15. Februar – 11. April 2020
Galerie Judin, Potsdamer Straße 83, 10785 Berlin
Dienstag – Samstag 11.00 – 18.00 oder nach Vereinbarung
Die aktuelle wie auch die historische rumänische Bildende Kunst hat in vielfacher Weise auf die europäischen Entwicklungen reagiert wie auch eigenständie Anstöße geliefert. Heute sind junge Maler aus Rumänien global vernetzt und in großen Galerien vertreten. In der Vergangenheit waren es die Avantgardisten oder Constantin Brâncuşi, die enge Verbindungen in die europäischen Zentren entwickelten. Auch in der Architektur fanden interessante Wechselbeziehungen zwischen autochthoner und europäischen Formensprache statt.
Cantemir und die Kunst
Zu den Veranstaltungen im Rahmen des Projekts "Divanul / Der Diwan"
Foto: kultro.de
Dimitrie Cantemir ist eine der herausragendsten Gestalten der rumänischen Geschichte. Als Gelehrter, Fürst, Schriftsteller, Musiker, Aufklärer hat er Bedeutendes geleistet und seine Präsenz bis in die Gegenwart ist in Rumänien gesichert. Kein Wunder also, dass auch KünstlerInnen sich von den vielen Anregungen dieser historischen Figur noch 300 Jahre nach seinem Tod inspirieren lassen. Die Galerie Fantom in Berlin war Ort des Projekts Divanul (Cantemir, Spirit universal) / Der Diwan (Cantemir, Universalgelehrter), bei dem eine Reihe von Veranstaltungen die Erinnerung an den Autor der Descriptio Moldaviae, den Historiker des osmanischen Reiches, den Musiker und Sammler türkischer Musik, den Autor eines allegorischen Romans, den historisch wichtigen Politiker anklingen ließen. Anca Boeriu und Andreea Sandu von der Bukarester Galerie Galateca hatten ein Programm entworfen, das sowohl in kurzen Vorträgen ebenso wie in Performances, Workshops, Kunstausstellungen Cantemir zum Thema machte.
Der Fantom-Galerist Ludwig Norz fasste zur Eröffnung die historische Physiognomie des Fürsten zusammen, die Bukarester Galeristinnen sahen sowohl die Aufklärungsideologie des Gelehrten als auch seine Bildungsstrategie als Anknüpfungspunkte heutiger Ansätze der Beschäftigung mit Cantemir. Anregungen, die die ausgestellte Kunst rumänischer KünstlerInnen subtil aufgriffen, wenn etwa Liliana Basarab zwei kleine an der Wand plazierte Keramikköpfe die menschliche Formen in ihrer Nähe zu tierischen erscheinen ließen und feststellte: "When we unlearn to become ... as a goat". Während Raluca Ilaria Demetrescu in Textil Umrisse von Köpfen, Kreuzen, u.a. einarbeitete, griffen Boerius Studentinnen von der Bukarester Universitatea Națională de Arte auf das Reservoir bildlicher Dokumente des Fürsten zurück, das sie in Radierungen neu interpretierten. Die bildnerische Wirkung von Buchilluminationen hob Mirela Trăistaru in ihren Vergrößerungen von alten Bildausschnitten hervor (Abb.)
Eines der Highlights der Reihe war die Ähnlichmachung des rumänischen Multiinstrumentalisten, Multimedia-Künstlers und Elektropioniers Mircea Florian an den jungen, am Hof in Konstantinopel erzogenen Kantemiroğlu in Beispielen orientalisierender Musik. Cantemir sammelte türkische Musik und entwarf für deren Notifizierung ein eigenes Notensystem, das diese Musik vor dem Vergessen bewahrte. Kantemiroğlu ist deshalb in der Türkei immer noch hoch angesehen. Zum Abschluss des gelungenen Projekts gelang der Schauspielerin Anastasiia Starodubova in ihrer beeindruckenden Performance eine nachdenkliche Verbindung von Erinnerung/Gedächtnis mit dem Tod als Teil des menschlichen Lebens (Regie: Petra Rațiu, Sprecherin: Iulia Grigoriu).
Mit diesem von Rumänischen Kulturinstitut kofinanzierten Projekt der Organizația Culturală Neo Art România zeigte die Galerie Fantom eine überzeugende künstlerisch-aufklärerische Annäherung an Dimitrie Cantemir, die 2024 weitere Vorhaben zum 350. Geburtstag des moldauischen Universalgenies erhoffen lassen.
Galerie Fantom
Hektorstr. 9/10
10711 Berlin
https://fantomonline.wordpress.com/
Adrian Ghenie goes Pop?
Der rumänische Shooting-Star bei Plan B in Berlin
Die Galeria Plan B ist ein Phänomen: Entstanden aus dem einzigartigen Projekt jener Fabrica de pensule in Cluj, die vor Jahren von der Huffington Post als einer der10 globalen Hotspots der Gegenwartskunst ausgemacht wurde, hat sie sich mit ihrer Berliner Dependance
Abb. Adrian Ghenie, Untitled, 2022, oil on canvas, 150x80 cm © Adrian Ghenie/Galeria Plan B
und der Präsenz in Cluj in der internationalen Liga der Galerien etabliert und nimmt an Messen in Hongkong ebenso teil wie in Miami oder Basel. Und dies mit Künstlern, die z.T. selbst aus der Fabrica hervorgegangen sind – wie Victor Man, Marieta Chirulescu, Șerban Savu, Ciprian Mureșanu, Adrian Ghenie u.a. Lange in der Potsdamer Straße in jenem viele Galerien beheimatenden Hof des ehemaligen Gebäudes des Berliner Tagesspiegels situiert hat sich jetzt die stetige Aufwertung der Galeria Plan B auch topographisch niedergeschlagen: Die neuen luftigen Galerieräumlichkeiten an der Frankfurter Allee in einem der beiden Turmhäuser verstärken den Ruf der Gegend als neuem Galerienstandort.
