Vlad III. Drăculea in alten deutschsprachigen Texten
Mit dem Corpus Draculianum und seiner Edition aller zeitgenössischen Texte über Vlad III. Drăculea, genannt Țepeș, "der Pfähler", hat das Interesse an der historischen Gestalt dieses Fürsten der Walachei enorm zugenommen. Während der letzte Band der Edition noch
aussteht, erscheinen nun Studien zu und Edition
der Deutschen Berichte, eine Sammlung kurzer
deutschsprachiger Texte zu dem plakativ "Pfähler" Genannten aus der Übergangszeit von Handschriften zum europäischen Buchdruck. Die HerausgeberIn – Christof Paulus gehört zum Herausgeberteam des Corpus Draculianum – nehmen sich nicht nur die Edition der Berichte vor, sondern erforschen auch minuziös den historischen, literarischen und sprachlichen Hintergrund der mittlerweile auf 8 Nachweise angewachsenen Textzeugnissse der Histori von dem pösen Dracol. Das Buch bietet zunächst (11-25) eine detaillierte historisch-biographische Zusammenfassung zur Person des walachischen Fürsten, der nach Jugendjahren als Geisel in Konstantinopel mit 18 Jahren wohl erstmals für kurze Zeit im Herbst 1448 das Fürstenamt der Walachei beanspruchte, aber dem ungarisch-polnischen Druck letztlich nachgeben musste. Es folgten Jahre im "Exil" in Ungarn bis 1456, über die nur wenige Quellen existieren. Von 1456 bis 1462 konnte Vlad dann das Fürstenamt wieder ausüben, während dem er zwischen Ungarn und dem Osmanischen Reich, zwischen den Siebenbürgischen Städten und der Moldau mit wechselnden Optionen lavieren musste. Nach der Schlacht gegen die Osmanen 1462 wurde auf deren Betreiben der jüngere Bruder Vlads auf den Thron in Tîrgoviște gehievt und der „Pfähler“ in Ungarn gefangengesetzt (custodia). Nach Jahren rehabilitiert und wieder als Heerführer für Ungarn reaktiviert, eroberte er von den Osmanen die Residenzstadt zurück, starb aber kurz darauf Ende 1476 – möglicherweise durch Mord.
Für die Erforschung und Edition der Deutschen Berichte, die Vlads Grausamkeiten hervorheben, stellen sich die Editoren vor allem zwei Aufgaben: "zum einen die Frage nach den historischen und literarischen Rahmenbedingungen für die Entstehung der 'Deutschen Berichte', zum anderen die Suche nach den entscheidenden politischen und personellen Mechanismen der weiteren textlichen Vermittlung und Verbreitung." (6)
So gerät zunächst die Editions- und Forschungsgeschichte in den Fokus. 1882/3 gab der siebenbürgische Gelehrte Gheorghe Barnițiu das St. Galler Manuskript heraus, es folgten 1891 die Dracol-Passagen aus der Konstanzer Chronik des Gebhart Dacher und 1897 in Budapest die Doppeledition einer frühen Druckfassung (Lübeck 1488?/1493) zusammen mit der Handschrift von Kloster Lambach. Im 20. Jahrhundert verwickelten und erweiterten sich die Überlieferungen, das Lambacher Exemplar galt als verschollen und fand sich erst 1993 in der Bonner Universitätsbibliothek wieder; in London fand sich schon 1901 eine weitere Fassung und in den vergangenen Jahren konnten auch in Colmar, Weimar, München, Augsburg Textzeugen verifiziert werden. Nicht zuletzt die wachsende Digitalisierung von Beständen und ihre Bereitstellung im Internet haben der Forschung Impulse verliehen.
Es ist faszinierend in den Kapiteln über die Entstehung der Textzeugnisse, ihren Inhalt, ihre sprachlichen Eigenheiten, ihre Verbreitung (37-139) mitzuverfolgen, wie die EditorIn ein dichtes Netz von Kenntnissen und Schlussfolgerungen weben, das ein plausibles, weil quellengestütztes und forschungsdiskursives Bild jener Epoche und der Faktoren der Deutschen Berichte liefern kann. Zunächst geht es um die Frage, wann und wo die Berichte entstanden. Dazu existieren in der Forschung unterschiedliche Theorien. Meist wird das Jahr 1462 angenommen, in dem Vlad die Osmanen besiegte und danach von den Ungarn gefangengesetzt wurde. Dabei spielt eine Rolle, ob in den Texten eine Verleumdung oder Verteidigung des Fürsten erkannt wird. So kann Siebenbürgen oder der ungarische Hof als Entstehungsort ins Spiel kommen: Die siebenbürgischen deutschen Kaufleute hätten wegen ihrer Schwierigkeiten mit dem walachischen Fürsten eher Grund, ihm Schlechtes nachzusagen, Ungarn könnte ihn trotz der bevorstehenden oder bereits erfolgten Gefangennahme als anti-osmanischen Player wiederaufbauen wollen. In diesem Zusammenhang wird auch eine bisher nicht verifizierte Druckfassung aus Wien vermutet oder eine als Vorlage dienende nichtverifizierte lateinische Vorlage, worauf sprachliche Merkmale hinweisen (item-Struktur). Die Funde in den Sammelkodices und der Bezug zu den dort versammelten Texten ergibt weitere Hinweise auf mögliche Funktionen und Deutungen.
Hatzfeld – Jimbolia
Eine exemplarische Sammlung wissenschaftlicher Texte zur Geschichte des Banater Ortes
Die Geschichte des Banats ist trotz der aktuellen Aufmerksamkeit für die gewesene Europäische Kulturhauptstadt Temeswar in der Allgemeinheit eher Wenigen bekannt. Zwar haben viele eine vage Vorstellung von der Ansiedlung der deutschen Einwanderer im 18. Jahrhundert, aber deren Geschichte ist in der Vergangenheit vielfach durch den Mythos von der wüsten Leere der Region und der kulturbringenden Aktivität der Banater Schwaben oder Donauschwaben verdeckt worden. Dabei bietet diese Ansiedlung durch die Habsburger Behörden den einzigartigen Vorteil, dass dahinter eine barocke, d.h. "umständliche" und umfassende Bürokratie stand, deren Akten sich oft fast vollständig erhalten haben. So lassen sich sehr viel präzisere Blicke auf die realen Verhältnisse und Entwicklungen im Banat gewinnen, als es die Verklärungen und Mythisierungen suggerieren.
Der vorliegende Band widmet sich einem der Dörfer der eingewanderten deutschen Siedler, das bis heute große Wandlungen durchgemacht hat: Hatzfeld, nach einem der österreichischen adeligen Bürokraten benannt, dem Präsidenten der "Ministerial-Banco-Hofdeputation" Graf Karl Friedrich Anton von Hatzfeld, der die Besiedlung förderte, und zunächst 1766 zusammen mit dem Dorf Landestreu als Doppelgemeinde gegründet. Schon bald wurden die beiden Dörfer zusammengelegt unter dem Namen Hatzfeld. Die Gegend der Ansiedlung aber hatte schon längst eine Bezeichnung: "Csombol/Schumbol/Jimbolia" hieß ein Prädium, ein mit Weidedienstbarkeiten belegtes Stück Land, das als besonders fruchtbar galt und daher möglichst nicht besiedelt werden sollte. Aber der Wunsch nach Einkommen durch die Peuplierung der Landschaft war größer, so dass mittels entsprechender Agenten und Organisatoren 1766 vor allem aus dem Hunsrück, der Saar-/Moselgegend und Baden über die Donau zahlreiche Aussiedler ins Banat zur Gründung der Doppelsiedlung kamen.
Die mythenstiftende Funktion von Erinnerungsformen eröffnen anschaulich die Ausführungen von Reinhard Johler, Leiter des IdGL in Tübingen, zu den diversen Gedenktagen und -feiern der Besiedlung von Hatzfeld, deren Durchführung durch historische Ereignisse oft ausbleiben musste. Es kommen die Eigenbilder der heutigen und früheren BewohnerInnen dieser Geschichte zur Sprache, mit denen sich die Traditionen und das Selbstverständnis der Hatzfelder organisierten. Die genaue Geschichte aber dieser Migrationsansiedlung stellt die Historikerin Márta Fata in ihrem Beitrag auf der Basis der erwähnten reichen administrativen Quellen vor. Ihr Ansatz ist orientiert an der zeitgenössischen kameralistischen Idee der "guten Ordnung" und ihrer philosophisch-theoretischen Unterfütterung (Justi, Wolff). Die Autorin kann präzise die Initiierung der Ansiedlung in der von durchaus unterschiedlichen Interessen geprägten Konstellation der Institutionen in Wien und Temeswar nachzeichnen. Hierbei wird deutlich, dass sich die zugrunde gelegte philosophische "gute Ordnung" als sehr viel konkreter auf eine "gute Policey" ausrichtet, die vor allem das Funktionieren und steuerliche Prosperieren der Orte im Blick hatte. Die Kaiserin plädierte – gegen die Einwände der Viehzüchter und Pächter, dass der Boden der Prädien viel zu wertvoll für Besiedelung sei – mit dem Argument des schnellen Anwachsens der Einwanderung für die Ansiedlung und setzte sich durch. So kam es also, dass 1766 beschlossen wurde, auf der Prädie Schumbol gegen das Votum von Teilen der "Ministerial-Banco-Hofdeputation" und der Landesregierung zwei neue Siedlungen anzulegen. Besonders engagiert war hierfür der Oberamtmann der Grafschaft Sponheim im Hunsrück, Franz Hauer von und zu Heimbach, der darauf drängte, mehrere hundert Umsiedlungswillige ins Banat zu bringen. Damit ging die Inititative im Falle der neuen Siedlung von der Auswanderungsregion aus. Aufgrund der Archivlage lässt sich nachvollziehen, wie der aus Brandenburg stammende Impopulationsdirektor Hildebrand, der bereits im Jahr zuvor Sakelhas gegründet hatte, die Anlage des Doppeldorfes durchführte. Zweierlei war ungewöhnlich: Er ließ die Häuser der Ansiedler ortsüblich aus Lehm stampfen, um Zeit und Geld gegenüber der teuren Ziegelbrennerbauweise zu gewinnen – Geld, das die Siedler im Laufe der Jahre zurückzahlen mussten. Und er führte für die ersten Jahre eine Art Gemeinschaftsökonomie ein: Alle mussten ihre Erträge gemeinsam der Gemeinde überlassen, die mit Überschüssen Geld verdiente, um zugleich auch die nicht landwirtschaftlich aktiven oder unfähigen Neusiedler zu verpflegen. Wie sehr die supponierte "gute Ordnung" der Realität widersprach, zeigt Fata am Beispiel eines wenig frommen katholischen Pfarrers, der mit angesiedelt wurde und des Tumults, der bereits im Juni 1767 gegen den Ansiedlungsleiter Hildebrand wegen vorgeblicher Missstände und Fehler ausbrach und sich in 1000 Folioseiten Akten nachlesen lässt. Hierbei wird deutlich, wie genau die Aufsicht der Behörden über die KolonistInnen wahrgenommen wurde.
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Ein fast vergessenes Kapitel
Deutsche in der Dobrudscha
Von den z.T. seit Jahrhunderten im heutigen Rumänien lebenden deutschsprachigen Minderheiten haben die "Dobrudscher" möglicherweise aufgrund der relativ kurzen Phase am Donaudelta bisher am wenigsten
wissenschaftliche und publizistische
Aufmerksamkeit erfahren. Seit etwa Mitte des 19. Jahrhunderts zogen vor allem aus Bessarabien Bauernfamilien in das Gebiet zwischen Donaudelta und nordbulgarischer Küste. Diese Siedler hatten in dem seit 1812 zum russischen Zarenreich gehörenden Bessarabien keine Aussichten auf eine erfolgreiche Ökonomie ihrer landwirtschaftlichen Arbeit mehr gesehen und waren auf der Suche nach Anbauflächen in die Landschaft zwischen Donau und Schwarzem Meer eingewandert. Der Humangeograph Josef Sallanz hat dieser Community eine anschauliche und gut lesbare historische und kulturelle Übersicht gewidmet.
Der Boden als Eigentum -
Landreformen und Politik in Rumänien, Jugoslawien und Polen im 20. Jahrhundert
Interview mit dem Historiker Dietmar Müller über seine große Studie "Bodeneigentum und Nation"
Dietmar, du hast im Wallstein Verlag eine umfangreiche historische Studie* zur Landreform auch in Rumänien vorgelegt. Was ist Thema und was ist der Ausgangspunkt deines groß angelegten Buches "Bodeneigentum und Nation"?
Ich habe mich in dem Buch mit den Agrarreformen nach dem Ersten und nach dem Zweiten Weltkrieg in Ostmittel- und Südosteuropa beschäftigt.
Es gab mehrere Ausgangspunkte für das Buch. Zusammenfassen kann man sie am besten in der Hypothese, dass Eigentum an Grund und Boden für die Bauern, aber ebenso für die Gesellschaft und für den Staat von großer Bedeutung war und ist. Und zwar nicht nur im wirtschaftlichen Sinne. Für die Bauern hatte ihr Boden auch eine identitätsbildende Funktion innerhalb des Dorfes, aber auch als freier und selbstbewusster Staatsbürger, der nicht manipulierbar war.
Du gehst komparatistisch vor, indem du Rumänien, Jugoslawien und Polen zu diesem Thema vergleichst. Welches sind die methodischen Voraussetzungen dieses Komparatismus? Haben Staaten, Völker und Nationen nicht immer unterschiedliche Entwicklungen?
Diese drei Staaten haben ich vergleichend daraufhin analysiert, wie die Agrarreformen durchgeführt wurden und welche Bedeutung dem Bodeneigentum bei der Konstruktion von Nationen und Nationalstaaten zukam. Beim Vergleich kommt es darauf an, dass konkrete Dinge, Ideen und Prozesse auf etwas Größeres bezogen werden, das für die Vergleichspartner relevant ist – wenn auch in unterschiedlichem Ausmaß und Ausprägung. Dass ich nun gerade Rumänien, Jugoslawien und Polen miteinander verglichen habe, ist darin begründet, dass sie mit dem Zusammenbruch Österreich-Ungarns im Ersten Weltkrieg ex-habsburgische Provinzen erhielten: Siebenbürgen und die Bukowina; Kroatien, Slowenien und die Vojvodina; und Galizien. Diese neuen Provinzen brachten bedeutsame Eigenarten in die neuen Staaten ein, so dass ich folgende Fragen beantworten wollte: Wie gehen die neuen Staaten mit dem wohl etablierten Kataster- und Grundbuchsystem des Habsburgerreichs um? Kann die habsburgische Rechts- und Behördenkultur integriert werden? Welche Wege für eine staatsbürgerliche Integration der ethnischen Minderheiten aus den multi-ethnischen habsburgischen Provinzen werden vom politischen Bukarest, Belgrad und Warschau eröffnet, und welche geschlossen? Wie man sieht, sind dies Fragen, die sich sinnvoll an die drei genannten Nationen und Staaten, in leicht gewandelter Form sogar an die neue Staatenwelt der Zwischenkriegszeit insgesamt von Estland bis Albanien stellen kann.
Für dein Vorgehen ist der Begriff des Eigentumregimes zentral, insbesondere in seiner liberalistischen Variante. Welche Rolle hat er im 19. Jahrhundert gespielt und wie hat er sich in deinem speziellen Untersuchungsraum verändert?
Ein bestimmtes Verständnis von Eigentum war grundlegend für den Liberalismus als dominierende Wirtschafts- und Gesellschaftsideologie des 19. Jahrhunderts. Das liberale Eigentumsverständnis war individualistisch geprägt, es setzte auf Rechtsgleichheit und Rationalität. Jedes Individuum sollte ungeachtet seines Standes, seiner Konfession oder Ethnie, oder seiner familiären, regionalen und nationalen Herkunft ein Recht auf Eigentum haben. Seinerzeit war das modern, denn es löste die Menschen aus feudalen Bindungen. Auch in politischer Hinsicht sollte das liberal-individualistische Eigentumsverständnis emanzipativ wirken: Alle Eigentümer – und dies gilt besonders für die ländliche Bevölkerung – würden sich auf der Sicherheit des Eigentums ruhend zu selbstbewussten Bürgern entwickeln. Sie würden aus der patriarchalischen Abhängigkeit von ihren Gutsbesitzern heraustreten und nicht mehr manipulierbar sein.
Die notwendige Geduld für kleine Schritte auf einem langen Weg oder gar die Geduld, auf die Wirkung von Marktkräften zu warten, glaubten die Eliten der neuen Staaten Ostmittel- und Südosteuropas nach dem Ersten Weltkrieg sich nicht leisten zu können. Sie wollten nun in möglichst kurzer Zeit ihre Nationalstaaten nach westeuropäischen Mustern aufbauen, und der Staat war dabei ein sehr tatkräftiger Akteur. Ein Gutteil des wirtschaftlichen und politischen Emanzipationsversprechens des Bodeneigentums war also bereits dadurch in Gefahr, dass staatliche Akteure beeinflussen konnten, wie viel Verfügungsmacht und Freiheit die Neueigentümer aus ihrem Grund und Boden ziehen konnten. Dies ist z.B. bei der Durchführung der Agrarreformen zu sehen. Hierbei trat der Staat überall zwischen diejenigen, die enteignet wurden und diejenigen, die Boden neu erhielten. Überall wurde der Staat zunächst zum Eigentümer des enteigneten Bodens, bevor er ihn an die Neueigentümer verteilte. Das verlieh staatlichen Akteuren und Behörden sehr große Macht.
