Foto: www.kultro.de

 

Die rumänischsprachige Literatur hat seit der Wende 1989 eine Reihe von jungen AutorInnen hervorgebracht, deren Werke vor allem im deutschsprachigen Raum wegen fehlenden Übersetzungen kaum bekannt geworden sind. Wir versuchen hier, dieser Lücke durch Vorstellung von Texten und Rezension von Übersetzungen, die die große Bandbreite der Literatur aus Rumänien und der Republik Moldau abbilden, ein Stück weit entgegenzuwirken. Dabei geht es nicht nur um Aktualität - das wäre unfair gegenüber all den Büchern, die bereits seit Jahren vorliegen - , sondern um die Freiheit des Blicks auf eine Vielfalt, die immer interessant und faszinierend ist.

Und dann gibt es da noch die rumänischen Klassiker - ein Kosmos der Formen und Haltungen, der Themen und Geschichten, die bis heute im rumänischen Denken wirkmächtig geblieben sind. Zugleich verweisen sie auf die spannende Intellektuellengeschichte der rumänischen Kultur, die außerhalb der Sprachgrenzen oft nur den Spezialisten bekannt ist. Oder einfach vergessen - denn vieles wurde etwa bereits im 19. Jahrhundert auch ins Deutsche übersetzt!

 



  Richard Wagner

 

 

Der Schriftsteller und Essayist aus dem Banat gestorben

 

 

 

Foto: Bodil Zalesky

 

 

Am 14. März 2023 verstarb nach langer Krankheit in Berlin, wo er seit der Ausreise aus Rumänien wohnte, der aus Lowrin im Banat gebürtige und in Permajosch (Periam) aufgewachsene Schriftsteller, Lyriker und Essayist Richard Wagner. Wagner war Mitbegründer und primus inter pares der Schriftstellergruppe Aktionsgruppe Banat im kommunistischen Rumänien und etablierte sich nach seiner Ausreise 1987 in der Bundesrepublik und danach im vereinigten Deutschland als Autor von Romanen, Gedichtbänden und ebenso geistreicher wie scharfzüngiger Kritiker der neudeutschen Verhältnisse.

 Als Schüler im Lyzeum von Großsanktnikolaus machte Wagner bereits durch Gedichte und Erzählungen auf sich aufmerksam, ebenso wie einige seiner Mitschüler, mit denen er 1972 die Aktionsgruppe Banat ins Leben rief. In dieser Gruppe von 9 Autoren wurden mit Unterstützung von Kritikern wie dem kürzlich verstorbenen Gerhardt Csejka erstaunlich moderne und aktuelle Formen von Literatur entwickelt und publiziert. Kritisch setzten sich die Aktionsgruppler mit ihrer Realität auseinander, indem sie eigene Ansprüche an die Literatur und Gesellschaft ihrer Gegenwart entwickelten und deutlich formulierten. 1973 erschien mit Klartext der erste Gedichtband Wagners, dem noch mehrere in Rumänien folgten (Hotel California I u. II). Zudem betätigte sich der mittlerweile Studierende zu einem vielseitigen Publizisten und Autor, der im Sog der Jugendrevolution findig und mutig die Grenzen des Sag- und Machbaren im kommunistischen Regime austestete. Nach der Zerschlagung der Aktionsgruppe 1975 unternahm bis zur Ausreise 1987 mit seiner damaligen Ehefrau Herta Müller Wagner noch mehrere Versuche der Weiterführung der Freundesgruppe in den  literarischen Institutionen Temeswars.

In der Bundesrepublik angekommen stand mit dem Niedergang des Ceaușescu-Regimes vielfach das politische Engagement und die Aufklärung einer weitgehend ahnungslosen bundesrepublikanischen Gesellschaft über Geschichte und Politik Rumäniens im Fokus der Aktivitäten Wagners und auch seiner früheren Kollegen aus der Aktionsgruppe. So entstanden im Rotbuch Verlag mehrere aktuelle Darstellungen, in denen bereits zahlreiche Motive und Gedanken Wagners über die europäischen Verhältnisse aufscheinen (Sonderweg Rumänien. Bericht aus einem Entwicklungsland (1991); Völker ohne Signale. Zum Epochenbruch in Osteuropa (1992); Mythendämmerung. Einwürfe eines Mitteleuropäers (1993)).

Bekannt wurde der geistreich-reflexive Banater aber einem großen Publikum durch seine vielfach mit Rumänien verflochtenen Romane, die vor und nach der Jahrtausendwende erschienen. Die Muren von Wien (1991), In der Hand der Frauen (1995) Miss Bukarest (2001) u.a. profilierten einen Romanautor, der vor allem die mehr oder weniger gelingende Neuankunft südosteuropäicher Figuren im neuen Deutschland thematisierte. Sein erfolgreichster Roman wurde der mit viel Lob aus den Feuilletons bedachte Habseligkeiten (2004), in dem am deutlichsten die Banater Bezugnahme und das Thema der Ausreise nach Deutschland sich finden. Eine zeitgemäß-schräge Mischung aus Familien- und Heimatroman.

Waren es auch die Romaninhalte oder die essayistische Beschäftigung mit den europäischen Fragen – Aufsehen erregte ebenso seine scharf beobachtete voluminöse Sezierung der deutschen Eigenheiten, die er mit der Publizistin Thea Dorn schrieb: Die deutsche Seele. (Knaus Verlag 2011), ein Buch, das bis nach China seine Kreise zog.

Eines seiner schönsten Bücher schrieb Wagner über die Habsburger, über jenes bereits Anfang der 1990er Jahre thematisierte Mitteleuropa, über die Verluste des 20. Jahrhunderts und des sogenannten Fortschritts, zwischen Ost und West: Habsburg. Bibliothek einer verlorenen Welt (Hoffmann und Campe 2014). Miniaturen über die Dobosch- und Nusstorte, über Wien, Kafka, 1989, das Lied vom Prinzen Eugen, über Sartre und Cioran, über eine Banater Elegie,  wie Joseph Roth, nostalgisch und ganz klar sah Wagner die durch den Blick auf die Vergangenheit scharf umrissenen Probleme der Gegenwart. Und der hier noch leichte Drall weg von den aufgeklärten Weisheiten der Jugend nahm den Weg hin zur Schärfe der Altersurteile, die er in den aufkommenden Debatten über political correctness und den deutschen Zustand, über Ausländer und Inländer in Pamphlete wie Es reicht. Gegen den Ausverkauf unserer Werte (Aufbau Verlag 2008) oder Der deutsche Horizont. Vom Schicksal eines guten Landes (Aufbau Verlag 2006) presste. Nicht wenig Anteil dürfte die sich verfestigende Einsicht in die geringe Empathie gegenüber den osteuropäischen Neuankömmlingen und das Unverständnis eines nur allmählich zusammenwachsenden Europas an Wagners schrillen Urteilen ausmachen.

Dann kam die Krankheit: Herr Parkinson (Aufbau 2015) hieß seine Auseinandersetzung mit dem Nicht-mehr-möglich-Macher, ein letzter Kampf gegen etwas; letzte Gedichte Gold (Aufbau Verlag 2017) gab die Germanistin Christina Rossi heraus, die auch wissenschaftlich das Werk Wagners betreute. Der für die Wahrnehmung Rumäniens so bedeutende Publizist und sensible Worteverdichter aus dem Banat erhielt für sein Werk und Wirken zahlreiche Preise, darunter den Georg-Dehio-Preis und den Neuen Deutschen Literaturpreis.

 

Koudelka, Zigeuner

 

Männer und Frauen tanzen eine weiße Wand entlang

Das Saxophon bläst Stille

Peitschen

 

Hände

Mutter Gottes

Münzen auf den Augen

 

aus: Schwarze Kreide  (Luchterhand Literaturverlag 1991)

 

 

Mitteilung aus dem Freundeskreis von Richard Wagner:

 

"Die Trauerfeier für Richard wird am 3.5. stattfinden, und zwar um 12 Uhr in der katholischen Akademie, Hannoversche Str. 5, mit anschließender Beisetzung der Urne auf dem Dorotheenstädtischen Friedhof, der gleich hinter der Akademie liegt. Danach ein Treffen in einem noch nicht näher bestimmten Restaurant in der Nähe: dort kann dann jeder, der mag, eine Lob- und Trauerrede auf Richard sprechen."

 

 

Die Rinden der Sprache

in der Lyrik

von A. Bulucz

 

 

 

 

 

 Bei der Lektüre des Gedichtbandes von Alexandru Bulucz (gebürtig aus Baia Mare) stellen sich bald eigene Bilder für diese Art des Dichtens ein: zunächst vielleicht das der Mauer - nicht einer glatten Betonmauer, sondern  einer alten, aus Natursteinen uneben gemauerten, mit Pflanzen bewachsenen. Sie lässt bei genauem Beobachten viele Details, Unterschiede, Schründe erkennen, gibt zwar keinen Blick auf das "Dahinter" frei, aber stellt eine eigene interessante Welt dar. Ein anderes Bild könnte das der Rinde eines Baumes sein, nicht die glatte der Buche, sondern die schrumpelige der Eiche mit ihren Narben, Rissen, Wucherungen, Lebensformen. Damit wäre auch die Nähe zu den Pflanzen gegeben, die bei Bulucz eine große Rolle spielen. Und eines der Gedichte heißt wirklich "Gespräch mit Baumrinden II", das zudem auch den Buchtitel bereit hält und auf die rumänische Herkunft des Dichters verweist:

"[...] Es war dir gleich, / was sich verbarg hinter dem Geschmack des Dills/ im Käse aus der Teigtasche,// was Petersilie über die Seele weiß./ Nie fragtest du nach den transsylvanischen Äpfeln/ u. warum sie in der kühlenden Erde lagern,/ [...]" (44).