Plan B eröffnet den neuen Sitz mit der 5. Soloausstellung von Gemälden und Zeichnungen ihres international beachteten, aus Baia Mare stammenden und in Berlin lebenden Künstlers Adrian Ghenie. Es sind großformatige luftig-hingeworfene, aber malerisch ungemein präzise Ansichten von – ja, von wegen ihres breiten Mundes irgendwie nach Comic-Figuren aussehenden Gestalten, die in ihrer Physiognomie aber eigentlich unkenntlich bleiben. Ihre Körpergrenzen sind schemenhaft, durchsichtig, nicht eindeutig. Vielmehr sind es die Umgebungen dieser Gestalten, die aufwendig in Szene gesetzt werden, als Raumevokationen aus nicht unbedingt euklidischen, ineinander geschachtelten Räumen. Bei genauem Hinsehen wird die Virtuosität Ghenies in der bildlichen Konnotation der dynamisch hingesetzten ausgreifenden Pinselstriche sichtbar. Es sind wenige Bewegungen nur, aber die Evokation der Räumlichkeitsillusion ist in ihrer Präzision faszinierend. Mit der Kombination der Räume kommt die Zeit ins Spiel der Kompositionen. In einem Pressetext formuliert hierzu Mihnea Mircan: "Die Figuren in Adrian Ghenies jüngstem Bilderzyklus sind Zeitreisende: Die Zeit reist durch sie hindurch und nimmt Einfluss auf ihre Konstitution, ihre Fähigkeit, Präsenz zu formulieren oder biografische Kontinuität zu erzählen. Die Arbeiten zeigen Quasi-Protagonisten, Figuren, die im Begriff sind, zum Grund zu werden, einen Grund, der den Platz der Figur einnimmt, indem sie eine vage, konvulsiv anatomische Form annimmt. Torsi werden zu zerbrechlichen spiralförmigen Gebilden, Schädel zu barocken Einhausungen, Gliedmaßen verdrehen sich oder zucken, Augäpfel sind Scharniere in den Rotationen einer abstrakten, panoramahaften Optik." So kommen nur unvollständige "Figuren" zustande, in ihren Rändern volatil und fluide. Es sind Metamorphosen in der Zeit. Gezeigt werden sie beim Sport, in der Freizeit, mit Handys und Tastaturen beschäftigt – subtile Hinweise auf die Pandemie und die Leere des digitalisierten Eskapismus? Die Kohlezeichnungen lassen sich als Vorstudien zu den Gemälden lesen, eine der Zeichnungen zeigt aber ein anderes Motiv, das sich als Hinweis auf die Klimakleber im Museum deuten lässt. Im Unterschied zu früheren Bildern mit ihren düsteren Allusionen an Zerstörung und Krieg herrschen in den aktuellen Gemälden helle Farben und luftige Strukturen vor – wenn auch die Gestalten nichts erwarten, sondern eine fast schon apathische Abwendung von der Welt erkennen lassen. Die Gegenstände hingegen scheinen fest und statisch.
Adrian Ghenie
01.04.23—13.05.23
Galeria Plan B
Dienstag-Samstag, 12–18 h
Strausberger Platz 1, 10243 Berlin
Der Bildhauer Ingo Glass verstorben
Foto: siebenbuerger.de
Der wichtigste Antriebsmotor für die Entstehung der modernen europäischen Avantgarden ging auf rumänische Beteiligung maßgeblich zurück: DADA entstand zwar in Zürich, aber seine Hauptprotagonisten waren seinerzeit Tristan Tzara und die Brüder Iancu, deren Engagement und Ideen zu den legendären Soireen im Künstlerkabarett Zum Pfauen führte. Tzara wurde als Samuel Rosenstock in Moinești in der Südmoldau geboren, was die Stadtväter zu dessen 100. Geburtstag 1996 mit der Errichtung eines großen Denkmals am Ortseingang des Städtchens würdigten. Bildhauer des originellen und überzeugenden Denkmals war der aus Temeswar stammende Ingo Glass. Seine Idee zeigte die künstlerische Präzision und Ideenfreudigkeit dieses Ende Oktober 2022 im Alter von 81 Jahren in Budapest verstorbenen Klassikers der modernen Plastik: Glass formte aus Metallflächen nebeneinander stehend die Buchstaben DADA, aber so, dass ihre plastische Monumentalität erst auf den zweiten oder dritten Blick sich zu dem Wort formt.
