seine DarstellerInnen wirken eher von ihrer Rolle fern, es wird wenig Wert auf präzise Intensivität gelegt, sondern fast schon brechtisch verfremdend das Schauspielerhafte hervorgehoben.
Interessant ist das Wortgefecht mit dem Vertreter des Bürgermeisteramtes (gespielt von Theaterregisseur Alexandru Dabija), wenn es um die Rekonstruktion und ihren Sinn geht. Die Regisseurin muss sich fragen lassen, warum sie dieses Massaker zeigen will und nicht etwa eines an den Herero von 1904 oder andere? Was sie eigentlich heute davon habe, ein historisches Geschehen ausführlich zu zeigen? Ob ihre moralische Befriedigung nur der Vergangenheit zugewandt sei, während auch in der Gegenwart Massaker und Terror geschehen?
Jude scheint bewusst einen eher didaktisch-pamphletistischen Stil gewählt zu haben - für ein Thema, das auf jeden Fall in Rumänien auf der Tagesordnung steht.
Îmi este indiferent dacă în istorie vom intra ca barbari
(I Do Not Care if We Go Down in History as Barbarians)
(RO/D/BG/FR/CZ 2018, R: Radu Jude, B: Radu Jude, Florin Lăzărescu, K: Marius
Panduru, D: Ioana Iacob, Alexandru Dabija, Alex Bogdan, 139')
Wiegenlied in Zeiten des Krieges
Michal Kalik und die sowjetische Republik Moldova
Die Retrospektive des Berliner Kinos Arsenal setzte auf die sowjetische Republik Moldau - der Filmklassiker Michal Kalik drehte mehrere Filme dort, bevor er nach Israel ausreiste. In Kolybelnaja - uraufgeführt 1960 - ist es der eindringliche Rückblick auf den Überfall durch deutsche und rumänische Truppen 1941, der die Landschaft in Szene setzt. Ein Pilot sucht nach Kriegsende seine Tochter, die nahe der Grenze am Pruth bei Kriegsbeginn verschollen wurde - wie viele Kinder in der Sowjetunion. Eine geschickt inszenierte, an Wendungen reiche Geschichte mit Blick auf unterschiedliche Menschen und ihre Gefühlslagen. Die in Berlin arbeitende moldauische Filmemacherin Ana-Felicia Scutelnicu (Panihida [2010]; Anişoara [2016]) wies in ihrer, die historischen Hintergründe des Studios Moldova-Film skizzierenden Einführung auf den katastrophischen Bruch hin, der nach Untergang der Sowjetunion die Erinnerung an den Regisseur Kalik in der heutigen Republik Moldova verstellt wie auch jenen Bruch, den Kalik selbst nach der Auswanderung nach Israel erlebte, wo er nur noch einen wenig erfolgreichen Film machte. Der 1958 gedrehte Film binde auch Kaliks Biographie zusammen, da er 17 Jahre nach dem Erlebnis der Bombenangriffe auf Moskau, die er als 17-Jähriger überlebte, diese Intensität des Grauens in den Film 'einbaute' und spürbar machte. Wiewohl die Moldau als Landschaft erkennbar ist und der Film einen kurzen Anflug auf Chişinău zeigt, sind die Schauspieler nicht aus der Region, sondern dem riesigen Reservoir, das die Sowjetunion der gerade entstehenden Moldova-Film bot, entnommen. Gregor Vanisian, der Kurator der Retrospektive, wies darauf hin, dass die gezeigte Kopie aus der Jerusalem Cinemathèque komme und möglicherweise die Arbeitskopie Kaliks darstelle. Darauf sind alle Angaben in kyrillischer Schrift, während das titelgebende "cântec de leagan" im Film auf Rumänisch gesungen wird. Es ist ein kompliziertes Verhältnis, das die beiden Sprachen offiziell und inoffiziell in den Anfangsjahren der sowjetischen Nachkriegsrepublik SSR Moldova miteinander verband, in der ja das Rumänische als 'andere' Sprache "Moldauisch" bezeichnet wurde. Wie Scutelnicu hervorhob, lasse die pure Bildersprache Kaliks eine einmalige Atmosphäre entstehen, die einen gebrochenen Traum in der Sehnsucht der Menschen nach seelischer Harmonie zeige. In weiteren Filmen Kaliks, wie etwa Ataman Kodr (1958) oder dem Episodenfilm Ljubit... (1968) spielt die moldauische Landschaft ebenfalls eine wichtige Rolle für diesen Klassiker der Filmgeschichte.
Die Retrospektive läuft vom 10.02.2019 - 21.02.2019 auch im
Deutschen Filmmuseum in Frankfurt/Main.
Spätestens seit Cristi Mungius Auszeichnung 2007 mit der Goldenen Palme von Cannes für seinen Film "4 luni, 3 săptămâni, 2 zile" ist der aktuelle rumänische Film weltweit in aller Munde. Ob Cătălin Peter Netzers "Poziţia copilului" (Goldener Bär Berlinale 2015) oder Cristi Puiu "Moartea domnului Läzărescu" - junge rumänische Filme davor und danach bewiesen, dass hier kein Zufall am Werke war, sondern eine veritable Filmkultur sich entwickelt hatte, die in der gegenwärtigen Filmszenerie einzigartig ist.