Kann man diese Infragestellung des liberalen Eigentumregimes mit den aktuellen Fragen um das Wohnen vergleichen?
Eine direkte Parallele würde ich nicht ziehen wollen. Grundsätzlich aber ist die Frage nach der sozialen Funktion von Eigentum in beiden Fällen berührt. Im Übrigen wurde auch in den west- und mitteleuropäischen Diskussionen um Funktion und Ausgestaltung von Eigentum nach den Objekten des Eigentums unterschieden. Ein Mindestmaß an Eigentum an Grund und Boden, an Nutztieren und an einem Haus wurde oft mittels gesellschaftlicher Normen und per Gesetz vor Enteignung geschützt. Eigentum an Aktien, um ein Beispiel eines Eigentumsobjekts mit großer Entfernung von konkreten Personen zu wählen, wird in aller Regel nicht mit einer sozialen Rolle versehen.
Vor welchem historischen Hintergrund haben die untersuchten Staaten in den Bodenreformen die Möglichkeit erhalten, das liberale Eigentumsregime durch Belastung mit unterschiedlichen Vorgaben zu modifizieren?
Im rumänischen Altreich war die Notwendigkeit einer Agrarreform vielen Zeitgenossen schon länger klar gewesen. Ich erinnere an die große Revolte von 1907, als es in weiten Teilen Rumäniens zu Zerstörungen von adeligen Besitztümern sowie staatlichen Einrichtungen durch Kleinbauern und Landlose gekommen war. Dass sich die Angriffe auch gegen jüdische Landpächter gerichtet hatten, nahm die Oberschicht zum Anlass, die eigentlichen Ursachen der Erhebung zu verschleiern, nämlich eine extrem ungleiche Verteilung des Bodens und ein Agrarregime, in dem die Großgrundbesitzer sich sowohl der Vorteile des Privateigentums, als auch der Vorteile abhängiger bäuerlicher Arbeit erfreuten. Aber erst die Ereignisse des Ersten Weltkriegs zwangen die politische und wirtschaftliche Oberschicht Rumäniens dazu, eine durchgreifende Bodenreform in Aussicht zu stellen – gleichsam als Belohnung dafür, dass die Söhne der Bauern die Waffen wieder aufnahmen, nachdem die rumänische Armee in der ersten Phase des Krieges schnell von habsburgischen, deutschen und bulgarischen Truppen besiegt worden war.
Wie im rumänischen Fall kam es auch in Serbien dazu, dass der König eine Agrarreform nach dem Krieg ausdrücklich versprach. In Polen konnte dies naturgemäß nicht der Fall sein, da es im dreigeteilten Polen keinen polnischen Monarchen gab. Dort kam es jedoch im Sommer 1920 zu einer vergleichbaren Verbindung zwischen militärischer Mobilisierung und Agrarreform, als die Rote Armee in der Auseinandersetzung um die Zugehörigkeit von Territorien, die heute die Ukraine und Belarus ausmachen, kurz vor Warschau stand. Der Sejm sah sich gezwungen in aller Eile eine Bodenreform zu beschließen, die zuvor auf die lange Bank geschoben worden war.
Konflikt und Harmonie in Siebenbürgen und dem Banat
Außergewöhnliche Forschungsansätze in einem Sammelband
Dass sich Siebenbürgen und das Banat nicht nur aus deutschsprachiger Sicht historisch sehr unterscheiden, ist weitgehend Gemeingut. Weshalb dies so ist und wie sich die Differenzen beschreiben lassen, spürt unter den Leitfragen von interkulturellen Konflikten und Harmonie ein Sammelband nach, der ein größeres Projekt (Clash of Civilizations or Peaceful Co-Evolution? Intercultural Contact in the Age of Globalization) begleitet.
Der Herausgeber Mihai I. Spariosu, Professor für Vergleichende Literaturwissenschaft
an der Universität Georgia Athens/USA, sieht als größeren Rahmen der Studien die Frage nach dem intercultural contact und seinen Folgen und Begleitumständen. Diese werden
historisch, soziologisch, ethnographisch angegangen – aber auch digital-algorithmisch in der Verarbeitung von Big Data (computer-assisted social modeling and simulation). Die beiden heute
großteils in Rumänien gelegenen Regionen bieten sich für diese Themenstellung wegen ihrer reichen Diversität in zahlreichen soziologischen Parametern an (ethnisch, religiös-konfessionell,
sprachlich, politisch, sozial) und lieferten historisch zahlreiche Beispiele sowohl für harmonisches Zusammenleben wie auch Konflikte und Gewalt. Es gehe dabei um die Frage, wie die Theorien des
angeblichen clash of civilizations funktionieren und welche Ursachen sie für den Ausbruch von Konflikten bieten: So wechseln einige AutorInnen von nationalen zu ethno-religiösen Erklärungen
und weiter zu Elite-Gruppenbeziehungen. Ebenfalls zentral für die Problematik der Konfliktursachen können auch Zentrum-Peripherie-Verhältnisse sein.
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Historie und Dogmen
Die katholischen Missionen in Moldau und Walachei im 17. Jahrhundert
Ein notwendig monumentales Buch - 480 dichtbedruckte Seiten (gekürzter!) Text über ein Thema, das im Westen nur Theologie- und Geschichtsspezialisten auf dem Schirm haben: die katholische Gegenreformation in den Donaufürstentümern. Keine leichte Lektüre und doch die Eröffnung eines weiten historischen Horizonts zum Verständnis auch des modernen Rumäniens und seiner Mentalitäten und den Zugängen, die sich der Westen zu dieser damals noch weit entfernt erscheinenden Welt eröffnete. Und ein weiteres Beispiel dafür, dass es trotzdem immer wieder Epochen gab, in denen die Landschaften an den Karpaten keineswegs in Paris, Konstantinopel, Warschau, Moskau oder Venedig vergessen waren. Im Gegenteil: Gerade die Auseinandersetzung mit der orthodoxen Religion im Osmanischen Reich stellte für den Heiligen Stuhl und die Herrscher im Westen ein wichtiges und vielfältiges Interesse erregendes Ziel in Zeiten des sich ausbreitenden Protestantismus dar.
Violeta Barbu geht ihr Thema in der Darstellung nicht ereignis- oder entwicklungsgeschichtlich an. Vielmehr flicht sie nach einer umfassenden theoretischen Disposition ein dichtes Netz der Darstellung von strukturellen Momenten der seit der Gründung der Sacra Congregatio Propaganda Fide 1622 verstärkten Missionarstätigkeit in Osteuropa. Zu diesen Strukturen gehören zahlreiche Ebenen und Aspekte, deren prominenteste als juristische, politische, kirchliche, historische, dogmatische identifiziert werden können. In ihren "methodologischen Vorüberlegungen" arbeitet die Autorin eine Reihe von Merkmalen der Beschäftigung mit der Gegenreformation und ihrer Missionstätigkeit an den Karpaten heraus. Sie verweist auf die Grenzen der katholischen und europäischen Welt angesichts der osmanischen Oberhoheit, auf die mentalen Abgrenzungen und Gemeinsamkeiten mit dem orthodoxen Glauben, die Modernisierungsschübe durch den Katholizismus im Raum der religiösen Auseinandersetzungen und in die Zukunft voraus weisenden Denkansätze ("christliches Kontinuum seit dem Mittelalter") sowie auf Fragen der in der Historiographie diskutierten Sozialdisziplinierung und des Durchbruchs eines sozialen Wandels hin zur "Moderne". Diese Annäherungen münden in einen Beginn der Darstellung, der die unterschiedlichen Normen und Institutionen diskutiert, die für den Raum der Donaufürstentümer und ihre religiöse Situation bestimmend waren. Es handelt sich dabei um eine Konkurrenz von weltlichen Institutionen und den geistlichen Systemen, die zu vielfachen Unklarheiten und Überlappungen von Entscheidungsbefugnissen auch innerhalb der katholischen Kirche führten.
"Heim ins Reich" - und was sich dahinter verbarg
Mariana Hausleitners aufschlussreiche Studie zur Umsiedlung der Bukowina-Deutschen
Als 1935 das Saargebiet darüber abstimmen sollte, ob es zu Frankreich oder (Hitler-)Deutschland gehören oder weiterhin als autonomes Völkerbundsgebiet verwaltet werden wollte, entfaltete die Propaganda von der "Heimkehr ins Reich" oder zur "deutschen Mutter" eine für das Abstimmungsverhalten fatale Suggestion. Ähnlich erging es den Bukowina-Deutschen, als infolge des Hitler-Stalin-Pakts und des Beginns des Zweiten Weltkriegs ihre Umsiedlung mit dem Slogan "Heim ins Reich" camoufliert wurde. Dass an diesem Ausdruck alles falsch war, belegt die Historikerin Mariana Hausleitner in ihrer detaillierten und quellengesättigten Arbeit über Voraussetzungen, Ablauf und Folgen dieser Evakuierung, die ebenso die Deutschen in Bessarabien betraf.
Die Idee dieser Bevölkerungsverschiebung kam gegen Ende der 1930er Jahre auf, aber Hausleitner beginnt ihre Arbeit mit der für das Verständnis der Abläufe und Haltungen gewinnbringenden Darstellung des besonderen Verhältnisses der Minderheiten in der zu Rumänien gehörigen Bukowina seit dem Ende des Ersten Weltkriegs. Dadurch kann sie zeigen, wie die mehrheitlich katholische deutsche Minderheit sich im Verhältnis zu den polnischen, jüdischen, ukrainischen Minoritäten und der rumänischen Titularnation entwickelte und weshalb sie in den 1930er Jahren sich dem Einfluss der Nationalsozialisten ergab. Eine große Rolle spielte die ökonomische Entwicklung bei den meist in Forst- und Landwirtschaft tätigen Deutschen wie auch die Rumänisierungstendenzen etwa im sprachlichen und schulischen Bereich, die die Bukowiner veranlasste, nun mit den Deutschen Volksräten in den anderen Provinzen Siebenbürgen, Banat u.a. zu kooperieren, um die Rechte aus der Zeit der Habsburgermonarchie zu verteidigen. Mit der differenzierten Darstellung der konfessionellen, politischen, verwandtschaftlichen, minderheitlichen Bezüge und Verbindungen erscheinen sowohl die Handlungsspielräume als auch die möglichen Handlungsalternativen der Bukowiner Deutschen und ihres Führungspersonals im Deutschen Volksrat. Das vorher russische Bessarabien wies hingegen wieder ganz andere Voraussetzungen auf.
Seit in Deutschland 1933 die NSDAP an die Macht gekommen war und die Weimarer Verfassung durch Gleichschaltung in eine Diktatur verwandelte, begann auch ihr Interesse an der "Volkstumspolitik" zu wachsen. Durch die Konflikte bei den Siebenbürger Sachsen und den Banater Schwaben über die künftige Orientierung im rumänischen Staat gewannen NSDAP-nahe Gruppen entscheidenden Einfluss, der auch in der Bukowina sich ausbreitete. Debatten zwischen den bukowinischen Minderheitsfunktionären wie Lebouton, Lang, Goebel u.a. wurden nun aufgeladen als ideologische Konflikte und mit entsprechender Verbissenheit geführt – bis hin zu gewalttätigen Auseinandersetzungen zwischen unterschiedlich radikalen nationalsozialistischen Gruppierungen bei einer Veranstaltung 1937 in Illischeschti. Durch den Einfluss der NSDAP bis in die deutschen Minderheiten in Rumänien gewannen zudem auch Machtkämpfe in Berlin Bedeutung für die Deutschen in der Bukowina und Siebenbürgen. Ein weiterer entscheidender Faktor bildete die Entwicklung in Rumänien selbst mit dem Terror der rechtsextremen Legionäre und der Politik unterschiedlicher Regierungen und Parteien unter der Herrschaft von König Carol II. sowie die außenpolitische Veränderung des Kräfteverhältnisses in Europa durch die Expansionspolitik des Nazi-Reiches und die Haltung der Sowjetunion.
Das wachsende Interesse der Nazi-Stellen an den deutschen Minderheiten war neben militärischen auch durch arbeitsmarktpolitische Aspekte gespeist. So spielte in den Kriegsvorbereitungen die potentielle Besetzung von Arbeitsstellen durch deutsche Minderheiten in Osteuropa eine wichtige Rolle und auch die SS bemühte sich, ihre Reihen durch Siebenbürger Sachsen und Banater Schwaben zu füllen. In diesem Kontext wurde die Planung der Umsiedlung bereits durch Datenerhebungen vorbereitet, wie etwa Zählungen des Leipziger Physikers Herbert Mayer, um Arbeitskräfte nachzuweisen, die später eine Basis für die Liste der Deutschen in den bukowiner Dörfern bildeten.
Militär und Politik
Alexandru Averescu –
General und Ministerpräsident
Nicht zuletzt wegen seiner Rolle im Ersten
Weltkrieg, als General Alexandru Averescu einige wichtige Schlachten gewann, ist sein Name bis heute im historischen Gedächtnis Rumäniens tief verankert. Er bleibt eine bedeutende Gestalt Rumäniens im 20. Jahrhundert. Dass nun Gelegenheit besteht, durch die deutsche Übersetzung eines laufbahnbiographischen Essays des Militärhistorikers Petre Otu mehr über den Hintergrund des Militärs und Politikers zu erfahren, verdankt sich einem Kleinverlag im hessischen Hainburg.
Alexandru Averescu wurde 1859 im Süden Bessarabiens bei Ismail am nördlichen Donauarm in eine wenig begüterte Familie geboren und ging 1878 als Freiwilliger in den Russisch-Türkischen Krieg, der als eine seiner Folgen Rumäniens volle Souveränität brachte. Eigentlich eher technisch orientiert trat der Soldat nach der Rückkehr als Feldwebel und mit zwei Auszeichnungen dekoriert wieder in die Armee ein, um nach 2 Jahren eine Gelegenheit zu nutzen, die Unteroffiziersschule im Kloster Dealu zu besuchen. Dies bot ihm die Möglichkeit, als Quereinsteiger später eine reguläre Offizierslaufbahn zu verfolgen. Sie sollte ihn zu den höchsten Rängen des rumänischen Militärs führen.
Wie Otu zeigt, zeichnete sich der künftige General durch Eigensinn und Ehrgeiz aus. Er publizierte ein dreibändiges Plagiat von Lehrern an der Hohen Kriegsschule in Turin, wohin Averescu als Bester seines Jahrgangs entsandt wurde, machte diesen seinerzeit offensichtlich wenig rufschädigenden geistigen Diebstahl aber durch dann selbst geschriebene Bücher wieder wett. Sie trugen dazu bei, dass er zum Direktor der Hohen Kriegsschule im Kloster Dealu berufen wurde. Auch die Gründung von militärwissenschaftlichen Zeitschriften trugen zu seiner wachsenden Bekanntheit im Militär des kleinen Königreichs hinter den Karpaten bei. 1898 erreichte ihn der Ruf als Militärattaché in Berlin, wo er – eine erstaunliche Perspektive – auch den Husarenmajor Mackensen kennenlernte, seinen späteren großen Gegenspieler im Ersten Weltkrieg. Auch die Berliner Position wurde von Skandalen und Schwierigkeiten mit der liberalen politischen Elite geprägt. Zurück in Rumänien übernahm er das 4. Regiment Rote Husaren in Bârlad, veröffentlichte weiter vor allem zu seinem Lieblingsthema Strategie und Militärgeographie und erreichte 1902 im Alter von 47 Jahren als Jüngster im Karpatenkönigtum unter Hohenzollernkönig Karl I. den Generalsrang (32).
Krieg, Holocaust und "Rumäniendeutsche"
Paul Milatas Standardwerk über die Deutschen aus Rumänien in der Waffen-SS
Dass eine voluminöse Dissertation zu einem historischen Thema in die 3. Auflage geht, ist eher eine Seltenheit. Da müssen schon Thema, Bearbeitung und allgemeines Interesse eine innige Verbindung miteinander eingehen. Dem rumänischen Historiker Paul Milata ist dies mit seiner Arbeit zu den "Rumänidendeutschen in der Waffen-SS" so überzeugend gelungen, dass jetzt eine weitere Auflage der zweiten von 2009 folgen konnte. Gegenstand der Diss. und Gründlichkeit der Forschungsarbeit dürften die Hauptursachen für den Erfolg des Buches darstellen.
Dass 64000 rumäniendeutsche Männer und wenige Frauen in die SS eintraten und die Hitlersche Kriegspolitik realisierten, hat nach der Niederlage eine der wichtigen Stimmen der Siebenbürger Sachsen dazu veranlasst, festzustellen: "Die SS-Aktion war der folgenschwerste Fehler der sächsischen Geschichte." Sie veränderte die Nach-kriegsgeschichte der deutschen Minderheiten aus Rumänien auch in der BRD, wo die Mitgliedschaft in der Waffen-SS ein heißes Eisen war und eher nicht ausführlich erforscht wurde. So dauerte es bis lange nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion und dem Fall des kommunistischen Regimes in Rumänien, dass Milata Zugang zu den entscheidenden Archiven und Quellen erhielt, die es ermöglichten, das komplexe Geschehen einer breiten Darstellung zugänglich zu machen.