Glass hatte sich nach Studium in Cluj und erster Anstellung am Museum für moderne Kunst in Galatz an der Donau 1972 nach Bukarest orientiert, wo er zeitweise auch das Schillerhaus leitete. In Galați entdeckte er nach eigener Aussage Metall als bildhauerisches Material, das in der Zukunft seine Arbeit dominieren sollte. Nach der Ausreise aus Rumänien 1979 entwickelte sich Glass mit weltweiter Vertretung in Museen und Sammlungen zu einem der bedeutendsten Bildhauer der Moderne, der auf der Basis von Quadrat, Dreieck und Kreis farblich auffallende z.T. monumentale Skulpturen schuf. In Vaterstetten bei München ist ihm ein eigener Skulpturenpfad gewidmet. Neben zahlreichen Ehrungen erhielt Ingo Glass auch die Ehrenbürgerschaft sowohl von Moinești als auch von Temeswar.
Florina Coulin
Eine außergewöhnliche Künstlerin aus Rumänien
Florina Lazarescu, Interior1970
Die
Berliner Galerie Spike im hippen Viertel zwischen Mitte und Prenzlauer Berg erinnerte durch die Übernahme einer Ausstellung des Bukarester
Salonul de
proiecte am Beginn der Pandemie 2020 an eine rumänische Künstlergruppe aus Bukarest vom Anfang der 1970er Jahre: Andrei Cădere, Ion Grigorescu, Julian Mereuță, Florina Lăzărescu, Matei Lăzărescu,
Andrei Gheorghiu u.a. sind mit unterschiedlichen Materialien vertreten: Briefen, Fotos, Texten, Performanceaufnahmen, Zeichnungen. Beeindruckend das Video eines aktuellen Interviews mit dem
abgeklärten Zentrum dieser Gruppe, Ion Grigorescu, der darüber berichtet, weshalb er das Land nicht verlassen hat.1
Ein Ölgemälde fällt in diesem Ensemble von eher als Paraphernalia wirkenden Kunst-Materialien der Neo-Avantgardisten auf: Es zeigt eine unscheinbar wirkende, aber typische Interieurszene der 1970er Jahre, ein Kühlschrank, darauf Flaschen und Dosen, daneben einige Papier- und Leinwandrollen, eine Tür, in realistischer Manier und hellen Farben stellt die Perspektive einen anziehenden Raumeindruck her – ein Momenteindruck, wie sie gerade junge Künstlergruppen gerne festhalten für eine Lebensphase, von der vielleicht bereits geahnt wird, dass sie schon bald vorbeigehen könnte. Gemalt hat dieses Bild Florina Coulin (Lăzărescu), eine junge Künstlerin, die ihre Ausbildung an der Bukarester Akademie 1971 beendete und in der Gruppe um Grigorescu in den vergleichsweise liberalen Jahren um 1970 sich in unterschiedlichsten Materialien und Formen versuchte. "[Ion Grigorescu] war eine geistige Leitfigur für uns, eine Freundesgruppe, bei der Realismus und Fotografie von Bedeutung waren. Wir haben viel fotografiert, gemalt, unsere Werke und Attitüden reflektiert, gemeinsam ausgestellt", erinnert sich Florina Coulin in ihrem Kunstlebensbuch von 2014.
Lässt bereits dieses Gemälde erkennen, dass hier eine ungewöhnliche Meisterin am Werke ist, so verblüfft die Sicherheit, mit der Florina Coulin auch zahlreiche weitere Materialien und Techniken mit außergewöhnlicher Präzision ausprobierte. Von hoher Qualität sind die Lithographien, die Florina Coulin, nachdem sie das Handwerk von Grigorescu gelernt hatte, im Graphik-Atelier der bildenden Künstler in Bukarest anfertigte. Sie reflektieren die Farben der Pop-Art, thematisieren urbane Situationen oder nähern sich dem Stillleben und erinnern in ihrem eigenen Stil an die Warhol'schen Verfremdungen. In der künstlerischen Entwicklung Florina Coulins gaben sie zunehmend auch einer introspektiven Experimentierlust Raum. Diese Lithographien bieten eine ästhetische Ausstrahlung, die heute besonders frappierend wahrgenommen wird, da sie in ihrer vollendeten Ausführung Ausdruck einer stupenden Form- und Materialsicherheit sind. Mit der Leichtigkeit jener Jahre entstehen unter dem kaum gehinderten Einfluss westlicher Strömungen von Paul Klee bis Warhol und Rauschenberg weitere Bildwerke, die geradezu als Inkunabeln der Kunstentwicklung jener Zeit in Rumänien gelten können.2 In Rumänien wurde gerade dieses frühe Werk in einer das Publikum begeisternden Ausstellung in der Bukarester Ivan Gallery 2019/20 neuentdeckt.
Bei der stilistischen Sicherheit Florina Coulins verwundert nicht, dass die Künstlerin bereits 1972 Stilformen in der Malerei aufnahm und vollendet ausgedrückt hat, denen man in der Gegenwart wieder begegnet. Dies gilt für das überwältigende Gemälde Kind im Park (1972), das in seiner Fülle von Einflüssen und daraus resultierender eigener "Handschrift" wie eine Ikone der Moderne aus Bukarest wirkt. Die anziehende Behandlung der Farben, die Raumwirkung durch den Übergang von einem konventionell impressionistisch wirkenden Hintergrund zu den lavierten Flächen des Autos und das optisch überdimensionierte Kind im Vordergrund reißen eine unergründliche Spannung auf, die nur wenige KünstlerInnen der Gegenwart je in einem Werk erreicht haben.