Dass rumänischer Film aber auch davor bemerkenswertes leistete, haben gerade die jungen Autorenfilmer in ihren Bezugnahmen etwa auf Lucian Pintilie selbst wiederholt bestätigt. Grund genug über die "nouvelle vague" hinaus der Geschichte, den ProtagonistInnen und Abenteuern des rumänischen Films nachzugehen.
Foto: f3-The_Atlas-of-Beauty-Mihaela-Noroc.
The Atlas of Beauty - Frauen der Welt
Mihaela Noroc und ihr Projekt der Schönheit der Frauen - global, human, erfolgreich...
In der Berliner Fotogalerie "f3-freiraum für fotografie" sind erstmals Bilder der rumänischen Fotografin ausgestellt, die Furore machen - weltweit.
Foto: f3-freiraum für fotografie
Als die Fotografin Mihaela Noroc bereits eine halbe Stunde über ihr Aufsehen erregendes globales Fotoprojekt von Frauenaufnahmen in der überfüllten Galerie f3 - Freiraum für Fotografie gesprochen hat, kommt die Ansage, dass noch weitere 60 Leute draußen warten, was bei dem kalten Schneeregen, der über Kreuzberg niedergeht, kein Vergnügen ist. Das Interesse am "Atlas of Beauty" ist immens, ein wirklich polyglottes internationales Publikum hat sich in der geräumigen Galerie eingefunden. Mit einem anziehenden Lächeln und ironischer Distanz erzählt die in Bukarest lebende, in Chişinău (Republik Moldova) geborene Fotografin in Englisch über einzelne Aufnahmen, konkrete Umstände in Tibet, oder Iran, oder Mexiko. Manchmal musste sie zehn Stunden warten, bis eine Aufnahme zustande kam, das Foto der jungen Inderin bei einer Opferzeremonie im Ganges hingegen war eine Sache von wenigen Minuten.
Was zeigen ihre Fotos? Es sind in der Mehrzahl Einzelporträts, Dreiviertelansichten der Frau oder Nahaufnahmen des Kopfes, aber auch Zweierfotos oder eine Gruppe, wie jene mexikanischen Feuerwehrfrauen in ihrer Arbeitskleidung, einmal auch ein Paar zu Hause in Portugal. Oft stehen die Frauen auf einer Straße, kurz angehalten nach der Frage, ob sie fotografiert werden dürfen, ein leichtes Lächeln, der Hintergrund verschwimmt, die Augen sind immer in die Kamera gerichtet, d.h. sie schauen die BetrachterInnen von den Fotos aus direkt an. Und darin liegt auch für die Künstlerin selbst das Entscheidende - sie erkenne eine Person an den Augen, sehe dort ihre Schönheit.
Noroc sagt, dass sie farbenfrohe Bilder mag (ihr Vater ist Maler) und so wirken die Bilder auch untergründig positiv, froh auf eine zurückhaltende Weise. Es ist diese Kraft einer inneren Schönheit, die der Fotografin als eigentliches Ziel vorschwebt: "Ich habe oft erlebt, dass die Menschen vor dem Wort 'schön' zurückschrecken." Aus dieser (in Rumänien ja häufiger mitgeteilten) Beobachtung sei ihr Projekt entstanden, das durch seinen globalen Ansatz ihr Einsicht in die Gleichheit aller Menschen in der Differenz ermöglicht habe. Am meisten schockiert habe sie die Armut, die die Möglichkeiten des Lebens in vieler Hinsicht limitiert. Und dennoch hätten sie immer die Armen und Ärmsten zu sich nach Hause gebeten, ihr das Wenige angeboten, das sie hatten.
Dass sie Frauen fotografiere, habe auch damit zu tun, dass jenseits der kommerziellen Oberflächlichkeit des Images von Models die ausgestellte Sichtbarkeit von Frauen weltweit nicht wirklich üblich oder erwünscht sei. Angefangen von der eigenen Unsicherheit ("ich hab doch gar kein Make-up auf") bis hin zu dem Zwang in einigen Regionen des Erdballs, erst einmal den Ehemann, Bruder, Vater fragen zu müssen, sei die Ausstellung von Frauen keineswegs überall selbstverständlich. (Wobei Noroc etwas ironisch annimmt, dies sei bei Männern von vorne herein kein Problem.)
Der aus dem Projekt resultierende Fotoband versammelt mehr als 500 Portraits mit kurzen Erläuterungen. In der Vielgesichtigkeit der wirklich globalen Topographie dieses Projekts ergibt sich über das Interesse an den Individuen hinaus das Anliegen Norocs als ein unerwartet politisches: Die vereinheitlichende Sicht auf durchaus sehr unterschiedliche Menschen erzeugt eine vage Stimmung jener Zusammengehörigkeit, die historisch auch Edward Steichens "Family of Man"-Projekt von 1951 intendierte.
Die Schlange der BesucherInnen zur Signierung des Buches, das jetzt auch auf Deutsch erschienen ist, zog sich an diesem regnerischen Abend in Kreuzberg noch lange hin...