Essen und Verdauung spielen in dem Band ihre wichtige Rolle ebenso wie die Lektüre der großen Vorbilder von Bulucz, die mehr oder weniger eindeutig in die Gedichte eingeschrieben wurde, von Seamus Heaney, Josef Brodsky, bis Rilke, Celan, Rose Ausländer, auch Droste-Hülshoff oder Werner Söllner.

Wie bei der alten Mauer oder der Rinde braucht es eine genau Beobachtung und Lektüre dessen, was da zu sehen und zu erkennen ist. Ungewöhnliche und überraschende Formen sprudeln nur so aus den Gedichten und fordern eine genaue, zunächst vielleicht abwartende Lektüre, bis sich eine oder mehrere Sinnschichten erschließen - selten das "Übliche" in Lyrik und Dichtung, vielmehr oft ein Gewirr und scheinbares Durcheinander von überraschenden Stimmen, Einfällen, Themen. Manchmal auch nur ein Vorsichhinmurmeln oder ein fiktiver Brief - wie die an den Banater Dichter Werner Söllner, an den Comic-Zeichner Itzhak Zeev (Art Spiegelman), den russischen Dichter Welimir Chlebnikow oder das eigene Kind. In dem Schreiben an Chlebnikow ("Lieber Welimir") weist der Dichter noch deutlicher selbst auf den Vergleich mit der Rinde:

"Die Gestalt der Poesie, nicht immer ist sie die des Tieres. // Es gibt Nächte, finster, wie noch nie eine war, da nimmt sie, / je nachdem, die Form der Espenrinde u. des Mundes an, im Schweigen nistet sie, den Bohrungen des toten Holzes. / "

Ein anderes Gedicht hat als Motiv eine alte Eiche im Tegeler Wald in Berlin.

Von den 10 Kapiteln mit jeweils 3 oder 4 Gedichten hält das "Stundenholz" betitelte die meisten Anspielungen auf Rumänisches bereit: von toacă-Klängen über die Dacia und Wasserpäddem oder Mieresch und Nadlak bis ans Schwarze Meer und die Plumpsklos, Klöster und Landschaften.

"[...] Erinnerungen an wer weiß wie viele wertlose Scheinlöwen/ (Lei, Münzen u. Scheine) in der Pfütze im Plattenbauhof/ die nasse Inflation wurde unter dem weißen Hemd/ mitgebügelt. Für die Stunden des Schlangestehens im/ schwitzenden Nacken der Volkswirtschaft [...]" (34)

So entfaltet sich erst bei wiederholter Lektüre und Einlassen auf die immer veränderten Perspektiven und Sprechsituationen der Gedichte der unerwartete Reichtum dieses nur scheinbar schmalen Gedichtbands. Ein Buch für lange Zeit und das nachhaltige, immer überraschende Vertiefen beim Lesen. Kleiner Tipp: Den Schutzumschlag sollte LeserIn (im Gegensatz zum Rezensenten anfangs) nicht übersehen, er bietet brauchbare Hilfsmittel für die Lektüre.

 

Alexandru Bulucz: was Petersilie über die Seele weiß. Gedichte.

Schöffling & Co. Frankfurt a. M. 2020, 114 Seiten, ISBN 978-3-89561-507-8

 

 

 Der Übersetzer und Literaturkritiker Gerhardt Csejka verstorben

 

 

 

Gerhardt Csejka (links) auf der Leipziger Buchmesse mit dem Verleger Traian Pop

 

 

Am 25. November 2022 verstarb in Berlin im Alter von 77 Jahren der aus dem Banat stammende herausragende Übersetzer und Literaturkritiker Gerhardt Csejka. Dies teilte der Zsolnay Verlag mit, in dem einige der Übersetzungen rumänischer Autoren erschienen sind. Der 1945 in Guttenbrunn/Zăbrani im Banat geborene Csejka gehörte mit Anemone Latzina, Paul Schuster, Helga Reiter, Elisabeth Axmann Anfang der 1970er Jahre zu jener schon legendären Redaktion der Zeitschrift "Neue Literatur", die entscheidenden Anteil an der Inaugurierung eines neuen Zeitalters in der Literatur der deutschen Minderheiten Rumäniens besaß. Mit seinen theoretischen Reflexionen in Essays und literarhistorischen Kenntnissen arbeitete Csejka zentral mit an der Neuorientierung einer jungen Generation von SchriftstellerInnen, denen die Diskussionen mit dem versierten Kritiker und die Möglichkeit des Abdrucks von Texten in der "Neuen Literatur" wichtige Chancen für die literarische Entwicklung boten. Die "Neue Literatur" und insbesondere Csejka ermöglichten auch der Aktionsgruppe Banat als Newcomern sich in einem neu entstandenen literarischen Feld zu verankern, aus dem sogar eine Nobelpreisträgerin hervorging. Csejka wurde 1975 mit einigen der mit ihm befreundeten Literaten verhaftet mit dem Vorwurf des versuchten illegalen Grenzübertritts; er reiste aber erst 1985 in die BRD aus.

 

Nach der Wende leitete der Literaturkritiker mehrere Jahre im Umfeld des Frankfurter Kulturprojekts "Palais Jalta"  eine Fortführung der "Neuen Literatur" mit Schwerpunkt auf osteuropäischen Literaturen. Zudem profilierte sich der Banater als einer der besten Übersetzer rumänischer Literatur. Seine Übertragung des ersten Bandes von Mircea Cărtărescus Monumentalwerks "Orbitor" machte den rumänischen Autor hierzulande bekannt und zeigte die akribische Fähigkeit Csejkas, sich in die Sprache eines Autors zu versetzen. Ausgezeichnet mit dem Übersetzerpreis der Kunststiftung Nordrheinwestfalen und dem Preis der Stadt Münster für Europäische Poesie hat Csejka auch Norman Manea, Caius Dobrescu, Matei Vișniec, Liliana Corobca und vielen anderen rumänischsprachigen AutorInnen zu einer deutschen Stimme verholfen. Gerhardt war ein wunderbar zurückhaltender Mensch, der sich eindringlich auf literarische Themen einlassen konnte und mit dem jedes Gespräch ob seiner immensen Kenntnisse der rumänischen und rumäniendeutschen Literatur ein Erlebnis und ein großer Gewinn wurde. Sein Tod ist ein großer Verlust für alle, die an der Übertragung rumänischer Literatur in die deutsche Sprache arbeiten.

 

 

 Fantasy at its best

 

 

 

Flavius Ardeleans phantastisches Erzählhighlight

 

 

 

 

Wer Gefallen an bei den Haaren herbeigezogenen Inhalten findet, an gänzlich unmöglichen und rein als Produkt der Einbildungskraft daherkommenden verwickelten Geschichten, wer sich gern einlässt auf Kosmogonien und alternative Weltmuster, an die Vermischung der Zeiten und Räume, die Erfindung unmöglichster Erdenbewohner - der/die muss zu diesem Buch greifen. Hier wird klassisch eine (nicht sehr lange) Reise zu Fuß in eine Stadt als Erzählrahmen vorgestellt, die zwei sehr unterschiedliche Gestalten zufällig zusammenbringt. Davon ist einer der Erzähler und der andere der Zuhörer. Und was der Erzähler so zusammenreimt ist eine in der Fantasy-Literatur nicht seltene Erfindung eines mystisch übermenschlichen Menschen, dessen Aufstieg zum Städtegründer und Fall nachvollzogen wird. Dieser Heilige Taush kann einiges an Merkwürdigkeiten aufbieten, wie mit einem aus dem Bauchnabel gezogenen roten Faden die Sterbenden trösten. Und noch manches mehr, was ihn zu einer Legende in der Gegend um Geisterștat bei Rădăcin am GROSSEN FLUSS Lăcrimile lui Tapal werden ließ. Sein Erwachsenwerden durch allerlei grausige und freudige Erlebnisse und Fähigkeiten vollzieht sich in der Bipolarität seines Gemüts – mal tieftraurig, mal zu großen Taten fähig. Er bringt es bis zur Gründung der Stadt Mandragora auf dem Boden von Rădăcin.

Dieser von dem Erzähler mit allen Rafinessen der literarischen Kunst präsentierte Lebensbogen führt am Ende bis zur Pilgerschaft der beiden Wanderer nach Alrauna, dem früheren Mandragora. Und zugleich zum sich selbst aufbrauchenden Lesegenuss, der durch die Lektüre sich genügt. Ardeleanu verfügt über außergewöhnliche Fähigkeiten und literarische Kniffe, um das Ungewöhnliche als Produkt der Sprache entstehen zu lassen und glaubwürdig zu machen. Und Eva Ruth Wemme hat diese Phantastik geschmeidig in die deutsche Sprache gebracht.