Als ein Bruch ist die Ausreise auch künstlerisch wahrzunehmen. Florina Lăzărescu heiratete 1977 den Künstler und Bühnenbildner Georg Coulin, einen Siebenbürger Sachsen, und ging mit ihm in die Bundesrepublik. Zunächst in München und Passau wohnend, lässt sich das Paar 1985 in Augsburg nieder. Wie eine Selbstbefragung ragt das eindringliche Autoportrait Selbst (1979) aus den Werken jener Zeit heraus: eine Halbtotale in einem einfachen Zimmer mit Schrank und Bett. Sachlich, direkt, fast im Stil der 1920er Jahre – eine stilistische Wandlung gegenüber den Bukarester Arbeiten, aber mit ebensolcher Präzision und Emphase ausgeführt wie jene so leicht dahingeworfen wirkenden Frühwerke. Jetzt herrscht ein bohrender Ernst vor, zugleich eine Neugier, die den Blick nach vorn richtet, auf Neues, das kommen wird. Und dieses Neue zeigt die Künstlerin Florina Coulin in ihrer opulenten stilistischen Meisterschaft auf unterschiedlichsten Feldern: Installationen, Performances, gegenständliche und ungegenständliche Malerei in einer großen Variation von Stilen, Farbbehandlungen, Materialien, Formaten bestimmen die nächsten Jahre.
In der Installation Augsburg-München-Erdmittelpunkt wird Malerei auf drei langen, von der Decke hängenden Bahnen als Versinnbildlichung einer wissenschaftlichen Untersuchung des Bodens mit seinen Erdformationen konzipiert (Augsburg, Brecht-Haus 1991). Eine das Ausreisen, Weggehen, Verlassen und den Umgang damit symbolisierende Performance ZELT-KLEID zeigt die Künstlerin in unterschiedlichen Posituren, gehüllt in einen großen zweifarbigen Umhang – archaische Anmutungen des Geborgenseins. Den/die Betrachter/in einnehmend ist auch die Auseinandersetzung mit dem mythischen Zeichen des Labyrinths in einer ausdrucksstarken und ästhetisch sehr überzeugenden Installation-Performance Labyrinth-Zeichen-Wort (1995-97), die in Istanbul, Augsburg, Bonn und Bukarest ausgestellt wurde.
Die aktuellen Werke der vergangenen Jahre kennzeichnet neben der Malerei eine intensive Auseinandersetzung mit den Möglichkeiten des Aquarells. Florina Coulin ist eine herausragende Künstlerin dieser ebenso schwierigen wie scheinbar leicht zugänglichen Kunstform. Es gibt Realisierungen dieser Wassermalkunst, die der unerreichbaren Perfektion nahe kommen – wie etwa das autoreflexive Aquarellwasser von 1988 oder die üppigen Stillleben mit Tellern und Früchten sowie die zahlreichen dynamischen bis expressiven Landschaftsdarstellungen. Besonders sprechend sind jene Schmetterlingsflügel, die die Schönheit der Flügel in der Andeutungskraft von leise hingetupften Farbspuren wiederholen (Schmetterlingsflügel I-VII, 1994). Über die Aquarellkunst schrieb die Künstlerin: "eigentlich geht es um etwas anderes, um eine ESSENZ aus Wahrnehmung und den spezifischen Möglichkeiten der Wassermalerei (schnell, flüssig, synthetisch, empfindlich, eigenwillig, subtil, labil, unmittelbar, spontan, ehrlich, festlegend, u.s.w) Gerade die Spannung zwischen der Fähigkeit einer realistischen Darstellung und einem Verfallensein dem Zauber des fließenden Wassers (das Malen an sich, Gestus und Eigenleben des Farbflecks) machen für mich aus unscheinbaren Motiven Malereien." (S. 140)
Die Auseinandersetzung mit Licht und Farbe prägen die aktuelle Wassermalerei Florina Coulins in besonderer Weise: Zum einen erforschen sehr abstrakt wirkende Fenster- und Torbilder das Zusammenspiel der Farben mit dem Licht, zum anderen haben eine Reihe spektakulärer Interpretationen von klassischen Madonnen- und Engelsdarstellungen (da Vinci, Raffael, van Eyck u.a.) die Ausdrucksmöglichkeiten des Aquarells enorm erweitert. Diese eindringlich-durchsichtigen Darstellungen nähern sich der Welt des Numinosen, das die Künstlerin zunehmend beschäftigt, auf eine zugleich überzeugende und überraschende Weise. "Damit ein Künstler einen Zutritt zu einer derartigen Verdichtung erlangt, wie sie Florina Coulin erreicht hat, sind, jenseits des Könnens, wiederholte und konsequente geistige Übungen vonnöten. Unabhängig davon, welche Themen die Künstlerin behandelt, scheinen ihre sichtbare Klarheit und entschiedene Sensibilität mit einer beeindruckenden Intensität durch." (Luiza Barcan)
Das reiche Werk der Künstlerin Florina Coulin stellt eine der überraschenden und bisher weitgehend unentdeckt gebliebenen Transfers von rumänischer Kunstausübung in den neuen Kontext der Bundesrepublik dar. Es lassen sich im Werk Florina Coulins erstaunliche Entwicklungen ebenso studieren, wie die Gemälde und Aquarelle, die Performances und Installationen, die Lithographien und Radierungen eine allumfassende Künstlerin von seltener ästhetischer Intensität und meisterlicher Beherrschung einer enormen Vielfalt der Formen erkennen lassen.