Milata nennt als sein Hauptinteresse die Frage nach der nach dem Krieg immer wieder betonten "Freiwilligkeit" des Beitritts zur SS. Diese Fragestellung leitet zahl-reiche seiner Detailuntersuchungen. So wird die entscheidende Erhebung von 1943, bei der über 60000 Sachsen und Schwaben gemustert und militärisch in die SS eingegliedert wurden, ausführlich in ihrem eigenartigen politischen und organi-satorischen Hintergrund aber auch in der Motivation der jungen "Rumänien-deutschen" dargelegt (die Problematik des Begriffs "Rumäniendeutsche" ist Milata sehr bewusst). Schließlich waren die Siebenbürger Sachsen und Banater Schwaben rumänische Staatsbürger deren "zuständige" Militärformation die armata română darstellte.
Rumänien im Ersten Weltkrieg
Die unbekannte Front
Lange war über die Teilnahme des Königreichs Rumänien am Ersten Weltkrieg im Westen nur wenig bekannt. Gesamtdarstellungen des grausigen Völkermordens konzentrierten sich oft auf die Stellungskämpfe von Verdun und an der Somme, die Ostfront wurde in Deutschland eher mit dem Sieg bei Tannenberg oder dem Friedensschluss mit den Sowjets bei Brest-Litowsk assoziiert. Dass durchaus Welthistorisches sich auf dem Balkan und um die Karpaten vollzog, wird erst allmählich von der historischen Forschung genauer untersucht. Rumäniens verzögerter Eintritt in das Geschehen wurde 100 Jahre später zum Anlass einer Tagung in Veliko Trnovo (Bulgarien) genommen, deren Ergebnisse jetzt als Buch erschienen sind.
In der Einleitung verweisen die HerausgeberInnen auf innovative Forschungsansätze
wie Raumerfahrungen der Kombattanten oder die Einbeziehung der zivilen Bevölkerung in den Krieg, die in der westlichen Perspektive allmählich aufgegriffen werden. Wichtig für den Band sei
der polyperspektivische Zugang, um die Diversität des Geschehens in Südosteuropa zu verstehen.
Der Band ist in 3 Teile gegliedert, deren erster sich klassisch mit den koalitionspolitischen Entwicklungen insbesondere der Mittelmächte Österreich-Ungarn, Deutschland, Türkei, Bulgarien und den operationshistorischen Vorgängen vor und nach dem 27. August 1916 – der Kriegserklärung Rumäniens auf der Seite der Entente (Großbritannien, Russland, Frankreich, später Italien) – beschäftigt. Gerald Volkmer zeichnet konzise und detailliert die Konstellationen und Bewegungen nach, die in den rumänischen Eliten die Haltung zu dem 1914 ausgebrochenen Krieg bestimmten. In z.T. kritischer Auseinandersetzung mit Lucian Boias These vom Einfluss der germanofilii, deren Umriss Volkmer bei Boia als nicht immer trennscharf gezeichnet sieht, strukturiert der Historiker den Wechsel der Haltungen vor Ausbruch des Krieges, während der Neutralität und nach Eintritt in den Krieg gegenüber den Mittelmächten. Hier kommen die diversen Angebote an die rumänische Führung (vor allem an I.C. Brătianu, den Ministerpräsidenten, der fast ausschließlich die Entscheidungen traf) zur Sprache, wie etwa Großbritanniens Kauf von Getreide von Rumänien, das wegen der gesperrten Dardanellen und der Grenze zu Österreich-Ungarn von vorneherein nicht ausgeliefert werden konnte.
Dieses differenzierte Bild ergänzen die Ausführungen von Jan Vermeiren mit Ansichten der Mittelmächte auf Rumänien und Bulgarien vor deren Eintritt in das Geschehen. In beiden Aufsätzen geht es vor allem auch um die Rolle und geopolitische Lage des Landes, das wegen seiner Transportwege (etwa in die Türkei) oder der Bodenschätze und Landwirtschaftsprodukte eine nicht unerhebliche Rolle in den Planungen der beiden Lager einnahm. Entscheidend waren aber die rumänischen Vorstellungen von der Verwirklichung jener "nationalen Idee", die die Einverleibung Siebenbürgens und des Banats als Raum rumänischer Bevölkerung einschloss. Österreich-Ungarn konnte solchen territorialen Forderungen trotz Drängens des Bündnispartners kaum nachkommen, hatte es doch den Krieg gerade wegen der Beibehaltung der territorialen Integrität des Vielvölkerreiches begonnen.
Präzisiert wird die Vorgeschichte des Eintritts Rumäniens in den Krieg durch drei Beiträge, die sich mit dem vermeintlichen "soft belly" (weichen Unterleib) der europäischen Frontstellungen beschäftigen. Daniel Marc Segesser macht deutlich, dass sowohl die Landung im türkischen Gallipoli und das Selbstbewusstsein Italiens gegenüber Österreich-Ungarn sowie der neue Bündnispartner Rumänien keineswegs die unmittelbar erhoffte Erleichterung für die an der Westfront im Stellungskrieg verharrenden Kriegsstrategien der Entente brachten. Ergänzend schildert Bernhard Bachinger die Entwicklungen an der Mazedonien-Front, die für Bulgarien und Rumänien von großer Bedeutung war. Es gehörte zu den Bedingungen Rumäniens für den Eintritt auf Seiten der Entente, dass die Entente an der Salonika-Front die bulgarischen Positionen angreift, um den Gegner auch im Süden militärisch zu beschäftigen. Diese Forderung wurde allerdings nur halbherzig erfüllt, so dass Bulgarien im Norden die Dobrudscha erobern konnte. Dass die Beziehungen zwischen den Kriegspartnern Deutschland und Bulgarien keineswegs die besten waren, zeichnet Mitherausgeberin Deniza Petrova nach und verweist auf die kulturelle Diversität, die offensichtliche machtpolitische Asymmetrie und das daraus resultierende dysfunktionale Vorgehen in den militärischen Operationen. Diese reichten soweit, dass es an der Dobrudscha-Front zu Verbrüderungen zwischen bulgarischen und russischen Soldaten kam, die Oliver Schulz in ihren Motivationen und ideologischen Instrumentalisierungen skizziert. Russland galt als befreundete Schutzmacht Bulgariens, dessen Unabhängigkeitsbestreben vom Osmanischen Reich es entscheidend unterstützte. Ebenso befand sich das Osmanische Reich in einer eher bedauerten Situation gegenüber Rumänien, zu dem es durchaus gute Beziehungen vor dem Krieg besaß und das jetzt Gegner geworden war, was Mesut Uyar in seinen vor allem militärpolitischen Implikationen nachzeichnet.
Einen intensiveren Fokus auf die deutsche und rumänische Armee bieten
Axel Bader und Lucian Topor. Bader untersucht detailliert anhand von Regimentstagebüchern, Egodokumenten und archivalischen
Quellen das Württembergische Gebirgsbataillon, eine neue Einheit für den Gebirgskampf, deren Ethos und Mentalität der Autor im pietistisch-bürgerlichen Leben der Vorkriegszeit verwurzelt
sieht. Topor, Herausgeber des Sammelbandes "The Unknown War", geht den Erfahrungen der rumänischen Soldaten vom Angriff auf Siebenbürgen bis
zur Flucht in die Moldau nach, wobei auch die Typhus-Epidemie dort und die Frage der Kriegsgefangenschaft thematisiert werden. Von 43000 rumänischen Kriegsgefangenen in
Deutschland starben 15500 in den Lagern, eine sehr hohe Sterberate von 30%, was das negative Bild der deutschen Kriegsgegner weiterhin vertiefte. Dieser Aspekt wird in dem Beitrag von Groza
im 3. Teil des Buches ergänzt.
Einer der vielen unbekannten Aspekte der Dobrudscha-Front kommt in Danilo Šarenacs Beitrag zu den Serben auf Entente-Seite zur Sprache. In russischen Kriegsgefangenenlagern bildeten sich ähnlich zur Tschechischen Legion aus vorher habsburgisch-serbischen Mannschaften eine First Serbian Volunteer Division, die von Odessa aus an der Dobrudscha-Front mit hohen Verlusten gegen die Mittelmächte eingesetzt wurde. Šarenac reflektiert an diesem Beispiel die Globalisierung durch den Krieg, da die Freiwilligen lange Reisen durch Europa absolvieren mussten, um nach Odessa zu gelangen. Zugleich sieht der Autor in den spezifischen Konflikten der Division bereits Probleme des kommenden Nachkriegsjugoslawien aufscheinen.
Vorgreifend auf das nächste Kapitel sei der Beitrag von Stefan Minkov erwähnt, in dem detailliert die Dobrudscha-Front als Ort des Einsatzes von Bulgarien und Osmanischem Reich befragt wird. Beide Länder befanden sich eher überraschend im Bündnis mit den Mittelmächten, beide hatten gegeneinander Territorialinteressen auf dem Balkan, unterschiedlich war ihr Verhältnis zu Rumänien bei Kriegseintritt: die Türkei eher freundschaftlich, aber jetzt auf Dreibund-Seite, Bulgarien eher feindlich wegen den Balkan-Kriegen. So ergaben sich vor allem wegen der Besitzansprüche auf dem Balkan Differenzen zwischen den beiden Verbündeten, zudem betrachtete Bulgarien im Laufe der Kriegsentwicklung die Dobrudscha als ein Kriegsziel, was aber nicht zuletzt von den deutschen Militärs in Frage gestellt wurde
Der unbekannte Krieg
Rumänien zwischen Entente und Dreibund
Der Eintritt Rumäniens 1916 in den Ersten Weltkrieg war lange in der Forschung marginalisiert worden. Kaum sind größere Arbeiten zu diesem Thema entstanden, geschweige denn, dass es einen breiten Forschungszusammenhang gegeben hätte. Zum 100. Jahrestag erschienen nun mehrere Publikationen, die wir hier vorstellen wollen. Zunächst eine in Rumänien entstandene in englischer Sprache.
Der von den Iaşier Historikern Claudiu-Lucian Topor und Alexander Rubel herausgegebene Band mit 17 Beiträgen ist nach der Chronologie unterteilt: Beginnend mit der Zeit der Neutralität über den Kriegseintritt 1916 und die Kämpfe in den Karpaten und der Dobrudscha hin zur Erinnerung in den Schulbüchern.
Gleich der erste Beitrag von Michael Jonas zur Neutralität Rumäniens im Vergleich zu der Schwedens ist ein herausragendes Beispiel einer historischen Analyse der Unterschiede in der politischen, juristischen und militärischen Haltung der beiden Regierungen gegenüber dem Ausbruch des Krieges. In erfreulicher Breite geht der Autor auf die geo- und außenpolitischen Lagen wie auf die innenpolitischen, das Selbstbild formenden Kräfte ein, die an der Entscheidung für die Neutralität wirkten und die Haltung zu den Krieg führenden Parteien bestimmten. Der größte Gewinn der Studie stellt aber die weit gefächerte Verhandlung der beiden Länder im Neutralitätsdiskurs und der Neutralitätspolitik in jener Zeit dar. Für den historischen Teil stützt sich Jonas auf Lucian Boias (wie Jonas es nennt: 'revisionistische') Darstellung in seinem bekannten Buch über die "Germanofilii", um Gemeinsamkeiten und Unterschiede zu dem skandinavischen Land herauszuarbeiten. Eine solche komparative Analyse wirke der Provinzialisierung der jeweiligen Nationalgeschichten entgegen und zeige zudem die Komplexität von "Neutralität". Nach einer präzisen historischen Darlegung der politischen Situation, die für Schweden und Skandinavien interessante Zusammenhänge eröffnet, kann Jonas dann die rechtlichen Grundlagen der Neutralität seit den Haager Abkommen in Verbindung zu den jeweiligen Praktiken in Schweden und Rumänien näher darlegen. Eine äußerst informative und interessante Lektüre! Verweist Jonas auf den Rumänien ähnlichen Fall von Italien, so kann man bei Emanuela Constantini genauer nachlesen, wie die beiden lateinischen Nationen zunächst Verhandlungen über ein gemeinsames Verhalten gegenüber den Krieg führenden Parteien starteten, Italien dann aber schon 1915 auf Seiten der Entente in den Krieg eintrat. Die Gründe lagen in der ebenfalls expansiv ausgerichteten italienischen Politik, die auf dem Balkan und in den Alpen Gebietsgewinne sich versprach.
Nicht abwartend verhielt sich das Osmanische Reich, das 1914 auf der Seite der Mittelmächte in den Krieg eintrat, wobei allerdings Silvana Rachieru als Effekt der unterschiedlichen Politik auf beiden Seiten "Überraschung" ausmacht, als man sich 1916 als Gegner in feindlichen Lagern wiederfand. Rumänien und das Osmanische Reich hätten seit der Unabhängigkeit des Karpatenstaates intensive diplomatische und ökonomische Beziehungen gepflegt, die eher unerwartet durch den Krieg abgebrochen wurden. Rachieru weist auf einige Aspekte der Diplomatie hin, erwähnt die Bedeutung der Dardanellen und des Öls für den Krieg, die allerdings weiterer Erforschung bedürften, und hebt die Tatsache hervor, dass das Osmanische Reich zu den Besatzern Bukarests gehörte und 1918 den Friedensvertrag mit Rumänien unterzeichnete.
Es ist ein einzigartiges und zugleich wegweisendes Projekt mit populärem "appeal": An der Universität Gießen wird am Lehrstuhl Osteuropäische Geschichte die Edition möglichst aller erreichbaren historischen Quellen zur Gestalt des walachischen Woiwoden Vlad III. "Ţepeş" (der Pfähler; auch "Drăculea" genannt) realisiert. Nach vorbereitender und mit begleitender Forschung hat die kleine Mannschaft im DFG-Projekt "Vlad Ţepeş Dracula. Herrscherbiographie und Tyrannenlegende" um Prof. Thomas M. Bohn, zu der Adrian Gheorghe, Christof Paulus und Albert Weber als Mitherausgeber gehören, innerhalb von vier Jahren bereits zwei Bände des arbeitsaufwendigen Projekts veröffentlicht.
Als Ziel ihres Vorhabens beschreiben die Forscher im Vorwort zu Band 1,1, "die Forschung von den nationalhistoriographischen, kommerziellen und neuerdings auch islamophoben Auswüchsen zurück zur Historizität [zu] führ[en] und die Quellen durch eine zeitgemäße Interpretation verständlich und analysierbar [zu] machen." Denn der walachische Herrscher wurde bereits zu Lebzeiten und unmittelbar nach seinem Tod 1476/77 je nach politischer Perspektive sehr unterschiedlich beurteilt und diese Plurivalenz ist Jahrhunderte später mit seiner unerwarteten Popularität als Graf Dracula in einem von einem Iren geschriebenen raffinierten Schauerroman keineswegs verschwunden. Was bei Bram Stoker als historische Figur, wenn auch mit einigen signifikanten Merkmalen versehen, nur angedeutet wird, musste in den antagonistischen Interessenlagen des 15. Jahrhunderts je nach (wechselnder) Position zu einem äußerst disparaten "Bild" des Vlad III. führen: Osmanenfeind, Christentum- oder Europaverteidiger, brutaler Herrscher, gerechter und strenger Woiwod, Ungarn-feind/-freund, grausamer Sadist, u.a.m. Die Herausgeber des Corpus Draculianum interessieren die zeitgenössischen Ansichten - nicht die Populärkultur des 20. Jahrhunderts ist der Bezugspunkt, sondern die politischen Verwerfungen des 15. Jahrhunderts, wie sie sich in den zugänglichen Quellen darstellen.
Diese Quellen müssen erst einmal gefunden werden. Das Projekt - ursprünglich an der LMU München auf einen Band geplant - erwies sich bald nicht nur als die Edition vorhandener Dokumente, sondern als erfolgreiche Suche nach bisher unbekannten. Für den zuerst erschienenen Band 3 (Bearbeiter Adrian Gheorghe und Albert Weber), der die postbyzantinischen (griechischsprachigen) und osmanischen (osmanischen, persischen, arabischen) Quellen präsentiert, wurden hunderte von Dokumenten in Bibliotheken und Archiven aus über 20 Ländern gesichtet und verglichen. So werden etwa zu Chalkondyles' Apodeixis Historion - die "wichtigste Quelle zu Vlad dem Pfähler" - 26 Handschriften(bruchstücke) in 11 verschiede-nen Städten Europas herangezogen, bei Idris Bitlisi 42 Tex-te u.a. in Kalkutta, Manchester, Petersburg, Kairo und vor allem in Istanbul. Diese Quellen werden im Originaltext und einer rohen Übersetzung geboten, was das Corpus Draculianum auch den nicht der zahlreichen Sprachen, in denen die Texte überliefert wurden, kundigen Lesern zugänglich macht. Zudem bietet ein einführender Essay zu den literarischen Textgestaltungen und Überlieferungen weitere dienliche Informationen zur Beschäftigung mit dem Corpus. Weitere Hilfestellungen bieten Diagramme, Statistiken, Schlachtskizzen, so dass Bd. 3 des Corpus Draculianum eine weit gefasste Aufarbeitung der osmanischen Geschichtsschreibung zu dem die Herrschaft des Sultans herausfordernden walachischen Woiwoden bieten kann.