Wen die Drastik der unangenehmen Gerüche, Blut, Gedärme und das Kribbeln von Insekten nicht abstößt, der kann mit Flavius Ardeleanu einen wirklichen großen Erzähler der Phantastik finden. Für FreundInnen des phantastischen Erzählens aber ist dies ein veritables Juwel.

 

 

Flavius Ardeleanu: Der Heilige mit der roten Schnur. Roman. [Scârba sfântului cu sfoară roșie; 2015] Aus dem Rumänischen von Eva Ruth Wemme. Mit Illustrationen von Ecaterina Gabriela.

homunculus verlag Erlangen 2020

215 Seiten, ISBN 978-3-946120-90-2

 

 

Wenn die Dschanga kommt

 

 

Das Banat in frisch-frechen Kindheitskonstruktionen

 

 

 

 

 

Es beginnt am Flughafen mit der Ankunft der Besucherin in der alten Heimat Temeswar: 2015, Jahrzehnte nach der Ausreise. Und dann beginnt es wieder 1978 mit dem bevorstehenden Besuch des Parteichefs und conducător in Temeswar. Hin und her springend zwischen den Daten und Gefühlszuständen, zwischen dem Kinderalter und der Erwachsenen, zwischen alt und neu oder neu und alt

vollführt die Offenbacher Autorin Sigrid Katharina Eismann ihren quirlig-frechen-komischen "Roman" als Tanz mit den Wörtern. Niemand wird geschont, alles wird direkt gesagt. Ob der Gestank der Pferdekutschen oder die merkwürdige Kleidung der Verwandten oder die Pfützen in den Straßen oder das Rumpeln der alten Straßenbahn durch die genau bezeichneten Stadtviertel mit ihren Eigenheiten. Überhaupt die Straßenbahn – es ist die Linie 3, die wie ein gelber Faden sich durch diesen wild springenden und doch immer an der Sache bleibenden Roman zieht. Denn habsburgisch-gelb ist sie, die Linie und fährt bedenklich schaukelnd auf den alten Gleisen an allen Ecken vorbei. "Die Dschanga, Tramwai, die Elektrischi lässt auf sich warten. Sie hat viele Namen, hört aber auf keinen." (30)

Nee-Oma, Ota, Lissi-Tante und wie die Verwandten und Bezugspersonen des Kindes heißen alle sind tief verwurzelt im serbisch-ungarisch-rumänisch-schwäbischen Jargon und Denken. "Das Dorf hortet Namen und Sprachen wie verhederte Krautwickel." (66) Alt-Freidorf, Fabrikstadt, Josefstadt, Temeswar ist der mythische Ort dieser vielgestaltigen und doch typischen Legenden des Alltags bis zur Ausreise. Eismann zieht die Geschichten herüber und hinüber, vom Banat nach Nürnberg, dann ins Hessische wo die "Spät-Aussiedler" sich neu etablieren müssen, ohne je das Banat wirklich verlassen zu haben. Und nach der Wende beginnt das Zieharmonika-Spiel des Hier- und Dortseins erst recht. Intensive Einsichten hinter die Fassaden von "Heimat", "Deutschland", "Banat", "Fremde" und "Hiesige" – mit Gewinn und großem Vergnügen zu lesen.

 

 

Sigrid Katharina Eismann:  Das Paprikaraumschiff. Roman.

danube books Verlag, Ulm 2020

157 Seiten, ISBN 978-3-946046-18-9

 

 

Brynkoosh and others

 

Maria Rybakova's Four Novellas from the Carpathians

 

 

 

 

 

 

 

Having travelled around the globe for professional reasons writer and academic Maria Rybakova spent also some time in Romania. Now teaching literature at Nazarbayev University in Nur Sultan (Kazakhstan) she has a Ph.D. in Classical Literature from Yale University, studied also in Berlin and published several internationally acclaimed novels, which were translated in several languages (including German and English). Her novel-in-verse Gnedich is about the 19th-century Russian translator of Homer's The Iliad.

As sort of an outcome of her stay at the New Europe College (NEC) in Bucharest but also of her studies at Al.I.Cuza University in Iași she puts her impressions from the Carpathians in 4 "novellas" that offer in meticulously crafted short stories a surprising literary perspective on the Romanian world of today. In fact they are one of the most unexpected new fresh literary onsights to Romania that can be found at the moment. The stories give quite realistic settings in Romanian towns and Paris and evolve plots that mix reality with literary images and thoughts. So we read about Eliade or "Brynkoosh" (wonderful pronunciation and spelling!) or about somebody who has won after all the famous prize from Stockholm. This latter example hints us to specific Romanian idiosyncrasies that Rybakova observes and evokes in an artistic manner: the longing for at least one Nobel prize for one of the many good writers or researchers or the obsession with Mircea Eliade (the author herself researched Eliade during her stay at the New Europe College.) Rybakova even endeavours to create convincingly a story about a daughter of the Ceaușescus in Paris and her individual sight on events that happened in 1989.

Each of the four "novellas" has its own aesthetic and historic coat so that none looks similar to the others – all of them are surprising and 'novel'. That is why they offer a wonderful good read about Romania described from an 'outside' perspective. This can be seen in the story of an American girl coming to a city (which can be recognized as Iași) because she is fleeing from some legal problems in her home country. Creating her relationships with several persons in the capital of Romanian Moldova and the thoughts of this very special young woman reveal all the imagination that Maria Rybakova is able to activate when creating her literary worlds of Romania. Each of the stories gives example of this outstanding literary faculty. Rybakova, grand-daughter of Anatolij Rybakov (author of Children of the Arbat), shows in her stories on Romania the talent and literary craftmanship of her grandfather – remarkably written in a language that is not her mother tongue. We hope there will be soon a German translation.

 

 

Maria Rybakova: Quaternity. Four Novellas from the Carpathians.

Edition Noëma - ibidemVerlag Stuttgart 2021,

183 pages,

ISBN 978-3-8382-1586-0.

 

 

 Matthias Buth

 

Der Tod lebt

 

Horst Samson umspielt das Enden

 

 

 

 

Tod, Sterben und Vergehen sind stetig pulsierende Quellen der Poesie. Gedichte wollen seit Jahrtausenden dagegen anschreiben, anklagen, verzweifeln und immer ins Leben einzubeziehen, was doch immer trennt. Gedichte scheitern, denn das Enden stellt keinen Passierschein aus. Es belauert uns und setzt Grenzen, die unsichtbar bleiben bis zu dem Augenblick, der alles nimmt und die Hoheit der Zeit beweist.

Wenn die Reise auch ewig währte, / sie dauerte nur einen Augenblick, / und der Tod ist schon da, kurz zuvor.“ Dieser Vers von Giuseppe Ungaretti aus „Letzte Chöre für das gelobte Land, Rom 1952-1960“ intoniert die Erkenntnis des „Immer schon Daseins“ des unerbittlichen Grenzenziehers, des Lebensimperators, dem keiner ausweichen kann. Wer liest, Gedichte gar, will mehr wissen von den Sphären, die sich dem wirklich Vorstellbaren entziehen. „Wo // wo bliebe das wort, abgeschwiegen dem tod, wäre hochgesetzt, / der hallraum nicht / eines herzens“ dichtet Reiner Kunze im Band „eines jeden einziges leben“ (Frankfurt am Main 1986). Der italienische und der deutsche Dichter versuchen, dem Tod Leben zu geben oder in den Innenbereich des Verfügbaren einzubeziehen. Das ist mutig, anrührend und zugleich hilflos, sind doch Worte die Gefährten des Uneigentlichen.

Horst Samson, der im rhetorischen Gestus die Zeilen bricht, bedenkt und begrübelt, kennt die dünne Haut der Sprache, die vor nichts bewahrt und rettet: „Die Sprache kopiert uns bis zuletzt, / Dann verliert sie, // Ihre Macht, verliert uns aus dem Auge / Und sich // Im Universum als schwer lesbares Plagiat / Der Zeit. Es hilft kein Gebet, // Kein Wünschen, kein Gott, / Spurlos endet sie mit uns…“ Das Sterben ist Nichtsprechen, es entlässt ins Nichtmehr. Gott ist für Samson keine (Sprach-) Größe, keine Zuflucht von Geist und Gedächtnis, eben kein „Hallraum“ im Sinne Kunzes und somit der Himmel „leeres Geheimfach.“ Die Sprache ist für Samson eine Geliebte, die sich ihm immer wieder entzieht und schließlich allein lässt. Dann fehlt das Gegenüber, fällt der Vorhang und nichts bleibt zurück. Diese tiefe Lebens- und Sprachtrauer wurzelt tief, macht zuweilen an den Großen der Dichtung fest, so an Paul Celan, Nelly Sachs oder Fernando Pessoa, was wie ein Anklammern des Ertrinkenden an deren Wortbojen wirkt, hat aber eine biographische Begründung, in den Lebensgeschichten seiner Vorfahren und in seinem 1954 im rumänischen Bărăgan begonnenen Leben.

 

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Premio FIL de Literatura 2022

 

 

 

 

 

Sechs Jahre nach Norman Manea erhält der rumänische Schriftsteller Mircea Cărtărescu den hoch dotierten und in der romanischen Welt mit außerordentlichem Prestige versehenen Premio FIL de Literatura en Lenguas Romances 2022 der Buchmesse von Guadalajara (Mexiko):

“Por su prosa imaginativa y desbordante que combina

elementos fantásticos y realistas, ficciones especulares que

© FIL Guadalajara/ Natalia Fregoso

indagan en la construcción de la identidad desde un espacio liminal y periférico en el paisaje europeo”, el escritor más importante de la literatura rumana actual, Mircea Cărtărescu (Bucarest, 1956), recibirá el máximo galardón que otorga la Feria Internacional del Libro de Guadalajara: el Premio FIL de Literatura en Lengua Romances 2022."