1 Ein Bericht von Ionuț Cioană über die Bukarester Ausstellung in Scena9.
2 Ausführlich über die Lithographien Ionuț Cioană in Scena9.
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Florina Coulin: Mein Kunstlebensbuch 1972-2013. Augsburg 2014
(erhältlich bei der Künstlerin)
Malerei und Psychologie
Hortensia Mi Kafchin in der Galerie Judin
Es sind vor Einzelheiten, Gegenständen, merkwürdigen Begegnungen geradezu wimmelde Ölgemälde: Zahlreiche Details locken den Betrachter, erinnern an andere
Hortensia Mi Kafchin Ana Aslan 2020, Oil on canvas, 168 x 198 cm (c) The Artist Courtesy Galerie Judin, Berlin
Bilder, Geschichten oder Geträumtes. In den Darstellungen herrscht eine figürliche und dingliche Präzision, die fast an das clair-obscur der bande dessinée reicht. Aber was wir sehen, gibt allerlei Rätsel auf. Denn die Malerin Hortensia Mi Kafchin aus Galați (*1986) sammelt in den in der Berliner Galerie Judin ausgestellten Großformaten Beobachtungen und Einfälle in einer unübersehbar surrealistisch inspirierten farbintensiven Malweise. Im Gemälde Ana Aslan sind es offensichtlich chemische Laborgegenstände vor einem dunklen kosmischen Himmel mit Planeten, aber auch Skeletthänden, die eine unauffällig durch das Bild reichende Sense halten. Im Zentrum ist der Kopf jener Ana Aslan zu sehen, die einst mit weltweiter Resonanz in Bukarest ein Institut gegen das Altern betrieb. Sie beugt sich hier - selbst sehr gealtert - erschrocken über ein Mikroskop, dessen Trägertisch von der Sichel der Sense getroffen wird.
Ebenso rätselhaft Social Anxiety, das in an Salvador Dalí erinnernder Darstellungsweise eine fliehende Figur zeigt, deren Oberkörper von einem Sägeblatt vom Unterkörper abgetrennt wird. Ihr folgen mit Fledermausflügeln ausgestattete einzelne Augen, am dunklen Himmel bilden graue Wolken die Gesichter von geisterhaften Dämonen. Die flüchtende Figur bewegt sich auf ineinander greifenden Zahnrädern. Im Begleittext zur zweiten Ausstellung von Mi Kafchin in der Galerie Judin wird darauf hingewiesen, dass Social Anxiety ein Selbstporträt der Künstlerin darstelle, die darin den langwierigen Prozess ihrer transsexuellen Geschlechtsangleichung thematisiere. Die Malerin wurde als Mihuţ Boșcu Kafchin in einen männlichen Körper geboren. Nach der Entscheidung für das andere Geschlecht wählte sie in Erinnerung an die Schriftstellerin Hortensia Papadat Bengescu deren Vornamen. Die Malerin macht in diesen Gemälden die tiefgreifenden psychischen Turbulenzen ihrer Entscheidung und die Reaktionen der sozialen Umwelt sichtbar. Wie eine utopische Vision erscheint dann das Gemälde Self, das in altmeisterlicher Ausführung eine selbstsichere und ausgeglichen wirkende junge Frau zeigt.
In den Zusammenhang dieser Gemälde gehören auch Darstellungen jener legendenhaften ungarischen Gräfin Bathory, die mit dem Blut von ihr ermordeter junger Frauen ihren Alterungsprozess aufhalten wollte. Mit dem intensiven Rot in den Bildern des Bathory-Mythos wird spielerisch auf den Vampir- und Dracula-Mythos verwiesen. Weitere Gemälde beschäftigen sich ebenfalls mit dem Thema des Alterns und des Todes; hier könnten antik-klassische Motive eine zu erreichende innere Balance andeuten. Überraschend wirkt zwischen den Farben der Gemälde wiederum eine große Kohlezeichnung auf die Wand der Galerie, in der zahlreiche der Motive der Gemälde wieder aufgenommen werden. Somit bietet die faszinierende Ausstellung einen differenzierten Einblick in den erzählerischen Kosmos der Malerin vor dem Hintergrund einer ungewöhnlichen Phase ihrer Biographie.