Der Band 1 (Teilband 1; Bearbeiter ebenfalls Adrian Gheorghe und Albert Weber, mit Beiträgen von Marian Coman,
Jürgen Fuchsbauer, Ginel Lazăr) nimmt sich Briefe und Urkunden vor, hier speziell aus der Walachei. Eine umfangreiche Einführung in die walachische Diplomatik
der Epoche liefert dem Leser das Rüstzeug, um die meist aus dem Stadtarchiv von Kronstadt / Braşov mit der Hilfe der dortigen Archivare herangezogenen Dokumente einordnen zu
können. Sie belegen die drei Herrschaftszeiten Vlads von 1442, 1456-1462, 1476 mit Korrespondenzen und Beurkundungen. Etwa die Beziehungen
und Konflikte mit den siebenbürgischen Städten Hermannstadt, Schässburg und Kronstadt, die wiederholt Prätendenten auf den walachischen Thron unterstützten, zugleich aber auch wichtige
ökonomische Beziehungen zur Walachei pflegten. Zentral sind die ersten Hinweise auf Vlads III. grausamen Umgang mit Gegnern und auch siebenbürgischen Kaufleuten sowie die
genaue Schilderung seines Angriffs auf die an der Donau gelegenen osmanischen Orte mit einer detaillierten Auflistung der Opferzahlen.
Über diese Dokumente hinaus werden sowohl sphragistische Quellen (mit Farbfotos) genau beschrieben und untersucht, die epigraphischen Quellen der Glocke vom Kloster
Gorgova und des Grundsteins der Kirche von Târgşor sowie der Grabstein von Vladislav II. (1512-1520) wiedergegeben und dann drei Münzen als
numismatische Quellen analysiert. In diesem Band ist also der Herrscher zu beobachten in seiner Auseinandersetzung mit den siebenbürgischen Städten, die auch für seine Politik gegenüber dem
Osmanischen Reich von Bedeutung waren. Der zweite Band wird weitere Dokumente insbesondere aus russischen, siebenbürgisch-sächsischen und westeuropäischen Quellen bis zum Jahr 1650
bringen.
Die üppige Einordnung der einzelnen Dokumente und Texte in politische, diplomatische, militä-rische, literarische u.a. Kontexte macht die ersten beiden Bände
des Corpus Draculianum zu einem Meilenstein in der Erforschung der historischen Hintergründe jenes Vlad Ţepeş, der Jahrhunderte nach seinem Tod noch einmal durch einen irischen Roman zu einer mythischen Gestalt wurde.
Mit dem Teilband 1/2 sammelt das Corpus Draculianum die Überlieferungskreise II und III aus den ungarischen, osmanischen, moldauischen, polnischen, kaffensischen, italienischen, französischen, deutschen Dokumenten. Es handelt sich um 121 Briefe und Urkunden in sechs Sprachen, die nach den Einteilungskriterien der Herausgeber in Überlieferungskreise nicht von Vlad Țepeș oder seiner Kanzlei selbst (Überlieferungskreis I) stammen, sondern an ihn und seine Kanzlei gerichtet sind, ihn erwähnen oder sehr nahe Handlungen des Vlad III. Drăculea betreffen. Dabei stellt Überlieferungskreis III noch einmal eine weitere Distanz dar, indem dort Texte gesammelt werden, deren "Aussteller keine direkten diplomatischen Beziehungen zu V. und anderen walachischen Herrschaftseliten unterhielten, sondern lediglich mit seinen Nachbarn in Verbindung standen und auf deren Informationen angewiesen waren". (185) Dennoch "sind ihre Berichte von außer-ordentlichem Wert für die Rekonstruktion der Biographie des Woiwoden, die aufgrund der hohen Archivverluste in der Region zahlreiche Lücken aufweist." (185) Während Überlieferungskreis II vor allem ungarische Dokumente beinhaltet, greift Überliefe-rungskreis III auf die reichen italienischen Archive der Städte Venedig und Mailand zurück. Dieser Überlieferungskreis beinhaltet vor allem die Abschriften von kontinuierlichen Berichten des Abgesandten nach Buda, Pietro di Tommaso, oder des Mailänder Vertreters in Venedig, Antonio Guidobono, der hartnäckig eingegangene Nachrichten aus Südosteuropa an den Sforza-Hof in Mailand weiterleitete. Hinzu kommen eine Reihe von aufgefundenen Einzelbriefen zu unterschiedlichsten Anlässen aus verschiedenen Archiven. Als Einzelbrief stellt das Schreiben des Sultans Mehmed II., das den Walacheifeldzug von 1462 beschreibt, ein Highlight dar, das hier erstmals publiziert und faksimiliert wird.
Einige Ergänzungsquellen beleuchten bisher wenig bekannte historische Vorgänge um Vlad, wie etwa seinen Hauskauf in Pécs.
Der zeitliche Rahmen dieser Quellen in Band 1/2 umfasst Vlads Biographie in der Zeit von 1452 bis 1477. Fotos zeigen zur Illustration einige der Quellen in ihrem Aussehen und Zustand.
Die Einteilung in Überlieferungskreise geht zurück auf die Absicht der Herausgeber, mit der Quellenedition die Herkunft der Vielfalt der sehr unterschiedlichen Perspektiven auf den Dracula-Woiwoden präzise zu bestimmen. In ihrer einleitenden Begleitstudie zu Band 1/2 führen sie aus, dass die Bewertung Vlads nicht auf einzelne Quellen, Autorengruppen, Herrschereliten, Volksgruppen, reduziert werden kann, sondern dass zwischen diesen mitunter subtile Abhängigkeiten bestehen. So machen die in diesem Band publizierten Quellen oft eine geringe Bedeutung Vlads für die Venezianer und Genuesen plausibel, wenn es um die militärische Situation gegenüber dem osmanischen Reich geht - von den Vlad zugeschriebenen Greueln ist da nicht die Rede. Die hier publizierten Quellen "zwischen Ereignisgeschichte und narrativer Traditionsbildung" (XV) machen deutlich, wie kompliziert die ja nicht immer sehr üppige Quellenlage die Frage nach der Beurteilung Vlad Țepeș durch seine Zeitgenossen macht.
Corpus Draculianum. Dokumente und Chroniken zum walachischen Fürsten Vlad dem Pfähler 1448-1650. Hg. v. Thomas M. Bohn, Adrian Gheorghe, Christof Paulus und Albert Weber. Bd. 1. Briefe und Urkunden. Teil 1: Die Überlieferung aus der Walachei. Bearbeitet von Adrian Gheorghe und Albert Weber, mit Beiträgen von Marian Coman, Jürgen Fuchsbauer, Ginel Lazăr. Wiesbaden: Harrassowitz Verlag 2017, ISBN 978-3-447-10212-4, 265 S., zahlr. Abb.
Corpus Draculianum. Dokumente und Chroniken zum walachischen Fürsten Vlad dem Pfähler 1448-1650. Hg. v. Thomas M. Bohn, Adrian Gheorghe, Christof Paulus und Albert Weber. Bd. 1. Briefe und Urkunden. Teil 2: Die Überlieferung aus dem Königreich Ungarn und dem Mittelmeerraum. Bearbeitet von Adrian Gheorghe und Albert Weber und Christof Paulus. Wiesbaden: Harrassowitz Verlag 2018, ISBN 978-3-447-10628-3, 361 S., zahlr. Abb.
Corpus Draculianum. Dokumente und Chroniken zum walachischen Fürsten Vlad dem Pfähler 1448-1650. Hg. v. Thomas M. Bohn, Adrian Gheorghe, Albert Weber. Bd. 3. Die Überlieferung aus dem Osmanischen Reich. Postbyzantinische und osmanische Autoren. Bearbeitet von Adrian Gheorghe und Albert Weber. Wiesbaden: Harrassowitz Verlag 2017, ISBN 978-3-447-06989-2, 419 S., Beilage "Statistik".
Reflexionen eines Massenverbrechens in Historiographie und Kunst
Was in den Tagen vom 28. Juni bis 6. Juli 1941 in Iaşi (Jassy), der moldauischen Metropole im Nordosten des 1919 erstandenen Groß-Rumäniens geschah, blieb in der Nachkriegszeit lange ein nebelhaftes Mysterium. Zwar gedachte das 1947 installierte kommunistische Regime jährlich offiziell dem Mord an den Juden der Stadt, aber detaillierte Forschung wurde in den vierzig Jahren kaum betrieben, so dass die ideologisch gefärbte und motivierte Interpretation des Regimes für eine Epoche lang das Bild bestimmte. Dies hielt auch noch nach 1989 an, bis eine jüngere Generation von Historikern begann, nachzufragen und erstaunliche Fakten und Quellen zu Tage fördern konnte.
Mittlerweile hat in Ergänzung oder auch anstelle von fehlenden Darstellungen auch die Kunst in unterschiedlichen Formen sich des Themas angenommen. Dies ist Anlass, um an dieser Stelle sowohl die historische Forschung als auch die kulturhistorische Erinnerungs- und Reflexionsarbeit in ihren Formen vorzustellen - auch, damit dieses Ereignis des "stillen Holocaust" nicht vergessen wird.
Neue Aspekte des Pogroms von Iași
Eine Tagung anlässlich des 80. Jahrestages
Den 80. Jahrestag des Pogroms von Iași beging eine Reihe von Institutionen mit unterschiedlichen Formen des Gedenkens. Die geisteswissenschaftliche Forschung fand in einer internationalen Online-Tagung mit Basis in Iași Gelegenheit, das Geschehen in zahlreichen Perspektiven und neuen Forschungsergebnissen zu beleuchten. Veranstaltet von der Université "Paul Valéry" Montpellier, der Universitatea "Alexandru Ioan Cuza" Iași und der Federația Comunităților Evreiești din România trugen sowohl in Iași anwesende ForscherInnen ebenso bei wie über das Internet weitere aus Israel, Rumänien, Frankreich und Deutschland. Carol Iancu, emeritierter Professor für Jüdische Studien der Universität Montpellier, Adrian Cioflâncă, Direktor des CSIER in Bukarest und Alexandru Florin Platon, Professor für Geschichte der Al.I.Cuza-Universität Iași und Direktor des dort ansässigen Instituts für Geschichte der Juden und des Hebräischen leiteten die vielfältigen Herangehensweisen zur Erforschung des durch Todeszüge fortgesetzten grausamen Pogroms.
Prof. Iancu trug zur Erhellung der Vorgeschichte des Pogroms Überlegungen über Iași in den Zwischenkriegsjahren und die Politiken der Judenschaft bei, als die Legion Erzengel Michael wütete und der Ökonom A.C. Cuza seine wilden antisemitischen Theorien propagierte. Desweiteren behandelte Iancu in dem Panel über die weiteren Provinzen des Königreichs Rumänien während der Shoah die Rolle der Leiter des jüdischen Vorsitzenden Wilhelm Filderman und insbesondere des jungen Großrabbiners Alexandru Șafran angesichts der Deportationen nach Transnistrien. Rettungsaktionen für die Deportierten aus der Bukowina und Bessarabien standen ebenso im Zentrum der Ausführungen von Mariana Hausleitner (Berlin). Ebenfalls über den historischen Kontext informierten Referate von Mihai-tefan Ceaușu (Iași), Victor Neumann (Timioșara), Maria Ghitta (Cluj) Ladislau Gyemant (Cluj), Antonio Faur (Oradea). In engerem Kontext mit dem Pogrom von Iași standen die in einem Filmbericht gezeigten Forschungen von Adrian Cioflâncă über die Massenmorde jenseits des Pruth in Bessarabien im Sommer 1941.
Ein eigenes Panel war den Bildern des Pogroms gewidmet, in dem Cioflâncă detaillierte Belege und theoretische Überlegungen über den Gebrauch von Fotos präsentierte. Anca Tudorancea analysierte anhand eines Hochzeitsfotos die familiären Weiterungen des Pogroms bis in die Gegenwart. Nellu Cohn rief seine Mitarbeit an dem französischen Dokumentarfilm La Mort en Face (2019) in Erinnerung. Ebenso spürte Maria Mădălina Irimia in der Sektion zur literarischen und filmischen Reflexion von Shoah und Pogrom den Iașier Opfern des Flüchtlingsschiffes Struma nach. In dieser Sektion gab es auch Vorträge von Andrei Corbea-Hoișie zu Paul Celan und Francisca Solomon zu Edgar Hilsenrath. Aus Tel Aviv berichtete Gigi Cernes über die das Pogrom betreffenden Inschriften in Iași und Umgebung. Felicia Waldman ging auf die filmischen und literarischen Thematisierungen des Pogroms ein.
Prof. Alexandru Florin Platon formulierte mit seinen Überlegungen und Beobachtungen zum Pogrom als "Paroxysmus der Gewalt" die Leitlinie des letzten Panels, zu dem Lya Benjamin insbesondere über die Rolle des Militärdiktators Ion Antonescu aufklärte. Lucian Zeev Herșcovici von der Nationalbibliothek Jerusalem entwarf ein Panorama der religiösen Bedeutung einiger Rabbis aus Iași bevor und während der Shoah, darunter vor allem die Bedeutung von Bezalel Zeev Șafran, dem Vater Alexandru Șafrans. Wertvolle konkrete Hinweise lieferte der Iașier Archivar Cătălin Botoșineanu zu das Pogrom betreffenden Dokumentenbeständen im Nationalarchiv in Iași.
Durch seine Internationalität und Öffnung für die geographisch-historischen, sozial-demographischen und politischen Kontexte des Pogroms als 'Auftakt' der rumänischen Shoah verwies die Tagung sowohl auf die Bedeutung weiterer Forschungen als auch die bereits gewonnenen Ergebnisse. Die mediale Vielfalt, die die Pandemie auferlegte, erwies sich auch als Chance und Ansporn, Fragen der Überlieferung und des Gedächtnisses zu thematisieren. Es ist geplant, die Beiträge in Buchform zu publizieren.
80 Jahre danach - das Pogrom von Iași
Eine Geschichte von vielen
Der Eingang zum Haus sieht heute noch fast wie damals vor 80 Jahren aus: ein kleiner Vorgarten mit Mäuerchen und Eisengitter, wenige Stufen einer Steintreppe, der Eingang mit der Tür, links und rechts davon Fenster, das Ganze als letzter Gebäudeteil der großen Anlage eines damaligen Krankenhauses, heute die städtische Geburtsklinik. Damals standen auf der Treppe vor der Tür eine Frau und ein Mann im Sonnenlicht. Sie schauten in die Kamera und wenn sie an dieser vorbei schauten, sahen sie das prächtige Theater von Iași mit seinem eigenen Gebäude für die erste Elektritzitätsanlage der Stadt. Nur in die Zukunft konnten sie nicht schauen, eine Zukunft, die sie wenige Monate später in diesem Haus einholte. Der Mann hieß Isak Feinstein und war aus Dorohoi gebürtig, aus einer jüdischen Familie mit galizischen Wurzeln, jetzt hatte er sich längst einer besonderen Konfession zugewandt - der der Judenchristen, die Jesus als den realen Messias der Juden betrachteten und dies auch den anderen Juden nahe bringen wollten. So war Feinstein christlich getaufter Missionar der Norwegischen Judenchristlichen Mission geworden und hatte nach Jahren in Galați nun in Iași in diesem Haus an der strada Dancu 1 Wohnung genommen und auch ein Zentrum seiner Misiunea norvegian pentru Israel (Norske Israelsmisjion) eingerichtet. Neben ihm auf der Treppe zeigt das Foto seine Ehefrau Lydia, geb. Spoerri im Licht des Frühlings 1941. Über ihre Gesichter legen sich filigran die Schatten der Zweige eines Baumes. Aus der Schweiz, in einer methodistischen Familie geboren hatte Lydia Spoerri in Bukarest Isak Feinstein während der Treffen der Judenchristen kennengelernt und 1928 geheiratet. Sie half als ausgebildete Lehrerin und Krankenschwester mit bei den Aktivitäten des Predigers, spielte Klavier und Orgel in den Zusammenkünften, war das Zentrum der Organisation von Festen und Feiertagen der wachsenden Gemeinde damals in Galați, jetzt in Iași.
Als der Krieg in Form der Operation Barbarossa auch Rumänien in den Überfall auf die Sowjetunion einholte, lag Iași plötzlich an der Front, da die Grenze der nur 10 km entfernte Fluss Pruth bildete, die seit dem 22.Juni zugleich die Front des Zweiten Weltkriegs wurde. Sowjetische Luftangriffe in den ersten Tagen veranlassten die Familie Feinstein, die aus den Eltern und den 6 Kindern bestand, und andere Bewohner der Gasse, im Keller der Mission Schutz zu finden. So auch am 29. Juni, einem Sonntag. Morgens aber klopften Polizisten, die eine Kolonne von festgenommenen Juden anführte und zur Chestura brachten, an der Tür des Hauses. Einem war die norwegische Flagge und das Schild MISIUNEA NORVEGIANĂ PENTRU ISRAEL aufgefallen. Die Flagge erkannte er nicht, vermutete aber etwas Nicht-Rumänisches dahinter und befahl Isak Feinstein mit der Flagge in der Hand dem Zug zur Chestura voranzugehen.