Die internationale Jury bestand aus KritikerInnen und LiteraturwissenschaftlerInnen, darunter die italienische Kritikerin Laura Scarabelli und die in den USA lehrende Literaturwissenschaftlerin Oana Sabo. Der Preis wird am 26. November 2022 auf der Messe in Guadalajara überreicht.

 

 

Eine englische Zeitkapsel

 

III. Freunde und Helden

 

 

 

Der Abschluss der Balkan-Trilogie (und Beginn der Levante-Trilogie)

 

 

 

 

 

 

 Guy Pringle ist noch in Rumänien tätig, als seine Frau Harriet bereits in das rettende Flugzeug nach Griechenland steigt. In Athen angekommen wartet sie

 

nun auf Guys Ankunft und muss sich mit der fremden Stadt auseinandersetzen. Hier wird ihr Prinz Jakimov zur Hilfe, obwohl sie ihn in Bukarest lange kaum ausstehen konnte und er auf mysteriöse Weise plötzlich verschwand.

Die griechische Hauptstadt wird nach Guys Ankunft für das Ehepaar zum weiteren bedrohten Fluchtpunkt, nachdem in Bukarest deutsche Einheiten quasi einmarschiert sind. Auch in dem Mittelmeerland ist die Lage wenig stabil, wenn es auch lange Zeit Erfolgsmeldungen von der Front gegen Italien an der Grenze nach Jugoslawien gibt. Es findet sich ein Großteil des englischen Personals aus Bukarest wieder ein, um, so lange es geht, englische Repräsentanz aufrecht zu erhalten. Es spinnen sich Intrigen gegen das junge Paar, das bald erkennen muss, dass die Entwicklung des Krieges ihren Aufenthalt nicht von langer Dauer sein werden lässt. Die Widrigkeiten der Egoismen mancher Mitglieder der englischen Kolonie, die Beobachtung der griechischen Bevölkerung, die permanente Auseinandersetzung mit der bedrohlichen Kriegslage und vor allem die Erkundung des Zustands ihrer jungen Ehe zählen zu den Belastungen der jungen Harriet, die immer wieder für Aufregungen und Spannungen sorgen. Hinzu kommen Luftangriffe und der Aufenthalt in Luftschutzbunkern. Athen erweist sich als eine Art Spiegelbild der Bukarester Situation. Es sind die bekannten Charaktere, die kaum verändert neue Konstellationen, aber auch einige Überraschungen produzieren. Und es macht den nicht geringen Reiz der erzählten Geschichte aus, dass das neue Umfeld zahlreiche Problemfelder bereit hält, die Manning mit der ihr eigenen Meisterschaft gekonnt zum Teppich des Romans verwebt.

Auch in Athen steht am Ende wie in Bukarest die Flucht: Wieder geht es nach Süden, über das Mittelmeernach Ägypten. "Sie traten vor, um das neue Land zu betrachten, das sie, wenn auch widerwillig, dankbar erreichten. Sie erblickten flach und weiß am südlichen Horizont die Küste Afrikas." (512)

Die so spannende und lebhaft-eindringliche Balkan- geht über in die Levante-Trilogie. Uns bleibt zu wünschen, dass Rowohlt sich übersetzerisch auch dieser so lebendigen Ereignisse in bedrohter Zeit zur Erkenntniserweiterung und Lesefreude der Leserschaft annehmen werde. Manning ist einfach unglaublich gut lesbare und fundierte Literatur mit historischem Hintergrund.

 

 

Olivia Manning: Freunde und Helden. Roman. (Friends and Heroes, 1964). [Dritter Band der Balkan-Trilogie]

Aus dem Englischen von Silke Jellinghaus.

Rowohlt Verlag Hamburg, 2021, 512 Seiten, ISBN 978-3-498-00152-0

 

 

Eine englische Zeitkapsel

 

 

II. Die gefallene Stadt

 

 

 

Bukarest in der Anfangszeit des Zweiten Weltkriegs

 

 

 

 

 

 

 In der Fortsetzung der Geschichte von Guy und Harriet Pringle im Bukarest von 1940 bildet sich die dramatische Zuspitzung der politischen Entwicklung ab. Das junge englische Paar erlebt die Diskussionen um die Gefahr des Verlusts der

 

nördlichen Bukowina, Nordsiebenbürgens und von Bessarabien. Die Blase von englischen Journalisten und Interessierten im luxuriösen Hotel Athenée Palace verfolgt gespannt die wechselnden Stimmungen der Masse auf dem Platz vor dem Königspalast. Durch geschickte Verknüpfung der politischen Sphäre mit dem hin und wieder aufflammenden Beziehungsstress der Jungverheirateten, aber auch der Reaktionen auf ein unerwartetes Ereignis wie das Erdbeben von 1940, das Bukarest erschütterte, entsteht eine animierende Lebhaftigkeit der Erzählung, die auf allen Ebenen immer Überraschungen bereit hält. Selbst den melancholischen Rückzug und die sie selbst überraschende Entfremdung, die Harriet gegenüber ihrem überaktiv engagierten Ehemann zu fühlen beginnt, kann kaum als Hauptthema der Erzählung angesehen werden, da sie zwar kontinuierlich thematisiert, aber immer auch durch Schübe von Aktivitäten und dem unaufhörlichen Fluss der Ereignisse abgelöst wird. Neben der besonderen Profilierung der Gestalt des verarmten russischen Prinzen Jakimov, Sohn eines vor der Oktoberrevolution geflüchteten Adeligen, der diesmal  sogar journalistisch tätig wird und nach Cluj reisen muss, wird mit der etwas skurrilen Gestalt des Literaturprofessors Lord Pinkrose, der eine bedeutende Vorlesung in Bukarest halten soll, ein satirisches Element eingeführt. Jakimovs Sorglosigkeit in der brisanten Situation und seine Fehler werden handlungstragend und ermöglichen dem Roman auch Ausflüge in das Milieu der Spionage. Weiterhin erhöht sich die Spannung durch die Zuspitzung der politischen Lage, die die kleine englische Kolonie immer mehr gefährdet. Guy Pringles Unfähigkeit, Hilfsbedürftigen einen Wunsch abzuschlagen, führt im Falle des verfolgten jüdischen Unternehmersohns Sasha Drucker in gefährliche Situationen und lässt Manning die beginnende Holocaust-Teilnahme Rumäniens thematisieren. Sie geht einher mit dem Erscheinen der eigentlich verbotenen Eisernen Garde im Straßenbild, die Harriet insbesondere beschäftigt, da sie die Gefährlichkeit und Menschenverachtung dieser Bewegung zunächst unterschätzt. Als Antonescu im Herbst die Macht übernimmt, bahnt sich der Schauplatzwechsel der Pringles an. Zunächst wird aber nur Harriet das Flugzeug in den Süden nehmen können.

Mannings Trilogie kann auf vielen Ebenen gelesen werden: eine Eheerzählung Jungverheirateter, eine subtile Psychologie der Gruppendynamik in der Diaspora, konkrete  Reflexion darüber, wie Einzelne gegenüber den Ideologien und Zumutungen der Geschichte und Politik sich behaupten können, unaufdringliche Schilderung der rumänischen Politik am Vorabend der Beteiligung am Zweiten Weltkrieg. Das scheinbar mühelose Verweben all dieser Aspekte gelingt Manning auf brillante Weise und führt zu einer hervorragend lesbaren und  lesenswert-unterhaltsamen Darstellung mit unvergleichlich präzisem Bezug zur rumänischen Geschichte.

 

Olivia Manning: Die gefallene Stadt. Roman (The Spoilt City, 1961). [Zweiter Band der Balkan-Trilogie]

Aus dem Englischen von Silke Jellinghaus.