Galerie Judin, Potsdamer Straße 83, 10785 Berlin
Dienstag – Samstag 11.00 – 18.00 oder nach Vereinbarung
Europa weben
Kunst von Roma-Frauen aus aller Welt
Foto: Nino Pusija/ERIAC
Das ERIAC in der Berliner Reinhardtstraße ist noch relativ jung: 2017 eröffnete dieses European Roma Institute for Arts and Culture seine Räumlichkeiten. Zusammen mit dem Rumänischen Kulturinstitut an der gleichen Straße veranstaltet es bis zum 3.Mai 2019 die von Anna Mirga-Kruszelnicka kuratierte Ausstellung mehrerer KünstlerInnen, die aus dem Zusammenhang der Roma Art kommen. Dem Titel der Ausstellung entsprechend gibt es zahlreiche Beispiele textiler Kunstwerke, die beziehungsreich und farbenfroh das Leben von Roma-Frauen zum Thema machen. Im RKI etwa steht von Małgorzata Mirga-Tas ein bunter Paravent aus textilen Darstellungen, die Mitglieder ihrer Familie (nicht nur) beim Nähen oder Weben zeigen. Andere ebenso farblich lebendige Bilder der Künstlerin zeigen bei näherer Betrachtung, dass sie z.T. gemalt sind. Bestimmte Teile der Darstellung sind allerdings durch Stoff in das Gemälde collagiert. So etwa in ihrer Darstellung einer Frau, die auf einer Fensterbank lehnt, neben der bunte Tücher hängen. Am harmonischsten zeigt sich ein Bild, das die Lebensweise vieler Romni thematisiert: ein aufgeräumter Hof mit einer Frau an der Schwelle. Der Inhalt einer umgestürzten Mülltonne wird gekonnt spielerisch aus diversen Papierschnitzeln und Stoffresten dargestellt. Ebenso bunt die Bilder von Kiba Lumberg, die als Installation beide Locations bespielen. Im RKI hat Emilia Rigova einen langen Teppichläufer am Boden ausgelegt, der hinführt zu zwei Fotos einer Romnia als Schwarze Göttin - eine anspielungsreiche Dekonstruktion herkömmlicher Bilder von den gypsy women, wie sie die europäische Kulturgeschichte bis heute bevölkern. Dies ist eines der zentralen Anliegen der Ausstellung: Zu zeigen, dass die Roma-Frauen aus unterschiedlichen Ländern keinen Stereotypen entsprechen, dass sie trotz patriarchalischer Gesellschaft ihre Eigenständigkeit und Weltzugewandtheit demonstrieren, dass sie sich einsetzen für die Wahrnehmung der Roma in Europa. Entsprechend kann die Video-Installation von Emilia Rigova gelesen werden, die raffiniert auf einem Split-Screen zwei Gesichter zeigt, die zugenäht sind und von einer wie ein Wunder (oder de[a] ex machina) auftauchenden (weiblichen!) Hand von diesen Fesseln befreit werden. Oder die Installation der vielbeachteten Künstlerin Delaine Le Bas, die Fotos einer Performance mit einem aus mehreren Traditionen zusammengesetzten Kleid kombiniert.
Bei der Vernissage trugen Mihaela Drăgan und Ioanida Costache in englischer Sprache Gedichte von Roma mit Violinbegleitung vor - eine ebenso gekonnte wie beeindruckende Performance umgeben von der Kunst der Roma-Frauen (und einem Rom).
Abb. Małgorzata Mirga-Tas "Romani Kali Das, 2016"; Foto: Nino Pusija/ERIAC
"L'atelier, c'est moi-même"
Geta Brătescu gestorben
Wer frühere Jahrgänge der Zeitschrift "Secolul 20" liest, wird ihre künstlerische Gestaltung kaum übersehen können: In den 1970er Jahren machten Fotos mit zeitgenössischer provokativer Kunst die Bände auffällig, der Name der Designerin ("Prezentarea artistică") blieb vielen im Gedächtnis haften: Geta Brătescu. (2016 widmete ihr zum 90. Geburtstag die Zeitschrift, die jetzt "Secolul 21"heißt,
Foto: Mihai Brătescu, courtesy Ivan Gallery, Bucharest
ein Heft mit Beiträgen von Alina Ledeneanu, Ion Vianu, Ştefan August Doinaş, Swantje Karich, Dan Perjovschi u.a.).
Buchgestaltung war eine der Aktivitäten der Konzeptkünstlerin, die in der Industriestadt Ploieşti geboren wurde und Philologie und Kunst in Bukarest studierte. Sie selbst hielt ihre Illustrationen zu Doinaş' "Faust"-Übersetzung für eine ihrer wichtigen Arbeiten. 1970 erregte der Film "Atelierul" - von ihrem Kollegen Ion Grigorescu aufgenommen - Aufsehen, in dem die Arbeitsumstände der Künstlerin zum Thema einer radikalen Selbstanalyse wurden.
Der spielerisch-kreative Umgang mit Papier, Collagen, Grafik, Radierung prägte ihr Werk, zu dem auch Textilkunst, Fotografie, Installationen und Objektkunst gehörten. Das Spielerische erinnerte vielfach an die Formen des Surrealismus und der Avantgarde. Zunächst nur innerhalb der rumänischen Szene wahrgenommen, stellten ihre Ausstellungen im Westen eher die Ausnahme dar. Erst in den Jahren nach der Wende wurde Geta Brătescu von der globalen Kunstwelt entdeckt, Ausstellungen in den USA, Deutschland, Österreich mehrten sich. 2017 kuratierte sie mit großem Erfolg den rumänischen Auftritt bei der Biennale in Venedig und nahm an der documenta in Kassel teil. Zuletzt widmete die Hamburger Kunsthalle Brătescu eine Retrospektive, die Berliner Galerie Barbara Weiss stellte ihre Werke ebenfalls mehrfach aus. Wenige Tage vor Eröffnung einer ihr gewidmeten Ausstellung in der Berliner n.b.k. verstarb Geta Brătescu am 19. September 2018 in Bukarest im Alter von 92 Jahren.
Die Galerie Plan B hat mitgewirkt, dass Rumänien und einige seiner jüngeren Gegenwartskünstler eine feste Größe im globalen Kunstmarkt darstellen. In Cluj und Berlin präsent hat sie KünstlerInnen wie Victor Man, Iulia Nistor, Adrian Ghenie, Şerban Savu, Navid Nuur, Ciprian Mureşan u.a. zu Global Players in der Welt der Galerien, Kunstmessen, Sammler gemacht, was angesichts der aus der Perspektive der Hot Spots New York, Los Angeles, Hongkong, London, Shanghai peripheren Lage von Cluj eine kaum zu überschätzende Leistung darstellt. Parallel zu einer Soloausstellung in der ebenfalls in den früheren "Tagesspiegel"-Gebäuden in der Potsdamer Straße angesiedelten Galerie Judin eröffnet Plan B am 17.11.2017 eine "Nightscape" betitelte Ausstellung des mittlerweile hoch dotierten Malers Adrian Ghenie aus Baia Mare.