Jean Leibovici, ein Überlebender aus dem Zug, erinnerte sich in einem Roman, den er in Israel veröffentlichte, an diese Szene:
"Als sie ihre Arbeit auf dieser engen und schattigen Gasse beendet hatten, setzten wir uns wieder in Bewegung Richtung strada Dancu hinter dem Nationaltheater. ... Wir hielten an. Der Kommissar in Schwarz öffnete ein Törchen, durchquerte einen ungepflegten Garten vor dem zweistöckigen Haus, wo ein Schild anzeigte, dass hier die Norwegische Evangelische Mission für Israel ihren Sitz hat. Er klingelte an der Eingangstür, wie nur er zu klingeln wusste, dass es Tote aus den Gräbern hätte wecken können. Und nach kurzer Zeit kam er zurück, mit der Waffe in der Hand den Leiter der Mission begleitend, einen Herrn Feinstein, einen großen Mann, mit gelocktem Haar, großen Augen, schwarz, sinnlichen Lippen und einem kleinen Schnurrbart, englisch; ein schöner Mann, der Sonntag für Sonntag versuchte, seine jüdischen Brüder zu überzeugen, den Glauben an Jesus Christus anzunehmen, dass er, der Gekreuzigte, der Messias sei. Er versuchte sie zu überzeugen, wohl wissend, dass er sie nicht überzeugen konnte, aber das war sein Beruf, damit verdiente er sein Brot.
[...]
Der Kommissar in Schwarz bringt den Prediger Feinstein ganz, unverletzt (ihm war - wie ich mich später überzeugen musste - eine besondere Behandlung vorbehalten) , nur dass er ihn zwingt, die Fahnen der Mission mitzunehmen - eine norwegische und eine schwarz-weiße, jeweils eine Fahne in der Hand. Den Missionar Feinstein, den Apostel, haben sie nicht in die Kolonne gezwungen, sie haben ihm die Ehre erwiesen, der Fahnenträger unserer durcheinandergewürfelten Kolonne zu sein. Sie haben ihn an die Spitze gesetzt mit den Fahnen in der Händen, wie ein Wegöffner...
Der Kommissar in Schwarz gab einen Schlag. Schrie: 'Englische Fahne, jüdische Fahne! Du sollst sehen! Ihr komplottiert, hä? Agitiert,hä? Wo ist die Trikolore, hähä? Wo ist die rumänische Fahne? Gott und Ostern, Mutter. Die Trikolore gefällt dir nicht, die englische Fahne gefällt dir, die jüdische!'"
Feinsteins Ehefrau Lydia schrieb später ihre Erlebnisse in Rumänien und auf der Flucht nieder, damit die Kinder sich daran erinnern konnten. Über das Pogrom und die letzten Augenblicke mit Isak Feinstein heißt es:
"Etwa um elf Uhr hörte ich Gepolter an der Türe und laute Männerstimmen. Ich eilte hinauf und sah Euren Vater umringt von drei Männern in der Uniform der Legionäre, die Pistolen in den Händen hielten und ihn anschrieen, er müsse auf der Stelle mit ihnen kommen. Er wies auf mich und sagte: 'Das ist meine Frau, sie ist Schweizerin.' Das löste etwas bei den Männern aus; denn sie steckten die Pistolen in die Halfter, und der Anführer wandte sich zu mir und sagte fast verlegen: 'Wir tun Ihrem Mann nichts, sondern nehmen ihn bloss zur Kontrolle auf die Präfektur mit. Wenn nichts gegen ihn vorliegt, kommt er bald wieder zurück. Aber wir müssen zuerst eine Hausdurchsuchung vornehmen.' Während der Anführer bei uns blieb, gingen die beiden andern durch alle Zimmer, öffneten Schränke und Schubladen. Plötzlich ertönte Triumphgeschrei und sie polterten die Treppe herunter und schwenkten die norwegische Fahne, die sie im Zimmer der patriotischen Schwester Olga gefunden hatten. Er sei ein Bolschewist, riefen sie und packten ihn grob am Arm. Vergeblich versuchten wir zu erklären, es sei doch nicht die Fahne der Roten Armee, sondern die rot-blau-weisse Flagge Norwegens; aber sie wollten nichts hören. Ich konnte ihn gerade noch einmal umarmen und küssen, aber dann rissen sie mich brutal von ihm los und trieben ihn mit Püffen zur Tür hinaus.
Durch die Strasse zog sich ein endlos langer Zug von jüdischen Männern jeden Alters, angetrieben und bewacht von Legionären und rumänischen Soldaten mit dem Gewehr im Anschlag. Am Strassenrand schauten Rumänen zu; manche lachten und spotteten, andere aber schämten sich vielleicht. Später hörte ich von einem mutigen orthodoxen Priester, der sich dem Zug entgegenstellt hatte, um ihn aufzuhalten. Er soll kaltblütig erschossen worden sein, zur Abschreckung aller, die den verzweifelten Juden helfen wollten.
Euer Vater wurde von den drei Legionären in den Menschenzug hineingeschoben. Er drehte sich nochmals zu mir und winkte mit hoch erhobener Hand. Das war das Letzte, was ich von ihm sah. Er ist nicht mehr zurückgekommen."
Im Hof der Chestura spielten sich grausige Szenen ab, als auf die dort Gefangenen mit Eisenstangen, Gewehrkolben, Stöcken eingeschlagen und später auch mit den Maschingengewehren geschossen wurde. Einige versuchten, über die Mauer zum benachbarten Hof des Kinos "Sidoli" zu fliehen.
Die Opfer des Pogroms von Iași
Ein außergewöhnlicher Dokumentarfilm
Die Klassiker des Dokumentarfilms zum Holocaust haben Überlänge: Claude LanzmannsShoa 9 Stunden, Marcel Ophüls' Hôtel Terminus 4,5 Stunden, während hingegen Nuit et Brouillard von Alain Resnais gerade durch seine Kürze und Intensität heraussticht. Auch der Film von Radu Jude und Adrian Cioflâncă fordert die Geduld der ZuschauerInnen heraus. Zwar sind 3 Stunden 20 Minuten zu bewältigen, aber der radikale Bruch des Films mit der Erwaltungshaltung auf eine runde Erzählung erfordert eine besondere Einstellung zu dem Film: Statt ungeduldigem Warten auf die "Geschichte" oder "Geschichten" aus dem Pogrom bietet der erste Teil des Films scheinbar eine Serienstruktur. Nach genauem Schema werden Fotos von Opfern gezeigt, unterlegt mit einem kurzen gesprochenen Text. Nicht mehr.
Wir sehen ein Gesicht, erfahren durch die Stimme, dass er/sie zur Quästur gebracht und dort ermordet wurde, oder zum Bahnhof, oder in einen Todeszug verfrachtet wurde. Wer spricht? Es sind unterschiedliche Stimmen und Textquellen. Im Laufe der etwa 200 vorgestellten Opfer beginnt man zu unterscheiden: Einige Texte sind kurz und stereotyp: "Zu den Umständen der Ermordung meines Ehemannes xy erkläre ich folgendes:..." Andere sind erzählend, chronistisch knapp. Andere klingen nach Zeugenaussagen. Wie man im Laufe dieses Teils des Films über die Textquellen nachzudenken beginnt, ihre Auswahl, ihre Reduktion, etc., werden solche Gedanken auch auf die Fotos gelenkt: Woher stammen sie, wie zeigen sie den betreffenden Menschen? Die meisten wurden nach Kriegsausbruch gemacht, als Juden zu Zwangsarbeiten genötigt und entsprechende Ausweisdokumente produziert wurden. Andere zeigen Familien- oder Passfotos aus früheren Zeiten. Wir erkennen deutlich die unterschiedlichen Bildträger: Akten, Ausweisdokumente, Familienalben, Einzelfotos mit dem zeittypischen gezackten Büttenrand. Junge, Alte, Reiche, Arme, Frauen, Männer, Angestellte, Arbeiter, die ganze Vielfalt der jüdischen Bevölkerung von Iași. Wir lernen sie in ihrer fundamentalen Repräsentation kennen: als Porträtfoto mit Angabe über Namen, Berufstätigkeit und ihr meist tödliches Schicksal im Pogrom. Wer sich darauf einlässt, wird die Zeit vergessen, weil sie/er in Anspruch genommen wird von Menschen und der Frage nach ihrer Darstellung. Allein über die Namen lässt sich vieles sagen. Und je länger sich die alphabetisch (!) angeordnete Vorstellung dieser Menschen hinzieht, desto intensiver und dringlicher wird diese Fragestellung zum Verhältnis von Text, Bild, Name, Schicksal, die eine ganz elementare des Dokumentarfilms gerade zu der Shoa darstellt.
Bei der Uraufführung während der Berlinale erklärten die anwesenden Regisseure, dass aus ihrer Sicht sich das Problem stellte, wen man auswählen solle, um sie/ihn als Opfer des Pogroms darzustellen. Wer ist 'repräsentativer' als andere? Gibt es einen eindeutigen Kern des Pogroms, den man filmisch 'repräsentieren' könne? Und entschlossen sich nicht zuletzt aus diesem Dilemma heraus für die Darstellung von etwa 200 Opfern nach dem Schema von Porträtfoto, Name, Beruf, Text aus dem Off zu den Umständen der Ermordung (seltener des Überlebens). (In der an die Uraufführung bei der Berlinale anschließenden erfreulich lebendigen Diskussion mit den Regisseuren erklärte Cioflâncă sehr differenziert, weshalb die meisten Opfer Männer in einem bestimmten Alter sind, seltener Frauen: Das Raster der rumänischen Militärs sah in den Männern eher ihr Feindbild vom sog. "judäobolschewistischen" Kriegsgegner bestätigt. Wenn es um Massaker in Bessarabien ging, spielte diese Unterscheidung keine Rolle mehr - hier wurden auch die Frauen und Kinder ermordet.)
Die Zuspitzung des dokumentarischen Serienprinzips steigert insgeheim die Aufmerksamkeit für den fast nicht mehr erwarteten kurzen zweiten Teil, der wie ein Schock auf die ZuschauerInnen einbricht: Es werden zahlreiche Fotoaufnahmen des schrecklichen Massakers gezeigt, ohne Kommentar; sie wirken wie eine Bestätigung der vorher gemachten Aussagen zu den einzelnen Opfern. Plötzlich erkennen wir die in den Texten vorher so häufig erwähnte Quästura, den Bahnhof, die Todeszüge, sehen Situationen aus den Zeugenschilderungen im Bild festgehalten, es generiert sich eine brutale Evidenz von vorhergegangenem Text und nun gezeigten Bildern des Ereignisses. Die Bilder entfalten ihre Wirkung in dem Bewusstsein der FilmbetrachterInnen, dass dies alles real geschehen ist, dass wir im Kinosaal eine Spur des Horrors des Pogroms wahrnehmen können. Die Bilder scheinen über das Exerzitium des ersten Teils mit seinen Opferfallbeispielen zu dominieren. Aber gerade durch dessen Monotonie erhalten die brutalen Bilder ihre außerordentliche Wirkung. Dem Film gelingt, indem er die Ermordeten benennt, individuell vorstellt, ihnen Zeit und Aufmerksamkeit widmet, ganz neu und zentral fundamentale Fragen der Darstellbarkeit und Angemessenheit aufzuwerfen - was nach den bisherigen Zugängen zu diesem Thema eine außerordentliche Innovation darstellt.
Ieșirea trenurilor din gară (The Exit of the Trains). Rumänien 2020. Regie: Radu Jude, Adrian Cioflâncă. microFilm Bukarest, 175 min.
Neue Ansätze und neue Ergebnisse
Adrian Cioflâncăs Forschungen und Filmbeiträge zum Pogrom von Iași
Das tatsächliche Geschehen um das Pogrom von Iași blieb während des kommunistischen Regimes unter einem entleerten Zeremoniell der Jahrestage und oberflächlichen Bekundungen der Solidarität weitgehend verschüttet. Ein von zwei Forschern 1978 publiziertes offiziöses Buch 1) enthielt etwa zahlreiche Ungereimtheiten und Verschleierungen: Täter waren demnach die Wehrmacht oder die Legionäre, Deportationen von Juden wurden nicht erwähnt, die Teilnahme der Bevölkerung an den Gräueltaten verschwiegen.
Nach der Wende von 1989 dauerte es eine geraume Zeit, bis eine jüngere Generation von Forschern sich des Themas mit neuen Fragestellungen und Forscherinteresse annahm. An der Iașier "Alexandru Ioan Cuza"-Universität mit ihrer großen historischen Fakultät studierte Adrian Cioflâncă vor allem die jüngere Geschichte Rumäniens wie etwa die Kriegsgeschichte oder die stalinistische Phase der kommunistischen Diktatur. Zudem entwickelte er bald ein hartnäckiges Interesse an dem Geschehen von 1941 und dessen Kontext.
Cioflâncă gehörte als jüngstes Mitglied sowohl der Internationalen Kommission für die Erforschung des Holocaust unter Elie Wiesel (Comisia Internaţională pentru Studierea Holocaustului în România) als auch der zur Erforschung der kommunistischen Diktatur unter Vladimir Tismăneanu (Comisia Prezidenţială pentru Analiza Dictaturii Comuniste din România) an und arbeitete an beiden Abschlussberichten mit. Für den Abschlussbericht der Wiesel-Kommission schrieb er den Teil über das Pogrom in Iași.
Weitere seiner Publikationen hatten das Pogrom zum Thema. Cioflâncă konnte neue Quellen aufspüren und damit auch Mängel in den bisherigen Forschungen deutlich machen. So
ging er Zeitungsberichten von einem Massengrab in einem Dorf bei Iași nach und entdeckte 2010 in Popricani die Überreste von 36 Opfern des Pogroms.
In einem archäologisch-lokalhistorischen Projekt mit Befragungen von Zeitzeugen wurden in den Wiesen oberhalb des Pruth an der Grenze zur Republik Moldau genaue Untersuchungen vorgenommen, die
präzise die Vorgänge der Ermordung der zahlreichen Kinder, Frauen und wenigen Männer beleuchteten. Wenige Kilometer entfernt bei Stânca wurde 2000 ein Monument an der Stelle
errichtet, an der bereits 1945 ein Massengrab entdeckt und von Gerichtsmedizinern beschrieben worden war. Demnach fanden 1941 dort 311 Menschen den Tod, vor allem Kinder, Frauen
und ganze Familien. Das Monument ist mittlerweile vandalisiert worden, die rückseitige rumänische Inschrift nicht mehr erkennbar. (Historische Koinzidenz: Nur wenige hundert Meter von diesem
baumlosen Wiesental entfernt wurde im Mai 1944 der Soldat Heinrich Böll schwer verletzt und von der Front am Pruth nach Ungarn transportiert, so dass er den "Kessel
Iași-Chișinău" als einer der wenigen überlebte.2) Ebenso entdeckte Cioflâncă entlang der Strecke der "Todeszüge"
weitere Massengräber durch Befragung von Zeitzeugen aus den Dörfern. Ganz aktuell hat Cioflâncă den Zielort Călărași der
Todeszüge untersucht und dort die Unterbringung der 1100 Überlebenden der Todeszüge in einer Kaserne rekonstruiert. Am 27. September 2019 wurden dort am Bahnhof und dem jüdischen Friedhof Plaketten zur Erinnerung angebracht (s.u.
Fotos).
Die Forschungen Cioflâncăs brachten zwei bisher seltener herangezogene Quellengruppen in den Fokus: Zum einen bergen noch zahlreiche Archive Dokumente über das Pogrom. So entstanden anlässlich der nach dem Krieg geführten Kriegsverbrecherprozesse wie auch innerhalb der jüdischen Gemeinde umfangreiche Beweissammlungen. Sie werden heute zu nicht geringem Anteil in der Securitate-Behörde CNSAS aufbewahrt, weshalb Cioflâncă neben seinem Amt als Direktor des Centrul pentru Studiul Istoriei Evreilor din România (CSIER) in Bukarest auch einen Posten bei der CNSAS einnimmt. Zum anderen sah Cioflâncă bei Forschungsaufenthalten am Holocaust Museum in Washington und in Jerusalem einen Großteil der zahlreichen Fotoaufnahmen, die auffallenderweise bei dem Pogrom gemacht wurden. Diese lassen Rückschlüsse auf konkrete Vorgänge und Orte zu.
Sind die Forschungsergebnisse Cioflâncăs in Büchern und Aufsätzen dokumentiert, so übersieht der Historiker die geschichtspolitische Seite des Pogroms nicht. Auf einer Website publizierte er mit weiteren Historikern für ein größeres Publikum Texte und Bilder zu den unterschiedlichen Phasen, Orten, Tätern und Opfern des Pogroms. Bis 2017 erweitert ist diese reichhaltige Plattform auch heute noch online und bietet unterschiedliche mediale Zugänge zu dem Geschehen. Besonders beeindruckend sind hier die Vorstellung einzelner Opfer in ihren Biographien sowie die Fotos von einer Fahrt zu den Stätten in Iași und den Haltepunkten der "trenurilor morții" (Todeszüge). Über die Website hinaus hat der Iașier Forscher wiederholt auch filmische und künstlerische Annäherungen an das Pogrom von Iași wissenschaftlich beraten (so Radu Judes Îmi este indiferent dacă în istorie vom intra ca barbari (2018) oder den Dokumentarfilm Souvenirs de Iași von Romulus Balasz (2016)).
1) Aurel Karețki and Maria Covaci: Zile însîngerate la Iași. București: Editura Politică 1978.
2) Vgl. Markus Bauer: Sein einschneidendes Erlebnis. Wie Heinrich Böll von seinem Einsatz an einem weitgehend vergessenen Kriegsschauplatz geprägt wurde. In: FAZ Nr. 46 v. 23. Februar 2019.