Rowohlt Verlag Hamburg 2021, 463 Seiten, ISBN 987-3-498-00150-6

 

 

Eine englische Zeitkapsel

 

 

 

Olivia Mannings große "Balkan-Trilogie" in neuer deutscher Übersetzung

 

 

 

 

 

I. Der größte Reichtum

 

 

 

Dass das Vereinigte Königreich in den 1930er Jahren mit Frankreich zu den Schutzmächten des aus dem Ersten Weltkrieg stark vergrößerten

 

Königreichs Rumänien gehörte, dürfte im allgemeinen Bewusstsein lange angesichts der Beteiligung Rumäniens an Nazi-Deutschlands Krieg gegen die Sowjetunion verblasst sein. Aber britische Diplomatie und Wirtschaft zeigten nach dem Ersten Weltkrieg ein großes Interesse an Rumänien. Dies ist durchaus für die Einordnung von Olivia Mannings grandioser Trilogie von Bedeutung, denn sie erzählt in ihrem ersten Teil die Geschichte eines englischen Lektors an der Universität Bukarest, der im Spätsommer 1939 mit seiner frisch angetrauten Ehefrau in die rumänische Kapitale zurückkehrt, um seine Arbeit fortzusetzen. Richtiger muss gesagt werden, dass es eben jene Harriet Pringle ist, aus deren Perspektive das Eintauchen in die fremde Welt mit ihrem Mann Guy geschildert ist, den sie wie sie zunehmend feststellt kaum kennt. Es ist diese Perspektive, die einen der ungewöhnlichen Reize dieses meisterhaft erzählten Romans darstellt, der darüber hinaus auch als detaillierter Einblick in die Wahrnehmung des Beginns des Zweiten Weltkriegs aus dieser doppelten Blickrichtung einer Engländerin in Bukarest gelten kann. Das Besondere dieses Romans stellen die außergewöhnliche Situation der jungen Frau angesichts ihrer wachsenden Skepsis und emotionalen Unsicherheit dar, die überlagert und zugleich stimuliert wird durch eine Atmosphäre der politischen Krise, die sich sehr direkt auch auf das Ehepaar und die englische Community in Bukarest auswirkt. Eine subtile Gegenbewegung zu dieser vorherrschenden Problematik bildet die Konfrontation mit und die Neugier auf das Fremde der rumänischen Kultur am Vorabend des Zweiten Weltkriegs, der Harriet widersprüchlich und nicht ohne eine Reihe von Vorurteilen und Fragen gegenübersteht. Guy hingegen entpuppt sich als in seinem Element, wenn er in Kontakt mit englischen und rumänischen Freunden aktiv und kommunikativ sein kann. Der politisch interessierte Lektor diskutiert begeistert und engagiert die aktuellen Entwicklungen, wie dies auch eine Clique von englischen Journalisten tut, die in der Englischen Bar im Athenée Palace zusammenkommen. Harriet gehört allmählich zu jener Clique Guys, von deren unterschiedlichen Charakteren Manning virtuos für ihre Erzählung profitiert. Mit dazu gehört der hinreißend in seiner Dekadenz und Wehleidigkeit geschilderte verarmte Adelige Jakimov, der in einem Mantel, den sein Vater noch vom letzten Zaren erhielt, schnorrend in den Bars und Restaurants oder bei seinen englischen Freunden zu überleben sucht.

 

Die Gegenseite bildet die deutsche Kolonie, von der eine an die reale Spionin Edit von Coler erinnernde Gestalt näher gezeichnet wird, die ansonsten aber nur als undifferenzierte Gefahr während des Vormarschs in Polen und dem Überfall auf Norwegen, Belgien, Luxemburg und Frankreich im Herbst und Winter 1939/1940 durch Harriets Augen wahrgenommen wird. Sehr plastisch und erzählerisch gekonnt inszeniert Manning diese Konkurrenz durch die Einrichtung zweier Propagandbüros an der Calea Victoriei nahe des Hotels, in deren Schaufenster sich die politisch-militärischen Entwicklungen ablesen lassen. Und die Ereignisse hinterlassen ihre Spuren nicht nur in der Politik, sondern auch im Denken und Fühlen von Harriet und Guy es zeichnet den Roman aus, dass er nahe an den Hauptpersonen bleibt und einen verschwenderischen Reichtum in der Ausdruckskraft für persönliche Sichtweisen wie historische Ereignisse gleichermaßen aktiviert. Dadurch erscheint auch, was manchen heute als zeitgenössisches Stereotyp gelten kann, als Teil des Settings einer Person, ihrer ganzen Denkweise unter den gegebenen historischen Umständen. Unverkennbar lebt die Schilderung von Mannings autobiographischem Zugang: Sie selbst hat wie Harriet Pringle jungverheiratet diese Zeit in Bukarest verbracht und floh nach Griechenland und in die Levante.

 

Nach einer nur noch antiquarisch erhältlichen gekürzten Version aus dem Heyne Verlag hat nun der Rowohlt Verlag die sehr begrüßenswerte Initiative ergriffen, die Balkan Trilogie (zu der in Fortsetzung noch die in Ägypten und Palästina handelnde Levante Trilogie gehört beide Trilogien zusammen mit dem Obertitel Fortunes of War) in Neuübersetzung durch Silke Jellinghaus herauszugeben. Die Übersetzung ist modern, aktuell und flüssig zu lesen, so dass dem heutigen Lesepublikum nichts im Wege steht, eine der besten und spannendsten romanhaften Darstellungen des Zweiten Weltkriegs mit dem Schauplatz Rumänien (und später Griechenland) in der vor Jahren auch von der BBC mit Emma Thompson und Kenneth Branagh verfilmten großartigen Trilogie Olivia Mannings zu lesen.

 

 

Olivia Manning: Der größte Reichtum. Roman (The Great Fortune, 1960).[Erster Band der Balkan-Trilogie]

Mit einem Nachwort von Rachel Cusk. Übersetzt von Silke Jellinghaus.

 Rowohlt Verlag Hamburg 2020, 463 Seiten, ISBN 987-3-498-00149-0

 

 

 Geliebte

 

 

Gabriela Adameșteanu

und der zweite Band ihrer

Letitia-Trilogie

 

 

 

 

 

 

Was in Gabrielea Adameșteanus Roman Der gleiche Weg an jedem Tag (Drumul egal al fiecărei zile, 1975; dt. 2013) sich in einem breit angelegten Panorama der rumänischen Gesellschaft der 1950er und '60er Jahre entfaltete – die Entwicklung der Studentin

 

Letitia Branea bis zu ihrer Ehe mit dem Literaturdozenten Petru Arcan – wird in dem zweiten Band Provizorat ebenso breit neu entworfen als eine Reflexion über das Berufs- und Gefühlsleben der in das Leben der Protagonistin involvierten Menschen in den Jahren ihres frühen Arbeitslebens.

Letitia ist nun keine Studentin mehr, sondern arbeitet als Redakteurin im einzigen im stalinistischen Zuckerbäckerstil gebauten Hochhaus von Bukarest, in dem Zeitungen und Verlage untergebracht sind (heute Casa Presei). Zugleich schreibt sie an ihren ersten Veröffentlichungen als Schriftstellerin. Die Ehe mit dem auf der akademischen Karriereleiter nicht recht vorankommenden Dozenten ist schwer angeschlagen, zu Beginn des Romans ist die junge Frau bereits in ein Liebesverhältnis mit ihrem Kollegen Sorin Olaru verwickelt und es sind zahlreiche Rückerinnerungen, die die Entstehung dieses "Provisoriums der Liebe" aufdecken. Eng an der Gefühls- und Erlebniswelt der Hauptfigur entlang gibt die Erzählinstanz des Romans Aufschlüsse über deren Gefühle und Gedanken, um nicht nur die enge Weltperspektive dieser jungen Frau zu beschreiben, sondern ebenso ausführlich und intensiv ihre Reflexionen mit den Besonderheiten der Ceaușescu-Jahre und den historischen Verflechtungen der rumänischen Gesellschaft bis zurück in den Zweiten Weltkrieg hinein zu verbinden. Während der erste Band in der Ich-Form erzählt wurde, nimmt hier die Erzählerinstanz eine interessante Nähe und wechselnde Distanz zu den Handlungsfiguren ein. Somit bietet der Roman auch in der ästhetischen Behandlung der Geschichte Letitias Neuerungen und Fortführungen des vorhergehenden Bandes. Die Hauptfigur bleibt erkennbar, aber zugleich gibt es Veränderungen zu beobachten. Im Vordergrund steht das Verhältnis zu Sorin, das weitgehend auf das Begehren und kurze Treffen in der Wohnung eines Freundes von Sorin reduziert ist. Der Roman schreibt auf dieser Ebene die Frage aus, was diese Liebe eigentlich für Letitia bedeutet und kommt zu der nicht überraschenden Konsequenz, dass sie zunehmend diese Treffen mit Sorin in Frage stellt.

Der Autorin gelingt eine die Oberfläche durchdringende und mit vielen Detailbeobachtungen gespickte Darstellung der Physiognomie dieses komplexen Verhältnisses. Noch faszinierender ist, wie Adameșteanu die psychologische Entwicklung Letititas nicht als einziges Thema der Erzählung profiliert, sondern wie natürlich aus dieser nahe an der Hauptperson angelegten Perspektive zugleich die gesellschaftliche Komplexität und Dynamik im Zusammenhang von Parteidiktatur und ihrer Entstehung zum Gegenstand des die Perspektive ausweitenden Panoramas macht. So lässt sich der Roman auch wie ein eindringliches Geschichtsbuch als Bild einer bestimmten Schicht von Intellektuellen in den 1970er Jahren lesen, deren Denkweisen neben der Ausrichtung an den Parteidoktrinen vor allem aber von Egoismen, Karriereüberlegungen, den Reisen nach China oder Deutschland und familiären Dispositionen bestimmt sind. Wäre dies sonst als mögliche Kritik an der Ästhetik des Romans zu verstehen, so ist es hier als eine besondere Leistung hervorzuheben. Gabriela Adameșteanu schreibt detailreich und überzeugend die historische Epopöee einer Gesellschaft als Roman einer Lebensetappe im Liebesleben einer jungen Frau.

 

Nach Georg Aeschts Übersetzung des ersten ist auch die etwas gekürzte des zweiten Bandes durch die preisgekrönte Übersetzerin Eva Ruth Wemme flüssig, modern und aktuell zu lesen (wenn auch kleinere Versehen stehengeblieben sind, etwa die Bezeichnung des Hotels Römischer Kaiser in Sibiu als Rumänischer Kaiser).