Fotos: Markus Bauer; Willy Pragher (1941) Landesarchiv Baden-Württemberg Abt. Staatsarchiv Freiburg W 134 Nr. 031601 b Bild 1 Permalink: http://www.landesarchiv-bw.de/plink/?f=5-216351-1.
Der Bulevard Magheru im Zentrum der Hauptstadt Bukarest ist ein denkwürdiges Beispiel der avantgardistischen Architektur in Europa. Das Juwel der Moderne verfällt in großen Teilen allmählich...
Wenig hat sich leider seit der Publikation des folgenden Artikels daran geändert. Außer dass das Gebäude gegenüber dem Scala renoviert wurde (aber wohl leer steht) und das Lido geschlossen ist. Und dass der Turm des ARO (Patria) wohl bald unrettbar verfallen sein wird, so stark bröckelt bereits dessen Fassade.
In der Bukarester Architektur kollidiert das zeitgenössische Bauen mit der Tradition: Mit Kampagnen und Demonstrationen versuchen Architekturfreunde die Bestände der vorwiegend französisch geprägten Baukunst des 19. Jahrhunderts gegen Abrisspläne zu verteidigen. Zurzeit setzen sie sich für das idyllische, von verwinkelten Strassen und Gärten geprägte und einst von Mircea Eliade besungene Viertel «Măntuleasa» ein, das einem Stahl- und Glasturm einer Investitionsgesellschaft weichen soll. Auch am breiten Boulevard Magheru wird die Vergangenheit wiederentdeckt, wie die Renovierung der über 100 Jahre alten Villa der Politikerfamilie Sturza zeigt, die nun eine schicke Filiale der Buchkette Cărtureşti beherbergt. Auf mehreren Etagen finden sich hier Bücher über Architektur und Design, aber auch Bildbände zur Bukarester Stadtgeschichte. Ein Blick durch das mit bunten Holzornamenten versehene Fenster fällt auf einen still vor sich hin bröckelnden Betonbau: das ARO-Haus, das am Anfang der rumänischen Architekturmoderne stand. Das nach einer Versicherung benannte Wohn- und Bürogebäude, das auch das Kino Patria beherbergte, stellt ein Beispiel jener innovativen Baukunst dar, die in den Jahren vor dem Zweiten Weltkrieg den heutigen Doppelboulevard Magheru-Brătianu in eines der aufsehenerregendsten modernen Ensembles in Europa verwandelte.
Die auffällig moderne Fassung des sechsspurigen Boulevards mit weissen Kuben und markanten Türmen geht auf eine in den frühen 1930er Jahren gefällte planerische Entscheidung des Stadtrats von Bukarest zurück. Dieser sah parallel zur kurvenreichen alten Nord-Süd-Verbindung, der Calea Victoriei, einen geraden Boulevard mit avantgardistischer Architektur vor. In die Hauptstadt sollte mit der neuen Anlage der Rationalismus einkehren, befördert von einem urbanistischen Planungskomitee, dessen Vorsitz der Architekt Horia Creangă, ein junger Absolvent der Pariser Ecole des Beaux-Arts, einnahm. Das Komitee machte sich 1934 – beeinflusst von Le Corbusiers Charta von Athen – an die Neugestaltung der Kapitale: Diese wurde in Sektoren aufgeteilt und erhielt neue Verkehrsachsen und städtische Funktionen. Für die neue Nord-Süd-Achse zwischen Piaţa Romană und Piaţa Universităţii wurden die Höhenbeschränkungen aufgehoben. Die neuen Auflagen für die Gestaltung sahen Türme vor, welche die Kreuzungen des Boulevards akzentuieren sollten. Obwohl die Bauten, welche aus dieser Planung resultierten, ein ausserordentliches Erbe der klassischen Moderne darstellen, werden sie von grossen Teilen der Bevölkerung noch immer kaum als erhaltenswert erachtet. Vielmehr trauert diese jenen historischen Vierteln nach, die vom grossflächigen Kahlschlag der Ceausescu-Zeit ausradiert wurden.
Das ARO-Gebäude ist ein konsequenter Bau mit einem wuchtigen hohen Eingangsturm, der den Flügel an der Nebenstrasse mit jenem am Boulevard verbindet. Das 1934 von Horia Creangă erbaute Haus wird noch heute durch die breiten horizontalen Fensterbahnen und die nach oben zurückgesetzten Etagen bestimmt, welche auch andere Gebäude am Boulevard prägen. Die einst hellgraue Fassade erscheint heute fast schwarz; der Turm weist mittlerweile starke Spuren von abgefallenem Verputz auf. Ähnlich dunkel ist das Malaxa-Gebäude, eine weitere Ikone der rumänischen Moderne, die sich unweit des ARO-Hauses in Richtung Piaa Universităţii erhebt. Das 1935 von Creangă und dem Berliner Emigranten Rudolf Fränkel geplante Bauwerk ist durch horizontale Volumen und einen integrierten, die Einmündung der Seitenstrasse markierenden Turm charakterisiert und hat bis anhin wenige Veränderungen erleiden müssen. Seine einst weissen Fassaden sind aber ebenfalls russgeschwärzt.