*
Auf der Berlinale 2020 wird der Film Ieşirea trenurilor din gară (Abfahrt der
Züge aus dem Bahnhof; RO 2020, 175 min) von Cioflâncă und Radu Jude seine Welturaufführung
haben, der insbesondere sich den Biographien der Opfer des Pogroms von Iași widmet. In einem Interview mit der Zeitschrift Suplimentul de Cultură sagte Cioflâncă: "Ieșirea trenurilor din
gară vermeidet den panoramatischen Blick auf das Pogrom von Iași und die Versuchung der Flucht in das 'große Narrativ'. Es ist eine Sicht von unten, von der Ebene der Opfer, der
Überlebenden." Der Film verspricht zudem eine cineastische Erschließung der oben erwähnten neuen Quellen: "Ein großer Teil der verwendeten Fotografien und Erklärungen sind unveröffentlicht und
selbst den Spezialisten unbekannt.Der aufwühlende Aspekt ist, dass einige der Nachkommen der Opfer zum ersten Mal Details erfahren werden, wie ihre Eltern, Großeltern und Onkel ermordet
wurden."
https://www.pogromuldelaiasi.ro/
http://adriancioflanca.blogspot.com/
Individualität und Geschichte
Elana Katz und ihre Performances
Abb. © Elana Katz
Das Videostill zeigt unter wolkenlosem Himmel die Landschaft der nördlichen Moldau. Zwei Schienenstränge weisen zum Horizont, auf einem steht mit dem Rücken zum Betrachter auf den Schwellen eine junge Frau, zierlich, den Kopf rasiert, in einem schwarzen Kleid. Es sind die Schienen der "Todeszüge" des Pogroms von Iaşi.
Elana Katz geht in ihren Performances, die in Videos festgehalten werden, weit in die Erfahrung ihrer Persönlichkeit hinein. Es sind traumatische Landschaften, die sie erkundet - inner- und außerhalb ihrer selbst. Nicht etwa eine womöglich intendierte Versetzung in die Sterbenden der Todeszüge ist das Konzept von Katz, sondern eine ganz persönliche Auseinandersetzung und Erfahrung. Sie wird optisch in der Grenzerfahrung der Performance vielfältig sichtbar. Im Video sieht man die Protagonistin schwitzend durch die Sommerhitze auf den Gleisen laufend, manchmal scheint sie zu taumeln vor Anstrengung. Es ist eine besondere Anstrengung, in der wie ein Schock die Vorbeifahrt eines Zuges auf dem parallelen Gleis wirkt. Dies alles lässt die Grenze der Erinnerung und Vorstellungskraft gegenüber dem historischen Geschehen deutlich werden - aber sie setzt zugleich die Erinnerung in Gang und lässt im Betrachter das Rätsel der Bedeutung dieser Performance wirken. Ihre Bilder sind gegenwärtig, aber nur ein Aiming for hopelessness, wie der Titel der Performance 2016 lautete. Er spielt auf die zirkuläre Zeitfalle an, die die endlosen Fahrten der Züge ohne reales Ziel auch in der Performance aufrief.
Die Performance war Teil des Langzeitprojekts Spaced Memory, in dem an früheren jüdischen Orten in Osteuropa, deren einstige Funktion
längst vergessen (gemacht) wurde, an die untergegangene Geschichte erinnert wird. In diesem Zusammenhang entstand das Video Running on empty in Belgrad. Darin läuft Katz
mehrere Kilometer in einer industriellen Vorstadt Belgrads. Die Umwelt wirkt eher bedrohlich, Autos, kein Trottoir, Industriebrachen. Ihr Atem ist laut zu hören, erinnert an Luftknappheit, an Ersticken fast. Die Strecke markiert jene 15 km, die mobile Vergasungswagen 1942
abfuhren, um ihre Insassen zu ermorden.
Dass Katz komplexe Sachverhalte in einzelnen Kunstperformances auf den Punkt bringen kann, zeigt ihre fast satirisch wirkende Veranstaltung (Action Boxing Club) im Jahr 2014 in Pristina/Kosovo. Sie lud die komplette NGO-UN-EU-Community des Ortes ein zu einer Kunsteröffnung in einem früheren Boxclub, der einst ein Ort jüdischer Aktivität war. Am Eingang zu dem Raum stand Katz neben einem Fass mit weißem Pulver, in das sie ihre Hand tauchte, mit der sie jeden einzelnen Gast begrüßte. Wie jede/r mit dieser Pulverbeschmutzung umging, trug fast schon entlarvende Züge. Vor allem ging es Katz hierbei aber um die Topographie der Kommunikation, die sich durch die weißen Flecken zeichnen ließ. Einen weißen Fleck stellt die Location selbst dar, deren genau Nutzung durch die jüdische Gemeinde wegen der Auslagerung der Archive im Kosovo-Krieg 1999 nicht mehr rekonstruierbar ist.
In der Berliner Galerie Kwadrat, wo sowohl eine Performance entstand ((F)acts of violence) als auch weitere im Video zu sehen waren, antwortete Elena Katz sehr reflektiert und vielschichtig auf die Beiträge der Mitdiskutanten Chiara Mazzara und Marek Claassen und des Galeristen Martin Kwade. Sie machte deutlich, dass es ihr um sie selbst gehe und um die Wirkung von Traumata. Dazu gehöre, sie erst einmal sichtbar zu machen in der Umwelt. Es ist eine eindringliche Differenzierungskraft, die Katz' Performances abschirmt von den großen Ansprüchen der Vergangenheitsbewältigung und hinführt zu individuell-psychologischen Beobachtungsstudien, die dennoch einen wesentlichen Teil an der Erinnerung haben.
Elana Katz: Spaced Memory.
Videos unter: http://www.elanakatz.eu
1941 im Kontext
Die Verfolgung und Ermordung der europäischen Juden -
Das Beispiel Rumänien in Quellen
Mit dem Beitritt Rumäniens unter General Ion Antonescu zur Hitlerkoalition im Jahr 1940/41 bahnte sich in den Vorbereitungen zum Überfall auf die Sowjetunion auch das Pogrom in Iaşi an. Welche längere Entwicklung zum Krieg Rumänien nahm, lässt sich den Zeugnissen und Dokumenten entnehmen, die der Band Slowakei, Rumänien und Bulgarien des Editionsprojekts Die Verfolgung und Ermordung der europäischen Juden durch das nationalsozialistische Deutschland 1933-1945 bereitstellt. Dieser umfangreiche und sorgfältig redigierte Band bietet zahlreiche Texte unterschiedlicher Art (Behördenverkehr, Tagebücher, Briefe, Zeitungsartikel, Gesetze und Dekrete, etc.) , an denen sich ablesen lässt, wie allmählich und oft durch die expansive Hitler-Politik angestoßen, in den drei südosteuropäischen Staaten der Antisemitismus teilweise staatliche Doktrin wurde und sich bis zum dahin unvorstellbaren Grauen steigerte. Der rumänische Teil der Edition beginnt mit einem Interview der englischen Zeitung Daily Herald mit dem Premierminister Octavian Goga Anfang 1938. Goga hat bis heute in Rumänien einen großen Ruf als Dichter - seine nationalistische bis proto-faschistische Politik wird von diesem guten Image abgespalten, so dass man oft den Eindruck hat, es handele sich um zwei verschiedene Personen. In dem Interview plädiert der Dichter für einen "ständischen Staat" aus Korporationen und sagt, dass 500000 Juden das Land verlassen müssten. Gogas Regierung mit dem antisemitischen Parteipartner A.C. Cuza endete nur wenige Wochen später, als König Carol II. den Metropoliten Cristea als Premierminister einsetzte und dann eine Königsdiktatur proklamierte. Goga und Cuza hatten in ihrer kurzen Regierungszeit zahlreiche antisemitische Gesetze eingeführt, die in dieser Weise in Europa noch nicht vorhanden waren. In einem Interview mit der Berliner Börsen Zeitung 1938 sagte Cuza: "Unser Programm ist mit einem einzigen Wort gekennzeichnet und dieses Wort lautet: ausscheiden. Wir wollen die Juden aus Rumänien entfernen."
Nachdem Carol II. für die Gebietsabtretungen von Bessarabien (Sowjetunion), Nordsiebenbürgen (Ungarn), Süddobrudscha (Bulgarien) verantwortlich gemacht wurde, wurde er von General Ion Antonescu abgesetzt und ging ins Exil. Antonescu setzte auf das Bündnis mit Hitler und entwickelte auch eigene antisemitische Initiativen. Als Rumänien mit Deutschland die Sowjetunion angriff, fand in Iaşi das Pogrom vom Juni 1941 statt. In dem Band ist hierzu eine spätere Zeugenaussage eines Überlebenden der das Pogrom begleitenden "Todeszüge" zu lesen. Ebenso ein Bericht des deutschen Konsuls Fritz Schellhorn. Dieser war nicht nur eine der hilfreichen Figuren, die in Czernowitz dem Bürgermeister Traian Popovici halfen, im Herbst 1941 20000 im Ghetto konzentrierte jüdische Menschen von Deportationen vorläufig zu bewahren, sondern wird in der Forschung mittlerweile als regelrechter aktiver Gegner der Nazis im Amt beschrieben. Weiterhin stellt ein nach der Befreiung 1944 entstandener Zeitungsartikel die Tat der Rotkreuz-Vorsitzenden der Stadt Roman, Viorica Agarici, vor, die gegen alle Drohungen sich für das Überleben der in den Todeszügen Gefangenen einsetzte.
Der Leser wird mit dieser Fülle von Dokumenten aus unterschiedlichen Kontexten, die die Zeitspanne bis 1944 umfassen, nicht allein gelassen. Für Rumänien hat die Historikerin Mariana Hausleitner eine 30 Seiten umfassende Einführung verfasst, die eine gute Übersicht über das Gesamtgeschehen gibt. In ihr wird die Zahl der Ermordeten im Pogrom von Iaşi mit 14850 angegeben.
In gleichem Aufbau bieten die Beiträge zur Slowakei und Bulgarien ebenfalls einleitende Überblicks-darstellungen sowie zahlreiche Dokumente und Quellen, die die jeweiligen Besonderheiten dieser Länder im Zweiten Weltkrieg und ihrer Teilnahme am Holocaust herausstellen. Besonders im Falle von Bulgarien werden viele Quellen genannt, die belegen, dass das Land nicht - wie oft angenommen - völlig frei von antisemitischer Verfolgung geblieben sei. Wenn auch keine so große Vernichtung der jüdischen Bevölkerung, wie etwa im Satellitenstaat Slowakei des Priesters Jozef Tiso, stattfand.
(Die Quellen zu den Vorgängen in Bessarabien und Transnistrien finden sich in VEJ, Bd. 7, "Sowjetunion mit annektierten Gebieten I (Besetzte sowjetische Gebiete unter deutscher Militärverwaltung, Baltikum und Transnistrien)"
Die Verfolgung und Ermordung der europäischen Juden durch das nationalsozialistische Deutschland 1933-1945. Bd. 13: Slowakei, Rumänien und Bulgarien. Bearbeitet von Mariana Hausleitner, Souzana Hazan und Barbara Hutzelmann. Bandkoordination: Ingo Loose. Berlin: de Gruyter Oldenbourg 2018, ISBN 978-3-11-036500-9, 800 Seiten, mehrere Karten
Fragmente von Leben und Erinnerung
Olga Stefans Projekt "The Future of Memory"
Foto: www.thefutureofmemory.ro
Das Pogrom von Iaşi blieb der europäischen Öffentlichkeit lange Zeit verborgen. In Rumänien während des kommunistischen Regimes zu einer ideologischen Gedenkroutine marginalisiert, wusste im Kalten Krieg kaum jemand außerhalb des Landes von dem historischen Geschehen - außer den Überlebenden und den Familien der Opfer. Aber auch in den Familien war ähnlich wie bei anderen Überlebenden der Shoa oft das erlebte Trauma kein Thema.
Dies erlebte auch die als Kind aus Rumänien nach Chicago ausgewanderte Künstlerin Olga Stefan, deren Großmutter Sorana ihren Vater in Iaşi verlor. Es brauchte viel Zeit, bis die Nachfahrin auf das Geschehen aufmerksam wurde und dieses zum Thema einer anhaltenden Recherche machte. "Fragments of a life" (Fragmente dintr-o viaţă) bildete 2016 ein erstes Ergebnis ihrer Auseinandersetzung mit den Folgen des Pogroms in mehreren Familien. In der Iaşier Galerie "tranzit.ro" und in der Züricher Galerie Reunion Art Space zeigte sie die mediale Umsetzung dieser Recherchen. Neben den Bildern des Iaşier Malers Samy Briss, die dieser kurz nach dem Zweiten Weltkrieg anlässlich der Prozesse gegen Täter malte, sind es zwei Videoinstallationen, die die familiäre Konstellation von Überlebenden und dem Fehlen der Opfer thematisieren. Olga Stefan befragt über eine Videoverbindung ihre Großmutter Sorana zu ihrer Erinnerung an die Zeit, als deren Vater in Iaşi ermordete wurde. Ebenso erstaunlich sind die Bilder, die Elianna Renner im Videogespräch mit ihrer Mutter und einer Tante in Buenos Aires zeigen. Hier werden erst allmählich die Teile zusammengefügt, die zusammen ein Bild von dem Verschwinden zweier Großonkel in Iaşi erahnen lassen. Beide Künstlerinnen legen besonderen Wert auch auf die familiären Folgen des Pogroms in den Jahren des Exils, denn irgendwann sind fast alle Überlebenden aus Rumänien emigriert. Ein weiterer Teil der Ausstellung ist das Video eines Gesprächs mit dem Künstler Daniel Spoerri, der zum ersten Mal über den Verlust seines Vaters - eines zum Protestantismus übergetretenen Juden - im Pogrom von Iaşi spricht.
Dem Nicht-Wissen der jüngeren Generation in den Familien
entspricht oft auch ein Nicht-Wissen-(Wollen) in den Ländern des Geschehens. Stefan ging nach
"Fragment dintr-o viaţa" einen Schritt weiter und machte die Präsentation der Ausstellung in Rumänien und
der Republik Moldova selbst zum Gegenstand des Projekts "Viitorul Memoriei" ("The Future of Memory"). In einer Karawane der Ausstellung wurden in verschiedenen Städte jeweils
neue Recherchen initiiert und präsentiert, die das Interesse an der lokalen Situation in der Shoah und eigene Recherchen der BetrachterInnen anregen sollten. Weitere KünstlerInnen der Zeit kamen
in den Blickpunkt, wie etwa in Bukarest der Maler Leon
Misosniky oder die Avantgarde-Malerin
Edda Sterne (1910-2007), die mit Victor Brauner und Marcel Iancu zusammenarbeitete, bevor sie nach New York emigrierte. In Oradea sind es mehrere ermordete Maler
wie Ernö Grünbaum, Tibor Ernö, Leon Alex u.a. In Chişinău (Moldova) wird die kaum bekannte Deportation der bessarabischen Roma nach
Transnistrien durch Ion Duminică, Direktor der Secţia minorităţi etnice la Academia de Ştiinţe a Moldovei, thematisiert.
Einer der Überlebenden der Shoa ist der emeritierte Germanistikprofessor (University of Sussex) Ladislaus Löb, der in Cluj geboren wurde und dessen Familie großteils mit den 450000 ungarisch-nordsiebenbürgischen Opfern des ungarischen Holocausts verschwand. Er selbst wurde als Siebenjähriger mit dem Vater mit einem Kasztner-Transport zunächst nach Bergen-Belsen und dann in die Schweiz gebracht. In einem Beitrag in dem das Projekt begleitenden rumänisch-englischen illustrierten Album beschreibt Löb seinen Weg durch das KZ nach Zürich und England.
Der Ansatz weitet sich und vor allem Nachkommen der KünstlerInnen berichten über ihre Wahrnehmung der familiären Vergangenheit nach dem Holocaust. Was Olga Stefan mit ihren innovativen Projekten entdeckt und an das Licht der Öffentlichkeit bringt, ist eine eigene Form der Geschichtsschreibung, die von der akademischen Historiographie vielfach vernachlässigt worden ist. Ihre intensiven und vielfältigen Recherchen und sozial-künstlerischen Initiativen entdecken nicht nur eine Vergangenheit, sondern gehen ihren familiären, ästhetischen und sozialen Verästelungen bis in die Gegenwart nach.
(Besonders die Archiv-Seiten der jeweiligen Stationen bieten weiteres Material.)
Gebrauchte Kleider - Eine Familie im Holocaust
Der Roman von Cătălin Mihuleac über das Pogrom von Iaşi
Es hat nicht nur Jahrzehnte gedauert, bis in Iaşi und darüber hinaus sich eine breitere Forschung der grausamen Geschehnisse in der alten Kulturmetropole im Nordosten Rumäniens zu Beginn des Überfalls auf die Sowjetunion angenommen hat. Auch als Thema der Literatur kam das Pogrom von Iaşi erst mit dem Roman des Iaşier Autors Cătălin Mihuleac beim rumänischen Lesepublikum an. Und nicht nur dort; zahlreiche Übersetzungen - darunter jetzt eine deutsche - verbreiten die romanhafte Darstellung einer Familiengeschichte, die durch das Pogrom geprägt wird.