Der dritte Band der Trilogie trägt den Titel Fontana di Trevi (2018) und behandelt Letitias späte Jahre. Es bleibt zu hoffen, dass auch dieser bald einen deutschsprachigen Verlag finden und mit Abschluss der gesamten Trilogie eine der reichsten und eindringlichsten Darstellungen der rumänischen Nachkriegsgesellschaft vollständig in deutscher Übersetzung präsentieren wird.

 

 

Gabriela Adameșteanu: Das Provisorium der Liebe (Provizorat). Roman. Aus dem Rumänischen von Eva Ruth Wemme. Aufbau Verlag Berlin 2021, 480 Seiten, ISBN 978-3-351-03824-3

Traian Pop

erhielt

Andreas Gryphius-Preis 2020

 

 

 

 

Mit dem Gryphius-Preis, benannt nach dem schlesischen Barock-Dichter – ein vielsprachiger Poeta doctus – wurden so bedeutende Dichter wie Reiner Kunze, Rose Ausländer, Siegfried Lenz, Andrzej Szczypiorski oder Jiri Grusa ausgezeichnet.

 

Der Dichter und Verleger Traian Pop kommt aus dem Ovid-Land Rumänien, die weiche Harfe am Schwarzen Meer.

 

Sein in Ludwigsburg beheimateter Pop-Verlag gibt seit 2003 Büchern zu Ostmitteleuropa ein brillantes Forum; auch erscheinen zwei Literaturzeitschriften vierteljährlich in seinem Verlag, "Matrix" und "Bawülon". In über 500 Verlags-Titeln veröffentlichten im Pop-Verlag über 2000 Autoren.

 

Traian Pop arbeitet aus dem Geist von Gryphius und Ovid in der Erkenntnis, dass die Republik der Sätze die Literatur ausmacht. So sah es auch der große Düsseldorfer Heinrich Heine, der im transitorischen Heimatland der Dichtung sein unverlierbares Obdach erkannte

 

Auch Rumänien kann mit dem imponierenden Werk des Schriftstellers und Verlegers Traian Pop entdeckt werden. Er schlägt eine Brücke von Glogau und Breslau nach Temeswar/Timişoara, die EU-Kulturhauptstadt des Jahres 2023, und nach Bukarest/Bucureşti.

 

Die Laudatio auf Traian Pop Traian hielt der in Siebenbürgen geborene Literat und Journalist Georg Aescht (Kulturportal West-Ost und Kulturpolitische Korrespondenz, Stiftg. Dt. Kultur im östlichen Europa). Aescht verfasste zahlreiche literaturkritische Beiträge und trat im deutschen Sprachraum als Übersetzer von Norman Manea, Gellu Naum, Mihail Sebastian, Liviu Rebreanu und anderen bedeutenden rumänischen AutorInnen hervor.

 

(Mitteilung des Gerhart-Hauptmann-Hauses Düsseldorf)

 


Rilkes Briefe an einen jungen Dichter aus Temeswar

 

Mit den Gegenbriefen

 

 

 

 

 

 

"Das blau gesiegelte Schreiben zeigte den Poststempel von Paris, wog schwer in der Hand und wies auf dem Umschlag dieselben klaren, schönen und sicheren Züge, in denen der Text von der ersten Zeile bis zur letzten hingesetzt war. Damit hob mein regelmäßiger Briefwechsel mit Rainer Maria Rilke

 an, der bis 1908 währte". So schilderte 1929 im Vorwort zu seiner Ausgabe von Rilkes 10 Antwortbriefen der Temeswarer Schriftsteller und Publizist Franz Xaver Kappus den Beginn seines Briefaustauschs mit dem Lyriker aus Prag, der zufällig die gleiche Militärschule in Wiener-Neustadt einige Jahre vor Kappus frequentiert hatte. Der junge Temeswarer hatte 1902 als Begleitung zu einer Reihe von eigenen Gedichten ein Schreiben an Rilke hinzugefügt und hoffte auf ein Urteil (und Förderung). Die 10 Antworten Rilkes zögerten dieses Urteil jedoch hinaus und gerieten durch Kappus' Publikation 1929 in der Insel-Bücherei (Nr. 409; heute in 58. Auflage), die 1912 mit Rilkes Die Weise von Liebe und Tod gestartet worden war, zu einer enorm folgenreichen poetologischen und generell ästhetischen Reflexion. Das Insistieren auf Einsamkeit und Autonomie des Künstlers jenseits des 'Betriebs' der Zeitungen und Kulturinstitutionen sprach Generationen von Kreativen an: "Lesen Sie möglichst wenig ästhetisch-kritische Dinge [...] Kunst-Werke sind von einer unendlichen Einsamkeit und mit nichts so wenig erreichbar als mit Kritik. [...] Künstler sein heißt: nicht rechnen und zählen, reifen wie der Baum [...] Ich lerne es täglich, lerne es unter Schmerzen, denen ich dankbar bin: Geduld ist alles!" (22/23)

In seinem sehr informativen Nachwort skizziert der Herausgeber Erich Unglaub, Präsident der Internationalen Rilke-Gesellschaft, sehr präzise, wie durch diese Publikation von Kappus das immense Briefwerk Rilkes begann, einen eigenen Status als literarische und biographische Manifestation zu erringen. Die 10 Briefe stellen einen "anhaltenden literarischen Welterfolg" (133) dar und wirkten auf Künstler*innen von Döblin bis zu Hollywood-Akteuren wie Jane Fonda, Dennis Hopper, Marilyn Monroe oder die Pop-Sängerin Lady Gaga (die sich einen Briefauszug auf den Oberarm tätowieren ließ). Hatte Kappus in einem Bescheidenheitsgestus seine eigenen Briefe in die Sammlung nicht aufgenommen ("Allein wichtig sind die zehn Briefe, die hier folgen, wichtig für die Erkenntnis der Welt, in der Rainer Maria Rilke gelebt und geschaffen hat, und wichtig auch für viele Wachsende und Werdende von heute und morgen."), so ediert Unglaub zum ersten Mal vollständig den erhaltenen Briefwechsel inklusive Kappus' Schreiben. Es so entsteht ein stärkerer biographisch-historisch akzentuiertes Bild, das – durch Anmerkungen des Herausgebers präzisiert – auch den Banater Schrifsteller Kappus profiliert. Die Edition stellt auch klar, dass sich der Dichter und sein Bewunderer aus dem Banat mindestens einmal gesprochen haben, wie Kappus selbst in einem Zeitungsartikel 1955 beschrieb. Die erfreuliche Edition bekräftigt die Bedeutung eines in der Literaturgeschichte einzigartig erfolgreichen Epistolariums.

 

(s. auch zu William Totoks Edition eines Romans von Kappus, hier unter der Rubrik Literatur [downscroll]).

 

 

Rainer Maria Rilke: Briefe an einen jungen Dichter. Mit den Briefen von Franz Xaver Kappus. Herausgegeben von Erich Unglaub. Wallstein Verlag, Göttingen 2019, 147 Seiten, ISBN 978-3-8353-3425-0

 


Historische

Deportation

 

in einer

Graphic Novel

 

 

 

 

 

 

 

Es sind großflächige, grob gestrichene, meist düstere Bilder, die das Schicksal einer Familie entwerfen: Opa Vasja - so erzählt es seine jüngere Schwester Ljuba im nordsibirischen Chanty-Mansijsk -

 

wurde mit seinen Eltern und Geschwistern aus dem rumänischen Aristovka in der Nordbukowina am Ende des "Russenjahrs" im Juni 1941 von den Sowjets nach Sibirien deportiert. Vorwurf: Sympathie für die Eiserne Garde. Über Czernowitz, Kiew, Tobolsk ging der wochenlange, unabsehbare Weg im Vieh- oder Güterwaggon bis zu den menschenleeren Flusslandschaften in Nordsibirien und im Boot dann weiter bis in das Dorf Antipajuta - für alle eine Konfrontation mit dem Sterben, mit Hunger, Durst, Unmenschlichkeit. Nichts erwartet die Überlebenden, sie müssen die strengen Winter in Hütten aushalten, zurückgeworfen auf primitivste Techniken des Überlebens, die erst im Laufe von Jahren in eine neue "Normalität" mit Schulbesuch, Haus, Arbeit übergehen. Vasja, als ältester Sohn, arbeitet bald als Fischer. Vom Ende des Krieges hören die Familien erst 6 Monate nach dem 8. Mai und können in eine kleine Stadt mit Hafen umziehen. Vasjas Versuch der Rückkehr in die Bukowina nach Stalins Tod aber scheitert und er kehrt in die sibirische Hafenstadt Nowy Port zurück.

 

Anna Rakhmanko, Vasjas Enkelin, und Mikkel Sommer, Zeichner aus Dänemark, haben diese Geschichte in Text und Bild übersetzt und mit Fotos  zu einer fast schon dokumentarischen Graphic Novel ergänzt. Eindringlich ist die kindliche Perspektive von Ljuba eingefangen in die Sprache der Erzählerin und die Bilder des Zeichners. Der Band vermittelt so einen ersten Blick auf einen weitgehend unbekannt gebliebenen Abschnitt der Geschichte der Bukowina mit ihren Verwerfungen im 20. Jahrhundert.