Die Eigentumsverhältnisse stellen nach Ansicht des Bukarester Architekten und Herausgebers der Zeitschrift «Arhitectura», Ştefan Ghenciulescu, das grösste Problem bei der Erhaltung dieser avantgardistischen Geschäfts- und Apartmenthäuser dar: «Jede Wohnung hat einen individuellen Besitzer, was die Möglichkeit einer Renovierung des gesamten Gebäudes an einen schwer zu erzielenden Konsens bindet. Auch die Eingreifmöglichkeiten der Stadtverwaltung sind dadurch eher begrenzt.» Ghenciulescu gibt zudem zu bedenken, dass die fast utopisch wirkende Anlage des Boulevards, wie wir sie aus den historischen Aufnahmen des deutschen Bildjournalisten Willy Pragher kennen, nicht die gleichen sozialen Denkmuster spiegelt, wie wir sie etwa vom Städtebau der Weimarer Republik her kennen. Die moderne Architektur im Rumänien der Zwischenkriegszeit habe eher den Charakter einer Mode gehabt als den einer politisch-gesellschaftlichen Manifestation. Der neue Baustil setzte sich im Rumänien der 1930er Jahre schnell durch. Es etablierte sich eine «vernakuläre Moderne». Doch obwohl – oder gerade weil – noch heute Architekturbeispiele aus der Pionierzeit flächendeckend und in höchster Qualität zu finden sind, erfahren sie keine grosse Wertschätzung.
Schon in ihrer Entstehungszeit wurden die avantgardistischen Gebäude am Boulevard Magheru mit politischen Vorzeichen gelesen und zum Teil auch angefeindet. Der einflussreiche Historiker und Politiker Nicolae Iorga etwa wandte sich gegen Bukarests «Amerikanisierung» durch Hochhäuser. Einige Architekten versuchten darauf mit einem an der Baukunst des 18. Jahrhunderts orientierten rumänischen «Nationalstil» zu antworten. Die damit verbundene Kritik am Einfluss ausländischer Architekten war ganz explizit gegen den jüdischen Emigranten Rudolf Fränkel gerichtet. Obwohl sich mittlerweile in vielen Städten Rumäniens ein wachsendes Interesse an der urbanen Vergangenheit herausbildet, welches meist nur noch nostalgisch bedauern kann, was mit den Jahren verloren ging, bleibt die Moderne für viele weiterhin ein blinder Fleck. Dabei spielt auch die Bauwut der sozialistischen Epoche eine Rolle. Damals wurden zahllose anonyme Wohnblöcke aus dem Boden gestampft, die nun das Stadium ihres Verfalls erreicht haben und so zusätzlich zur Antipathie gegen Beton und Stahl beigetragen haben.
Die mittlerweile unansehnlich gewordenen Beispiele des Neuen Bauens verschwinden am Boulevard Magheru zusehends hinter riesigen Plakaten, wie etwa Fränkels elegantes, gegenüber dem Malaxa-Haus gelegenes Scala-Gebäude. Breite horizontale Fensterbahnen, die zur einmündenden Nebenstrasse hin in eine aerodynamische Rundung übergehen, machten diesen Kino- und Apartmentbau zusammen mit dem ihm gegenüberliegenden, ebenfalls von Fränkel entworfenen Schwestergebäude zu einem spektakulären Akzent an diesem Boulevard-Abschnitt. Während dieser bis auf die Fassade entkernte Fränkel-Bau erneuert wurde, sind die dunkelgrauen Rundungen des einst strahlenden Scala von einem riesigen Plakat verdeckt worden.
Mittlerweile ist der Boulevard laut den rumänischen Medien zu einem der teuersten Pflaster Europas geworden – dies wegen der Möglichkeiten, die er zu bieten scheint. Die Bauspekulanten stören sich allerdings an den vielen Inkunabeln der rumänischen Architekturmoderne. Die vor wenigen Jahren entfachte Diskussion über die Einsturzgefahr bei den Gebäuden im Fall von schwereren Erdbeben und die damit verbundene Forderung nach deren Abriss schwelen in städtebaulichen Überlegungen weiter. Unheilvoll breiten sich im Stadtzentrum die von der Stadtverwaltung placierten roten Plakate aus, welche die markierten Gebäude als höchst erdbebengefährdet einstufen und deren Wert rapide gegen null tendieren lassen. Erderschütterungen sind eine nicht von der Hand zu weisende Gefahr für den Boulevard, stürzte doch bereits beim Beben von 1940 der schlanke Turm des Carlton ein; hier spielten allerdings technische Mängel eine entscheidende Rolle. Das schwere Beben von 1977 liess weitere klassisch-moderne Gebäude am Boulevard verschwinden, etwa den «Wilson»-Block. Glücklicherweise ist aber bis anhin noch keines der Beispiele des Neuen Bauens am Boulevard Magheru mit dem roten Plakat versehen worden. Ob angesichts der komplexen Problemlage in Bukarest für das wertvolle Moderne-Ensemble des Boulevard Magheru bessere Zeiten zu erwarten sind, bleibt weiterhin offen.
Markus Bauer
NZZ 5.3.2010