Die Kaufhausangestellte Sânziana, aus deren Ich-Perspektive zunächst erzählt wird, erhält von ihrem Chef den Auftrag, ein amerikanisches Paar, Mutter und Sohn, durch Iaşi zu führen. In den USA hat die Familie ihr Geld durch Secondhand-Kleiderhandel gemacht und der Sohn bietet Suzy, wie der rumänische Namen sofort vereinfacht wird, an, dort mitzuarbeiten. Es folgt die Heirat der beiden und Suzy taucht nicht nur in die Geheimnisse der einst aus Rumänien emigrierten Familie ein, sondern lernt selbst viel über die Geschichte ihrer Stadt. Parallel zu dieser Exploration der Heldin in den USA schildert ein Erzähler das Geschehen des Pogroms und seiner langen Vorgeschichte in der rumänischen Zwischenkriegszeit in drastischer Realistik. Hier ist es das Schicksal des Gynäkologen Jacques Oxenberg und seiner Familie in Iaşi, das wie ein Panorama die Gesellschaft und Geschichte der Stadt zwischen den Kriegen aufscheinen lässt. Mit zahlreichen Details und vielen Klarnamen (wie Traian Bratu, A.C. Cuza, Ion Zelea Codreanu) wird in einer zwar auktorialen Form, aber subjektiven Perspektive die Lebenswelt der jüdischen Bevölkerung in Zeiten des ansteigenden Antisemitismus satirisch, drastisch, kolportagehaft geschildert. Der Erzähler bewegt sich dabei nahe an den Klischees und Vorurteilen, Stereotypen und Judenbildern, die seinerzeit im Schwange waren und historisch in Iaşi die Entstehung des organisierten gewalttätigen Antisemitismus von Codreanu und A.C. Cuza begünstigten. In die Schilderung gehen genaue Beobachtungen historischer Fakten ein. So wird anhand der zugänglichen Fotoaufnahmen die Ermordung des kleinen Mädchens mit seinen Eltern auf der Straße Vasile Conta in die Geschichte eingewoben. Auch die Figur eines Historikers bietet im Roman Gelegenheit, zahlreiche Details in ihrer Entdeckung zu präsentieren.
Bei allem Lob, das das Buch erfuhr - auch weil es gegen Widerstände in Rumänien geschrieben und publiziert wurde -, stellt ein Diskussionspunkt in der Rezeption die drastische und sexualisierte Sprache dar. Ilma Rakusa fragte in der NZZ: "Zutiefst verstörend, was Mihuleac berichtet, aber auch, wie er es tut. Ist saloppe Übertreibung nicht fehl am Platz? Wem will er auf diese Weise etwas einbleuen, etwa jenen unbelehrbaren rumänischen Nationalisten, die heute noch leugnen, dass Rumänen an jenen Greueltaten massgeblich beteiligt waren, zumal deren Verbrechen kaum geahndet wurden?". Hiergegen kann erwogen werden, dass der Antisemitismus der Zwischenkriegszeit insbesondere auch aus Sexualphantasien sich nährte. Mihuleac differenziert zwischen beiden Reden des Romans: Die sexualisierte Sprache taucht in Suzys Monolog weniger drastisch auf als in der Erzählung des Pogroms und seiner Vorgeschichte.
Der Reichtum der Details zum historischen Geschehen trägt zur Bedeutung des Buches für rumänische Leser bei: Die wenigsten werden den vielfach wegen seiner "Medeleni"-Geschichten nostalgisch verklärten Autor Ionel Teodoreanu als einen aktiven Antisemiten kennen, der den Ausschluss der Juden aus der Rechtsanwaltskammer in Iaşi forderte und durchsetzte. Es wird der italienische Konsul erwähnt, der später dann in Curzio Malapartes eher fiktivem Kapitel über das Pogrom in seinem Roman "Kaputt" erscheint.
Mihuleacs Roman hat erstmals die Vorgänge von 1941 in seiner Heimatstadt und in Rumänien einem größeren Publikum in einer Romanstruktur erzählt. Es besteht damit die Gelegenheit, dass das Geschehen auch durch Literatur zum Gegenstand von Debatten und Nachfragen wird.
Cătălin Mihuleac: Oxenberg & Bernstein (America de peste pogrom). Roman. Aus dem Rumänischen von Ernest Wichner. Paul Zsolnay Verlag Wien 2018, 366 Seiten, ISBN 978-3-552-05883-5
Abbilder des Grauens
Ein Fotoband über das Pogrom von Iaşi
Der graubärtige Mann im Zentrum des nebenstehenden Fotos steigt als einer der letzten in einen Güterwaggon am Bahnhof von Iaşi. Er blickt zurück, weil offensichtlich jemand unter den Uniformierten mit
Abb.: Indiana University Press, Bloomington
ausgestrecktem Arm und Zeigefinger auf ihn zeigt und etwas sagt. Es sind fast nur noch Uniformierte zu sehen - mit Tellermützen, Käppis, Gürteln, Waffen, Umhängetaschen, Epauletten.
Im unscharfen Hintergrund könnte noch ein Zivilist zu identifizieren sein. Es scheint nur ein sehr enger schlauchartiger Korridor neben dem Zug zu sein, der die Uniformierten aufnimmt. Hinter dem Graubärtigen mit der Mütze, der sich von der höheren Stufe des Güter/Viehwaggons umdreht, sind ein junger Mann erkennbar, der versucht, in den vollen Waggon zu gelangen, sowie ein weiterer Mann, der bereits in der Waggontür mit dem Blick nach innen steht.
Das Foto ist auf dem Einband des Bandes zu sehen, der zahlreiche der mittlerweile bekannt gewordenen Aufnahmen jenes unmenschlichen Geschehens in Iaşi versammelt, das Ende Juni bis Anfang Juli 1941 sich abspielte. Es sind verstörende Bilder der Gewalt, die aus unterschiedlichen Archiven zusammengetragen wurden.
Als Einführung gibt ein Text des als Herausgeber genannten Radu Ioanid, Direktor beim US Holocaust Museum in Washington, eine knappe Darstellung des Geschehens aufgrund von Archivdokumenten und Publikationen wie Cartea Neagră von Matatias Carp, das 1948 in zwei Bänden erschien, Marius Mircu Pogromul de la Iaşi unmittelbar nach Kriegsende 1945 publiziert oder der sechsbändigen Quellenedition von Jean Ancel Documents concerning the Fate of Romanian Jewry during the Holocaust, New York 1986. Allerdings zieht Ioanid auch die einzige größere Publikation in kommunistischer Zeit heran, die stark ideologisch gefärbt ist: Aurel Kareţki, Maria Covaci, Zile însîngerate la Iaşi, 1941. Bucureşţi 1978, in der das Bild eines von der Bestialtität der Deutschen angestifteter gesellschaftlicher "Abschaum" sich habe zu Mordtaten hinreißen lassen.
Ioanids Einleitung gibt das Gerüst der Ereignisse, die bereits vor dem 26. Juni mit dem Ausheben von Gräbern in der Stadt und auf dem jüdischen Friedhof begannen, zu dem jüdische Männer gezwungen wurden. Nicht sichtbar sind die geheimen Vorbereitungen und Anordnungen aus der Staatsspitze, die Geheimdienstleute und Legionäre in die Stadt bringen. An christlichen Häusern wird ein Kreuz angebracht, um sie von den Überfällen auszunehmen. Nur vier Tage nach dem Beginn des Überfalls Nazi-Deutschlands und Rumäniens auf die nahe Sowjetunion ist Iaşi zu einer Frontstadt geworden, die auch Luftangriffe sowjetischer Flieger erfährt. Am 26. Juni findet ein besonders schwerer Angriff statt mit über 100 Toten in der Stadt. Die jüdischen Bewohner werden beschuldigt, mit Lichtzeichen den Flugzeugen den Weg gewiesen zu haben - das Phantom vom "iudeo-bolşevism" findet seine fatale Anwendung auf die Realität. In den jüdischen Vierteln werden Familien aus ihren Häusern geholt und in Kolonnen durch die Stadt getrieben. Dabei werden viele Opfer der rumänischen Soldaten, der Miliz, der Polizei, der Jandarmeria oder aber von Nachbarn, Passanten, die vielfach die Getöteten berauben. Die Überlebenden werden in den Hof der Quästur gebracht, dem Polizeipräsidium in der strada Vasile Alecsandri. Dort beginnen nachmittags deutsche und rumänische Soldaten das Feuer aus Maschinenpistolen auf die zusammengedrängte Menge zu eröffnen.
Andere werden am Abend und Morgen darauf zum Bahnhof gebracht und in Güterwaggons verladen. Die zwei "Todeszüge" mit ihren überfüllten Wagen, die in der glühenden Sonne ohne jede Versorgung stundenlang herumfahren, lassen über 2000 Tote zurück.
Das tief in das historische Gefüge der Stadt eingreifende Massaker ist in zahlreichen Fotografien dokumentiert worden, wobei die Motivation der weitgehend anonymen Fotografen kaum bekannt ist. Unter ihnen waren deutsche Soldaten und Angehörige der "Organisation Todt", die an den Morden eher weniger direkt beteiligt waren. Diese Dimension der Motivation und Zwecke der fotografischen Abbilder diskutiert der vorliegende Band nicht. Vielmehr präsentiert das Buch eine "Geschichte" dessen, was über die jüdischen Bewohner Iaşis hereinbrach: Den Auftakt bilden zwei Aufnahmen, die einmal ein Festbankett für Chaim Weizmann im Jahr 1927 und eine Milchverteilung durch den JOINT zeigen - Tätigkeiten des jüdischen Bürgertums in der Stadt. Das nächste Foto lässt deutsche Militärs und Angehörige der "Organisation Todt" bei einer Parade erkennen, gefolgt von Legionären in Marschkolonnen. Im Publikum sind die Arme hochgereckt, auf einer Tribüne ist möglicherweise der kürzlich verstorbene, damals noch junge König Mihai zu sehen.
Nach diesen "Einführungsfotos" eine weitere Kolonne, diesmal Männer mit Spaten, in einer langen Reihe zusammengedrängt - auf dem Weg zum Ausheben von Massengräbern am 25. Juni. Die weiteren Fotos dieses Teils zeigen auffällig detailliert das grausige Morden in den Straßen und der Polizeiquästur. In der Straße Cuza Vodă gehen am Sonntagmorgen "SpaziergängerInnen" z.T mit dem Sonnenschirm in der Hand zwischen den Leichen (S. 37). Ein anderes Foto zeigt den Moment, in dem eine Frau zwischen Leichen sich aufbäumend von einem Zivilisten erschlagen wird (S. 36). Seite 43 ist das bereits im Cartea Neagră 1948 im Ausschnitt veröffentlichte Foto einer ermordeten Familie mit ihrer kleinen Tochter im Blut liegend zu sehen und S. 44 das komplette Foto, das der Historiker Adrian Cioflăncă entdeckt hat. Auch die Vorgänge im Hof der Quästur sind mit mehrern Abbildungen belegt wie ein Foto dann auch die vor dem Bahnhof auf dem Boden liegenden Juden vor ihrer Verladung in die Güterwaggons erkennen lässt.
Das folgende "Kapitel" zeigt 95 Fotos von der Entladung der "Todeszüge" an den Stationen wie Podu Iloaiei, Roman, Târgu Frumos: Haufen von Leichen, nackte Überlebende, Verladung der Toten auf Wagen zum Verscharren in Massengräbern. Eine Aufnahme zeigt das Lager in Călăraşi im Süden Rumäniens, wo einer der beiden Züge nach tagelanger Fahrt ankam.
Das nächste Thema des Bandes sind Aufnahmen der Angeklagten in den Prozessen, die 1948 in Bukarest stattfanden und als Höchststrafen jahrelange Arbeitslager- oder Gefängnisstrafen verhängten.
Wie diese Prozessfotos stammen auch die des letzten "Kapitels" aus dem Bestand der FCER: Pass- oder Familienfotos von Opfern des Pogroms und der Todeszüge. Erinnerung an eine bürgerliche Welt, an Familien, Eltern, Kinder und Jugendliche, an die Berufsstruktur der Stadt, die Zivilisation einer Stadt, die innerhalb weniger Tage brutal ausgelöscht wurde.
Zu allen Fotos gibt es als schriftliche Hinzufügung, die aber nicht immer als Kommentare oder Erklärungen zu dem Bild gelten, Zitate meist aus den Prozessakten, persönlichen Erinnerungen oder anderen Dokumenten.
Dass angesichts der im wahrsten Sinne überwältigenden Nähe der Aufnahmen noch Fragen an das Buch bestehen bleiben, dürfte auch seiner Entstehung zuzuschreiben sein. Es handelt sich, wie das Impressum angibt, um ein ursprünglich in Rumänien in der Editura Curtea Veche 2014 erschienenes Album, dessen rumänischer Text von dem renommierten Historiker Dennis Deletant ins Englische übersetzt wurde. Radu Ioanids Beitrag stammt aus seinem Buch The Holocaust in Romania (2000). Somit ist erklärlich, dass eine eigentliche, historische Auseinandersetzung mit den Fotos, ihrer Entstehung, ihrer Veranlassung, ihrer Herkunft, Geschichte und Semantik hier nicht im Vordergrund steht. Als eine erste Präsentation des vorhandenen fotografischen Materials, das durch die Forschung noch erweitert und analysiert werden muss, lenkt die englischsprachige Ausgabe die Aufmerksamkeit auf ein allmählich stärker beachtetes Geschehnis im rumänischen Holocaust.
Seite 106 erkennen wir den Mann mit der Mütze vom Bahnhof in Iaşi wieder. Jetzt steht er in Podu Iloaiei vor der Tür des Waggons, verstört, für immer gezeichnet; hinter ihm in der offenen Tür es Wagens liegen die Leichen der durch Hitze, Verdursten, Ersticken Ermordeten.
Radu Ioanid (ed.): The Iaşi Pogrom June - July 1941. A Photo Documentary from the Holocaust in Romania. Foreword by Elie Wiesel. Introduction by Alexandru Florian. Bloomington, Indiana: Indiana University Press 2017. 182 Seiten, zahlreiche s/w-Abb., ISBN 9780253025838
Heinrich-Böll-Stiftung Berlin, 5.12.2017
Foto: Sowjetisches Erbe: Fabrik in Bender, Transnistrien CISR, Berlin Sommerschule 2017. All rights reserved.
„Tod den rumänischen Menschenfressern!“ riefen die Protestierer im sich abspaltenden „Transnistrien“ 1992, als die Republik Moldova sich für unabhängig erklärte und es zu bewaffneten Auseinander-setzungen kam. Heute sei das Verhältnis frei von solchen extremen Äußerungen, aber es achte auch niemand darauf, wie man die Geschichte überwinden kann, sagt Sergiu Musteaţă, Historiker von der Pädagogischen Universität „Ion Creangă“ in Chişinău (Moldova). Auf einem Podium zum „Kampf um die Erinnerung“ der Heinrich-Böll-Stiftung hob Musteaţă die Teilung des Geschichtsbildes hervor: In „Transnistrien“ werde die große, sowjetisch geprägte Geschichte an den Schulen gelehrt, in der Republik Moldova die rumänische Geschichte. Zwischen den Historikern finde keine Kommunikation statt.
Unter der Leitung von Walter Kaufmann wurde diese Teilung und Versuche ihrer Überwindung auch in der Ukraine und Russland befragt. Die Historikerin Svitlana Osypchuk aus Kiew wies neben den Lehr-büchern auf die Gedenktage zum Zweiten Weltkrieg hin, die unterschiedlich aufgefasst werden. Seit einigen Jahren habe sich aus Großbritannien kommend die rote Mohnblume als Symbol des Gedenkens an den Krieg verbreitet, das zuvor in der Ukraine völlig unbekannt war. Der historische Diskurs werde dahingehend verändert, dass nun der 8. Mai (und nicht der 9.) begangen werde, dass keine sowjetischen Soldaten oder Veteranen mehr gezeigt werden, es finde eine Monopolisierung auf die Ukraine statt: Der „Große Vaterländische Krieg“ werde durch „Ukraine im Zweiten Weltkrieg“ ersetzt.
Für die Politologin Tatiana Vorozheikina aus Moskau ist die Lage in Russland geprägt von einem Zukunftsverbot, die Vergangenheit decke alles zu. Der imperiale Mythos und eine quasi-„Restalini-sierung“ sei in der Geschichtspolitik zu beobachten, indem Iwan Grosny und Alexander III. wieder beliebt werden. Das Wort „Revolution“ komme kaum vor, da es ja auch an die „orangene Revolution“ in der Ukraine erinnere. Die Revolution von 1917 werde totgeschwiegen, als etwas von „außen“ Herein-getragenes, worin sich ebenso wie beim Zarenmord auch antisemitische Untertöne bemerkbar machen. Die jetzige Macht versucht, Lenin zu umgehen. Er und Trotzki seien unbeliebt, Stalin weniger. Lieblingszar ist nun Alexander III. Das Gedenken an die Kriege habe der Staat okkupiert, der nach dem Verschwinden der Augenzeugengeneration etwa Filme als Ressource für die Remilitarisierung nutze. Zudem gibt es Gesetze, die verbieten, zu erwähnen, dass Stalin und Hitler gemeinsam Polen 1939 überfielen.