 

 

Anna Rakhmanko, Mikkel Sommer: Vasja, dein Opa. Rotopol, Kassel 2021, o. Pag. [100 S.], ISBN 978-3-96451-022-8

 

Der Sommer,

der wirklich anders war

 

 

 

Tatiana Țîbuleacs herausragender

Roman einer unerwarteten

Mutter-Sohn-Geschichte

 

 

 

 

Diese Geschichte gräbt sich tief ins Gedächtnis: Sie beginnt mit einem aggressiven Teenager in England, der seine Mutter hasst, den Vater, der eigentlich alles hasst – bis auf seine Freunde Jim und Kalo, die wie er auf diese Sonderschule gehen. Wegen Aggressionsschüben, die er an Türen, Menschen, Mauern auslässt, muss Aleksy Medikamente nehmen, auch ein Joint hilft ihm hin

 

 und wieder. Er bezeichnet sich selbst als "verrückt" und spiegelt damit nur, was seine Umgebung über ihn offen oder hinter vorgehaltener Hand spricht.

Wir erfahren, dass dieser Hass pathologisch ist, aber dennoch konkrete Ursachen hat: die Trennung der aus Polen eingewanderten Eltern und den Tod der über alles geliebten kleinen Schwester Mika. "Meine Krankheit hatte einen aus sechzehn Buchstaben bestehenden Namen. Jims Krankheit umfasste nur zehn, und Kalo hatte nicht einmal eine Krankheit, sondern nur so eine Art posttraumatischr Störung. [...] Die einen Spezialisten – ich habe stets geglaubt, dieses Wort stehe eher den Installateuren als den Ärzten zu – meinen, ich sei nach und durch Mikas Tod gewalttätig geworden. Andere wiederum sind überzeugt, es komme von Mutter her, die sich nach Mikas Beerdigung im Gästezimmer einschloss und sieben Monate lang mit niemandem mehr sprach." 26/27

Der aus der Ich-Perspektive des Jugendlichen erzählte Roman ist eine lange Rückblende, die mit dem letzten Schultag beginnt und in wenigen Sätzen deutlich macht, dass für Aleksy zwar die Aussicht auf eine Reise nach Amsterdam mit seinen Feunden besteht, um endlich ausreichend Drogen, Fun und zum ersten Mal auch Frauen zu haben. Doch stört die verhasste Mutter am Schulzaun wartend diese Planung, weil sie ihn abholt und ihm ein unschlagbares Angebot macht: Er solle sie auf eine Fahrt nach Frankreich begleiten und erhalte hinterher ein Auto. Und so beginnt etwas völlig Unvorhergesehenes. In der Vorschau verbietet sich jede weitere Darstellung der Geschehnisse, denn sie würde viel von dem besonderen Reiz der mitunter nur in Nebensätzen versteckten grundstürzenden Veränderungen im Leben des Jugendlichen mindern.

Țîbuleacs Schreibweise hält zahlreiche Überraschungen sowohl sprachlicher als auch erzählerischer Art bereit. Ungewöhnliche, aber immer passende Vergleiche und Metaphern lassen das Auftreten des jugendlichen Aggressors abgeklärter und distanzierter erscheinener erzählt die Geschichte zehn Jahre nach dem besagten Sommer. Aber ebenso auf der Ebene der Story halten die Kapitel unerwartete Wendungen und Neuigkeiten bereit, deren Understatement die Spannung und Differenziertheit des Romans enorm erhöhen. Ernest Wichners Übersetzung überträgt den rumänischen Text überzeugend in eine geschlossene deutsche Form, so dass dieses außergewöhnlich überzeugende Debut der aus der Republik Moldau kommenden, jetzt in Paris lebenden Autorin auch für deutschsprachige LeserInnen zu dem Ereignis werden kann, das es ist: das Buch des Sommers!

 

 

Tatiana Țîbuleac: Der Sommer, als Mutter grüne Augen hatte (Vara în care mama a avut ochii verzi). Roman. Aus dem Rumänischen von Ernest Wichner.

 

Schöffling & Co. Verlag Frankfurt 2021, 190 Seiten, ISBN 978-3-89561-233-6


 

La Mulți Ani!

 

Norman Manea 85 Jahre alt

 

 

 

 Foto: Cristian Gafitescu

 

 

Der rumänische Schriftsteller Norman Manea feierte seinen 85. Geburtstag. Am 19.Juli 1936 in Burdujeni bei Suceava in der rumänischen Moldau geboren erarbeitete sich der gelernte Ingenieur vor der Wende von 1989 u.a. mit seinen Büchern Noaptea pe latura lunga (1969), Plicul negru (1986; Der schwarze Briefumschlag), Octombrie, ora opt (1981; Roboterbiographie) großes Ansehen in der literarischen Szene Rumäniens.  Nach intensiven Auseinandersetzungen mit der staatlichen Zensur um den Roman Plicul negru, die in dem Band Über Clowns beschrieben werden, verließ Manea 1986 mit einem Berlin-Stipendium des DAAD seine Heimat und emigrierte im Jahr danach in die USA, wo er bis heute in New York lebt und am Bard College als writer-in-residence unterrichtet.

Seine in Octombrie, ora opt publizierten Erzählungen thematisieren auf ungewöhnliche Weise des Autors Erlebnisse als von den Antonescu-Behörden nach Transnistrien deportiertes Kind, das sich nach der Rückkehr in der scheinbaren Normalität des Alltags zurechtfinden muss. Manea arbeitete lange als Hydrogeologe, bevor er sich für die Existenz eines Autors entschied. Mit dem Wechsel in die USA schrieb sich in sein Werk das existenzielle Thema des Exils und Schreiben in einem fremden Sprachraum ein, dem Manea in den vergangenen Jahren vielfach diskutierte Facetten abgewonnen hat (Wir sind alle im Exil. Essays). Trotz seiner Exilierung betrachtet sich Manea als rumänischer Autor, der nur in dieser Sprache publiziert. Zentrales Werk der Auseinandersetzung mit seiner eigenen Biographie aber auch der Diktatur und dem Holocaust mit ihren Folgen bis in die  Gegenwart wurde die epische Reflexion Întoarcerea huliganului (2003; Die Rückkehr des Hooligan), die in zahlreiche Sprachen übersetzt weltweite Beachtung fand. In Rumänien erregte sein 1991 publizierter kritischer Essay Felix Culpa: Erinnerung und Schweigen bei Mircea Eliade (Über Clowns) besonderes Aufsehen, da er auf das Schweigen Eliades über seine legionär-faschistische Vergangenheit hinwies.

Mehrfach für den Nobelpreis ins Gespräch gebracht wurde vielfach Manea ausgezeichnet, u.a. mit dem Nelly-Sachs-Preis, dem Preis Feria Internacional del Libro de Guadalajara für romanische Sprachen, dem Premio Nonino, dem Prix Médici Étranger, dem MacArthur-Preis und vom rumänischen Präsidenten Klaus Johannis mit dem nationalen Verdienstorden "Stern Rumäniens".

In einem Artikel in der Zeitschrift Observator Cultural, die mehrere Beiträge anlässlich des Geburtstages brachte, schreibt Maneas rumänischer Verleger Silviu Lupescu (POLIROM): "Ich bewundere seinen durchdringenden analytischen Geist, seine zögernde Sprache, den feinen Humor, seine kreative Ader, die reflektierten und profunden Spiralen seiner Essays, aber auch den unnachgiebigen Geist, der allergisch war gegen jede Manifestation der Ideologien, die die Tragik des vergangenen Jahrhunderts ausmachten."

 

 

Auswahlbibliographie der deutschen Übersetzungen:

Wir sind alle im Exil. Essays. Hanser Verlag München 2015 (mehrere ÜbersetzerInnen)

Über Clowns. Essays. Hanser Verlag München 1992. Übers.: Paul Schuster

Der schwarze Briefumschlag. Roman. Hanser Verlag München 1995. Übers.: Paul Schuster

Roboterbiographie und andere Erzählungen. Steidl Verlag Göttingen 1987 (mehrere ÜbersetzerInnen)

Die Höhle. Roman. Hanser Verlag München 2009. Übers.: Georg Aescht

Die Rückkehr des Hooligan. Ein Selbstporträt. Hanser Verlag München 2004. Übers.: Georg Aescht



Wie wir wurden, was wir zu sein scheinen

 

 

Marina Frenks berührende Mehrgenerationengeschichte von Moldau bis Berlin

 

 

 