In solchen „memory wars“ in Osteuropa, wie sie in den USA genannt werden, beobachtete der Potsdamer Zeithistoriker Jan C. Behrends eine schleichende Entprofessionalisierung und Emotiona-lisierung der Geschichtsschreibung durch Politiker, Diplomaten u.a. Die große Erzählung werde wieder oktroyiert – wenn nötig durch „fake history“ wie im Kalten Krieg. Resolutionen wie etwa in Frankreich oder Deutschland zu Genozid und Holocaust zeigen die Verstaatlichung von Geschichtsschreibung, die Behrends sehr kritisch sieht. Andererseits gibt es grob gesprochen zwei verschiedene Geschichtsbilder in Europa: Der Westen sei zunehmend auf die Opfergeschichte ausgerichtet, während im Osten immer noch Heldengeschichten geschrieben würden, was sich überkreuze mit den Achsen von kollektiver und individueller Geschichte. Hier erinnerte Vorozheikina allerdings an die durch die Perestroika angestoßenen Veränderungen, in denen Namen von im Terror der 1930er Jahre Verschwundenen publik gemacht wurden und ihre „letzte Adresse“ mit Plaketten versehen wurden.
Zu Russland kommentierte der Moskauer Politologe Andrei Deviatkov, dass es durchaus auch Anzeichen von Annäherung oder zumindest Kommunikation gebe, etwa mit Polen. Man dürfe sich nicht auf eine Seite stellen und Konflikte hochschaukeln, sondern müsse diese managen.
Für die Zukunft sieht Musteaţă die Möglichkeit, dass zwischen Moldova und Transnistrien junge kritische und integrative Historiker*innen eher auf Kommunikation und Dialog setzen, um die Hasskomponente in der Geschichtsschreibung zu verringern. Behrends wies auf die „Historians without borders“ hin, die in einem Dialog mit Regeln versuchten, die weit divergierenden Geschichtsnarrative zu diskutieren. Dass die Kommunikation zwischen 'westlicher' und 'östlicher' Geschichtsschreibung für eine europäische Öffentlichkeit von entscheidender Bedeutung ist, machte das die komplexen Verhältnisse veranschaulichende Podium auf überzeugende Weise einsichtig.
Ex-König Mihai I. gestorben
Foto: Emanuel_Stoica CC BY-SA 2.0
Der frühere rumänische König Mihai I. ist am 5. Dezember 2017 im schweizer Ort Aubonne nahe des Genfer Sees im Alter von 96 Jahren verstorben.
Er war das letzte Staatsoberhaupt, das noch während des Zweiten Weltkriegs amtiert hatte, (seine Verwandte, die englische Königin Elizabeth II., deren Hochzeit er 1947 besuchte, wurde erst 1952 Königin).
Mihai wurde 1921 als Sohn von Prinz Carol II. und Prinzessin Elena Maria von Griechenland in Peleş geboren. Carols II. Vater, König Ferdinand von Rumänien aus der Dynastie der Hohenzollern-Sigmaringen starb 1927. Zu diesem Zeitpunkt war der labile und unstete Carol bereits ins Ausland mit seiner Geliebten Elena Lupescu gegangen und hatte auf den Thron verzichtet. Ein Regentschaftsrat vertrat für den erst fünfjährigen Mihai den Thron.
Als Carol II. nach der Scheidung von Mihais Mutter 1930 nach Rumänien zurückkam und den Thron "staatsstreichähnlich" (Hans-Christian Maner) übernahm, wurde Mihai mit dem Titel "Mare Voievod de Alba-Iulia" versehen. In den nächsten Jahren trat er vielfach bei offiziellen Anlässen in Uniform auf, als sein Vater sich mit Wirtschaftskrise, Terror der faschistischen Eisernen Garde (garda de Fier), und außenpolitischen Problemen konfrontiert sah und 1938 eine Königsdiktatur errichtete. 1940 musste Carol II. nach dem von Hitler aufoktroyierten "Wiener Schiedsspruch", der Rumänien um ganz Nordsiebenbürgen, das an Ungarn fiel, verringerte, abdanken und das Land verlassen.
Mihai wurde im Alter von 19 Jahren wieder König – allerdings mit wenig politischem Einfluß in
der Militärdiktatur des Marschall Antonescu. Dennoch war er Staatsoberhaupt, als Rumänien mit Hitlerdeutschland die Sowjetunion angriff, als in Iaşi im Juni 1941 ein Pogrom mit Tausenden von
Ermordeten statt fand, als in Transnistrien Hunderttausende von nordrumänischen Juden den Tod fanden. Fotos zeigen König Mihai beim faschistischen Gruß in Bukarest, bei den Soldaten zwischen
Dnjestr und Bug. Gleichzeitig soll er mit der Königinmutter Elena auch zur Rettung von Juden beigetragen haben (Elena wurde in Yad Vashem als "Gerechte der Völker" geehrt). Zurückhaltend und
verschlossen gab sich der König, ergriff aber an einem entscheidenden Punkt die Initiative: Nach Stalingrad war auch der rumänischen Führung die Niederlage absehbar; als der Vormarsch der Roten
Armee die Moldau erreichte, suchte sie Kontakte zu den Alliierten. König Mihai kam dem zuvor und ließ nach Verhandlungen mit den bürgerlichen Parteien (Iuliu Maniu, Costel Brătianu) und den
Kommunisten am 23. August 1943 Antonescu und andere hohe Vertreter der Regierung verhaften, und Rumänien wechselte auf die Seiten der Alliierten. Es war die bedeutendste Entscheidung, die Mihai
als König je traf. Nun hatten die Sowjets das Sagen hinter der Fassade einer bürgerlichen Volksfrontregierung. In drei Jahren bis 1947 nahm der Druck der Kommunisten so zu, dass König Mihai Ende
1947 zur Abdankung und den Gang ins Exil gezwungen wurde.
Nach der Heirat mit Ana von Bourbon-Parma mit dänischen und griechischen Familienhintergrund lebte das Paar in den USA, England, Frankreich und schließlich in der Schweiz. Der frühere König, der später die Abdankung widerrief und sich als im Amt befindlich verstand, nahm zahlreiche „bürgerliche“ Berufe an. Aus der Ehe gingen fünf Töchter hervor. Politisch betätigte sich der Monarch eher zurückhaltend.
Nach der Wende von 1989 verhinderte die „Nationale Front zur Rettung“ unter Präsident Ion Iliescu die Rückkehr des (früheren) Königs im Frühjahr 1990. Im Dezember landete Mihai mit Familienangehörigen in Otopeni mit einem dänischen Visum für 24 Stunden und begab sich Richtung Argeş zu den Gräbern von Ferdinand und Karl I., wurde aber auf dem Weg festgehalten, zurück zum Flughafen gebracht und musste das Land verlassen. Ein längerer Aufenthalt hätte sicher ein starkes Echo im Land gefunden. So war es erst 1992, dass Mihai nach Rumänien offiziell zu den Ostertagen einreisen konnte. Eine Million Menschen erwarteten den früheren König, dem in der Zukunft weiter Schwierigkeiten bei der Einreise gemacht wurden. Erst mit der Regierung unter Präsident Emil Constantinescu 1996-2000 wurde die rumänische Staatsangehörigkeit Mihais bestätigt und damit die Einreise erlaubt.
Das Bild seiner Persönlichkeit blieb
ambivalent. Einige nahmen der königlichen Familie die weit reichende Restitution von Schlössern und Bodenflächen übel, andere erwarteten von der Monarchie die Rettung Rumäniens vor den
egoistischen Spielen der Politikerkaste. 2011 nannte ihn der damalige Präsident Băsescu einen „Russenknecht“, dessen Abdankung „ein Akt des Verrats von nationalen Interessen“ gewesen sei.
Rechtsradikale warfen ihm sein Verhalten im Krieg und danach vor. Den letzten großen Auftritt in Rumänien bedeutete im gleichen Jahr die Rede vor beiden Häusern des Parlaments.
„Sunt mai bine de şaizeci de ani de când m-am adresat ultima oară naţiunii române de la
tribuna Parlamentului“ (Es sind mehr als sechzig Jahre her, als ich mich zum letzten Mal an die
rumänische Nation von der Tribüne des Parlaments wandte), begann die Rede, in der er aufforderte:
„Aveţi încredere în democraţie, în rostul instituţiilor şi în regulile
lor!“ (Habt Vertrauen in die Demokratie, in den Sinn der Institutionen und ihre
Regeln).
2016 starb seine Ehefrau, Königin Ana. Die Nachfolge des verstorbenen Königs in der casa regală (Königshaus) tritt seine älteste Tochter Margareta an.
(Vgl. Die Hohenzollern in Rumänien 1866-1947. eine monarchische Herrschaftsordnung im europäischen Kontext. Hg. v. Edda Binder-Iijima, Heinz-Dietrich Löwe, Gerald Volkmer. Köln, Weimar, Wien: Böhlau Verlag 2010;
Michael Kroner: Die Hohenzollern als Könige von Rumänien. Lebensbilder von vier Monarchen 1866-2004. Heilbronn: Johannis Reeg Verlag 2004.)
«Wann, wenn nicht jetzt?», soll der rumänische Ministerpräsident Ion («Ionel») C. Brătianu gesagt haben, als er im August 1916 entschied, dass das kleine Königreich aus Moldau und Walachei auf der Seite der Entente aus Frankreich, Russland und Großbritannien in den Krieg eingreifen solle. Diese bis heute wenig beachtete Entscheidung war eine der folgenreichsten in dem großen Völkermorden.
Der Liberale Brătianu gehörte zu denjenigen, die in einer denkwürdigen Kronratssitzung zwei Jahre zuvor nicht König Karl I. gefolgt waren, als dieser das Land an der Seite seines Verwandten Wilhelm II. und Österreich-Ungarns gegen die Entente mobilisieren wollte. Der Monarch hatte wohl unterschätzt, dass ein Großteil der rumänischen Eliten frankophil war, in Frankreich studiert hatte, Französisch als internationale Verkehrssprache nutzte sowie aus Frankreich eine Reihe von Einrichtungen als Vorbild für den jungen Nationalstaat zum Vorbild genommen hatte. Nur der Konservative P. P. Carp hatte den König unterstützt. Scharf hatte der unnachgiebige Deutschfreundliche formuliert: «Ihnen, Herr Brătianu, wünsche ich, dass Sie besiegt werden, denn Euer Sieg wäre der Ruin und der Untergang des Landes.»
Spätere rumänische Historiker zeichneten gern das Bild eines lateinischen Staates, der ganz natürlich an der Seite Frankreichs die «nationale Idee» der Eroberung von Siebenbürgen und der Bukowina vom Gegner Österreich-Ungarn verfolgte. Dass die Ausgangskonstellation keineswegs so eindeutig pro Entente ausfallen musste, machten jene «Germanophilen» deutlich, die wie Carp oder der Präzeptor und Politiker Titu Maiorescu eben das deutsche Universitätswesen frequentiert hatten und als Kriegsziel formulierten, mit den Mittelmächten das 1812 von Russland annektierte Bessarabien zu erringen. Die Zahl dieser Deutschfreundlichen und ihr Einfluss waren nicht gering, wie der Historiker Lucian Boia in seinem Buch «Germanofilii» (deutsch bei Frank & Timme) hervorhebt.
Als König Karl I. wenige Wochen nach dem Kronrat 1914 starb, behielt das Land auch unter seinem Nachfolger Ferdinand, dessen Ehefrau Maria aus schottischem Adel stammte, den neutralen Status bei. Abwartend leitete der Ministerpräsident Brătianu fast allein diese Politik, ohne Vertraute hinzuzuziehen, ohne dem Parlament Rechenschaft zu geben. Er fühlte sich nicht mehr an einen geheimen Assoziationsvertrag mit den Mittelmächten von 1888 gebunden, der nur wenigen Eingeweihten bekannt war.
Während Rumänien von beiden Seiten mit Angeboten umworben wurde, floss zugleich von den Kriegführenden nicht wenig Geld an rumänische Politiker, um die Stimmung zu beeinflussen. Der Kriegsverlauf machte deutlich, dass das Land eine wichtige Rolle als Rohstoff- und Nahrungslieferant spielen würde. Zudem saß es nahe bei den bulgarischen und den türkischen Verbündeten der Mittelmächte Deutschland und Österreich. Mit dem Nachbarn Bulgarien hatte Rumänien seit den Balkankriegen eher gespannte Beziehungen, zumal die Zugehörigkeit der Dobrudscha zwischen den beiden Ländern strittig war.
1916 erreichten die grausamen und tödlichen Stellungskriege zwischen Deutschland und Frankreich, für die der Name Verdun steht, ihren Höhepunkt. Trotz dem Massensterben hatte keine der Seiten entscheidende strategische Vorteile gewonnen. Die Versprechungen gegenüber Rumänien erreichten nun ihr Maximum: Die Entente stellte Siebenbürgen, die Bukowina, das Banat und eine noch weiter als heute nach Westen verlegte Grenze zu Ungarn sowie weitreichende Schutzbündnisse in Aussicht. Die Mittelmächte, die nun auch Italien als ihr früheres Mitglied zum Gegner hatten, konnten Bessarabien und möglicherweise auch die Bukowina als Pfand für den Eintritt an ihrer Seite bieten.
Die drei großen Parteien Rumäniens hatten durchaus unterschiedliche Ansichten: Die Liberalen Brătianus blieben zunächst neutral, die Konservativdemokraten Take Ionescus waren für den sofortigen Beitritt zur Entente, die Konservativen Petre Carps, Titu Maiorescus und Alexandru Marghilomans für die Mittelmächte, aber Brătianu hielt bis August 1916 an der Neutralität fest. Dann aber marschierten rumänische Truppen in Siebenbürgen ein, erklärte das Land Österreich-Ungarn den Krieg und erreichte Stellungen bis nahe an Hermannstadt/Sibiu, vielfach gegen rumänische Soldaten im österreichischen Heer kämpfend. Im Süden griff es Bulgarien an, erlebte jedoch bald eine Niederlage bei Turtucaia an der Donau.
Im Herbst 1916 rückten die Armeen von Falkenhayns aus Bulgarien und von Mackensens vor, überschritten in blutigen Schlachten mit über 100 000 toten Rumänen die Karpaten und besetzten Bukarest und Südrumänien. Der Hof und die Regierung flohen nach Iaşi. Einige Germanophile kollaborierten mit den Besatzern und mussten nach dem Krieg die Konsequenzen hierfür tragen. Zwei Jahre lang prägten die Deutschen das besetzte Territorium, gaben Zeitungen heraus, besuchten die Cafés und Restaurants, requirierten Lebensmittel und Rohstoffe.
Unter ihnen war etwa auch der «Feldpolizeikommissar bei der Politischen Polizei» Kurt Tucholsky. Die Schlachten in den Karpaten hat Hans Carossa als Militärarzt in seinem «Rumänischen Tagebuch» sehr distanziert von dem Grauen geschildert. Der expressionistische Dichter Gustav Sack fiel im Dezember 1916 in der Nähe der Ölstadt Ploieşti. 1917 besuchte Kaiser Wilhelm II. nur kurz und eher heimlich den besetzten Teil Rumäniens.
Was in der rumänischen Öffentlichkeit heute überwiegt, ist einmal die Erinnerung an die beiden wichtigen Siege in Mărăşti und Mărăşeşti, mit denen die Offensive der deutsch-österreichischen Truppen in die Moldau abgewehrt wurde und der rumänische Staat in verkleinerter Form weiter handlungsfähig blieb. Zum anderen gedenkt man der Kriegsgefangenen, die in Stralsund, Krefeld und anderen Orten einem schweren Regiment unterworfen waren, das nicht alle überlebten.
Die Rumänen fanden sich Anfang 1918, als in Russland die Revolution die Lage komplett veränderte und der Verbündete zum Gegner wurde, in einer verzweifelten Situation. Einige fürchteten bereits die vollständige Besetzung und die mögliche Auflösung des Königreichs, andere sahen die Präsenz der revolutionären russischen Truppen als größte Gefahr. Immerhin kam im April das kurz vorher unabhängig gewordene, in Bukarest wenig geschätzte Bessarabien durch die Abstimmung des Landesrates unter Präsenz rumänischer Truppen zu Rumänien.
Die Regierung Marghiloman schloss einen Separatfrieden mit den Mittelmächten, die nun ihre frei gewordenen Truppen im Westen zur letzten Großoffensive an der Marne einsetzten. Als diese scheiterte und Österreich-Ungarn bereits zusammengebrochen war, eröffneten sich Rumänien jene Chancen, die ihm das Maximum an territorialer Abrundung brachten. Am 1. Dezember zog das Herrscherpaar mit dem französischen General Berthelot im Taumel einer riesigen Menschenmenge in Bukarest ein, zugleich versammelte sich in Alba Iulia eine grosse Zahl mit den Vertretern der siebenbürgischen Rumänen, um ihren Beitritt zum Königreich zu proklamieren: Obwohl der Krieg fast jeder der von den Parteien vorhergesagten möglichen Entwicklungen widersprach, übertraf das Ergebnis alles, was Brătianu als Kriegsziel formuliert hatte.
Markus Bauer
NZZ 13.9.2016
Abb. oben links: Zeitung Universul mit der Nachricht vom Tod König Karls I.; oben Mitte:Einmarsch dt. Truppen in Bukarest im Winter 1916; oben rechts: General Berthelot von der französischen Militärmission; unten links.: General von Mackensen; unten 2 von links: Plakat aus der Besatzungszeit; unten 2.v. rechts: Bucheinband G. Millian-Maximin, În mâinile duşmanului (1921); unten rechts: Artikel über Besuch Kaiser Wilhelm II. im Salzbergwerk in Slănic.