Zu Beginn dieses Romans geht die fünfjährige Kira Liberman verloren – nur ganz kurz am Strand am Schwarzen Meer und eigentlich eher sich selbst als der Welt, aber dies genügt ihr für die Einsicht, dass ihr Leben davon geprägt sein könnte. Wenig später sitzt sie im Lada der Eltern, die sich 1993 aus der neuen Republik Moldau wenig hoffnungsvoll auf den Weg nach Deutschland machen – Migranten aus der Post-Sowjetunion mit russischer Sprache, die im Chișinău gewordenen Kishinjow keine Zukunft mehr sehen. In "Berlin, Deutschland, jetzt" hat Kira dann selbst einen 5-jährigen Sohn, lebt etwas desorientiert dahin "mit meinen europäischen Durchschnittsproblemen" als Malerin oder genauer gesagt als Zeichenlehrerin mit eigenen künstlerischen Ambitionen, denen sie auf dem Dachboden des Altbaus nachgeht. Sie lernte in "Köln, Deutschland 2005" eine bald zur engsten Freundin gewordene Studentin kennen, die ebenfalls in der Gegenwart Mutter eines Kindes ist. Eine weitere Zeitebene stellt der Urlaub auf "Hiddensee, Deutschland, 2015" während der Schwangerschaft dar mit all den Zweifeln und Grübeleien, die auch ihren Ehemann Marc aus einem Dorf in Norddeutschland betreffen. Aber eng verbunden mit diesen Reflexionen über die Unsicherheiten in der jungen Familie sind die über die eigene Herkunft. Die Ortsangaben "Capresti, Bessarabien, 1941" oder "Saporischschja, Ukraine, 1941" verweisen auf die Deporta-tion der Groß- und Urgroßeltern, "Chișinău, Moldawien, 1948" ihr Überleben und die Familiengründung der Libermans, deren Fortsetzung auch in "Haifa, Israel, 2008" stattfindet, wo Kira ihre Großeltern besucht. Diese Zeit- und Ortswechsel lassen allmählich ein größeres Bild jener Sorgen und Gedanken entstehen, die die von Panikattacken, Trauer und Lustlosigkeit heimgesuchte Kira fortwährend spinnt. Vor dem Hintergrund von ertrinkenden Flüchtlingen im Meer, digitaler Dauerberieselung durch allgegenwärtige Bildschirme, der Oberflächlichkeit des Kunstbetriebs ("New York, USA, 2012") entwickelt Marina Frenk ein ebenso anrührendes wie auch nachdenkliches Portrait von "Deutschland, jetzt", das ohne die Erinnerung an Chișinău und Haifa nicht denkbar ist. Ein Nachdenken und Grübeln über den Sinn der Geschichte, das zugleich zeitübergreifend und raumerweiternd die Gegenwart deutet. "Schwerer werden, leichter sein" zitiert die Autorin als Motto passend Paul Celan und dankt am Schluss ihrer "verstreuten Familie und ihren Geschichten", deren Verwandlung in einen überzeugenden Roman das gelungene Debut der Musikerin, Schauspielerin und Theaterautorin Marina Frenk als Romanschriftstellerin hervorgebracht hat.

 

 

Marina Frenk. ewig her und gar nicht wahr. Roman.

Verlag Klaus Wagenbach Berlin 2020, 235 Seiten, ISBN 978-3-8031-3319-9

 


 

 

 

Post-Avantgarde aus dem Banater Bergland

 

 

 

 

Kristiane Kondrats Roman

Abstufung dreier Nuancen von Grau

 

 

 

 

 

Es herrscht eine Atmosphäre wie in den Romanen von Gisela Elsner und Herta Müller, Kafka und Uwe Johnson: Stimmungen, die durch Diskrepanzen der Beschreibung entstehen, Alltagsbeobachtungen in ihren absurden Details, Menschen, deren Verhalten dem von Karikaturen ähnelt. Der Roman von Kristiane Kondrat (Aloisia Bohn, geb. Fabry) beginnt mit Variationen von Weiß, erinnert und beobachtet von einer in einem Krankenhaus liegenden Protagonistin. Sie schildert in der Ich-Form das eigenmächtige Verlassen dieses Spitals und befindet sich dann in einer Stadt, von der die Leser*innen nicht sicher sein können, ob sie real existiert oder auch nur erinnert wird. Es kommen noch andere Städte ins Spiel, wie "Turmstadt", mit ihren Plätzen und Menschen, es werden Zug-, Bus- und Tramfahrten unternommen, um ein vermeintliches Ziel zu erreichen, etwas zu erledigen, das schon längst hätte getan werden müssen. Das Schillern der Groteske streift die Erzählung, von der man ahnt, dass sie längst vergangene Stimmungen und Wahrnehmungen in eine schwer greifbare Gegenwart transponiert. Da ist auch von einer Diktatur mit ihrer konstruierten Scheinwelt die Rede, vom Weggehenmüssen aus alten Städten und der Ankunft in neuen modernen Städten weit weg. Fremdheit in der Gesellschaft, hartnäckige Befragung der scheinbaren Selbstverständlichkeiten, eine Krise der Gewissheiten angesichts der Zumutungen der Gegenwart – Kristiane Kondrat gestaltet virtuos aus dem Arsenal der modernen Stillagen zentrale Themen der Moderne, um einen Roman zu schreiben, der sein Gemachtsein aus Wörtern, Stimmungen, Verwechslungen, Erinnerungen deutlich in einem neoavantgardistischen Schreibstil der 1950/1960er Jahre ausstellt. Sie trifft dabei einen selten gewordenen Ton der sprachlichen Suche nach genauem Ausdruck von Gedanken, Erinnerungen und Gefühlen. Wie die Literaturwissenschaftlerin Christina Rossi in ihrem knappen informativen Nachwort erläutert, ist der Roman aus mehreren Manuskripten entstanden, von denen einige von der Autorin aus Rumänien herausgeschmuggelt wurden. Der Verlag ist zu beglückwünschen, dass er diesen außergewöhnlichen Roman wieder aufgelegt hat.

 

 

Kristiane Kondrat: Abstufung dreier Nuancen von Grau. Roman.

 

danube books Verlag Ulm 2019 [zuerst Quell Verlag Stuttgart 1997], 156 Seiten, ISBN 978-3-946046-14-1

 


POLIROM

 

- Ein Verlag nach 25 Jahren

 

 

 

 

 

 

 

Foto: www.kultro.de

 

 

Im Jahr 1995 erschien in der ostrumänischen Metropole Iași das Buch Pentru Europa. Integrarea României. Aspecte ideologice și culturale. Autor war der aus Iași gebürtige und in Cluj lebende eigensinnige Philologe Adrian Marino. Es war das erste Buch der Editura Polirom – 25 Jahre später hat dieser neben dem Bukarester Humanitas Verlag bedeutendste Publikumsverlag Rumäniens mehr als 6000 Bücher verlegt: Übersetzungen, Literatur, Fachbücher, Lexika, Werkausgaben, wissenschaftliche Abhandlungen, Kinderbücher, Weltliteratur, etc. Was in den chaotischen Jahren nach dem Dezember 1989 viele versuchten, aber kaum jemand erreichte, hat Silviu Lupescu zu einem intellektuellen und ökonomischen Erfolg geführt. Lupescu, ausgebildeter Elektroingenieur, kommt aus der Dissidentenszene von Iași, die in den 1980er Jahren insbesondere durch die Universität und ihre intellektuellen Zirkel kleine Freiräume bot. Bereits als Student schrieb der Ingenieurstudent für die Opinia Studenească – eine Studentenzeitschrift mit landesweiter Resonanz, in der er bis zum stellvertretenden Chefredakteur aufstieg. Danach arbeitete er als Ingenieur in der Firma TEHNOTON, die einen rumänischen Kassettenrecorder herstellte und hinterließ den Ruf eines präzisen Organisators und hartnäckigen Arbeiters.

In einer Sonderausgabe der Hauszeitschrift Suplimentul de Cultură kommen im November 2020 (Nr. 712) zahlreiche Stimmen zu Wort, die anlässlich des Jubiläums die Geschichte des Verlages aufrufen. Der frühe Wegbegleiter Liviu Antonesei, einer der bedeutendsten Essayisten Rumäniens, erinnert sich an stundenlange Buchvorstellungen  in den 1990er Jahren, als die lansarea eines gerade neu erschienenen Buches große Säle füllte, und ein zahlreiches Publikum intensiv über die Inhalte diskutierte. Antoneseis Tagebuch Jurnal din anii ciumei. Încercări de sociologie spontane (Tagebuch der Pestjahre. Versuche in spontaner Soziologie) über die Jahre 1987-89 war unter den ersten 10 Büchern des Verlags. Ebenfalls in die persönliche Reflexion schlägt der Band von Vladimir Tismăneanu Bal mascat. Dialoguri cu Mircea Mihăeș (Maskenball. Dialoge mit M.M). Der in den USA lehrende Politologe Tismăneanu sollte später Präsident der Kommission zur Verurteilung des Kommunismus werden. Typisch für das Verlagsprofil von Polirom sind unter diesen ersten 10 Büchern auch Übersetzungen theoretischer Texte wie solche von Henri Bergson und Emile Durkheim zu finden. Ebenso ein reißerisch wirkender Titel eines russischen Spions über den Beginn des Zweiten Weltkriegs, aber auch der Druck einer zweisprachigen Bibelausgabe. Was den Verlag aus der großen Zahl von Neugründungen heraushob, war Design und Layout der in Glanzbroschur gebundenen Bücher, die modern und auf Wiedererkennbarkeit angelegt sind. Mit seinen zentral auf dem Buchcover plazierten Abbildungen und der klaren Struktur der Schriftanordnung verabschiedete sich das Layout von der z.T. phantastischen und traditionellen Buchgestaltung der Mangelwirtschaft vor 1989. Die ersten POLIROM-Bücher waren üblicherweise kostengünstige Broschuren, deren große Satzspiegel mit wenig Rand und eng gesetztem Text halfen, Papier zu sparen.

Einen bedeutenden Schub für das literarische Profil erhielt der Verlag durch die Einrichtung der Reihe Ego, in der junge zeitgenössische AutorInnen ihre Bücher veröffentlichen können. Der mittlerweile hochgeschätzte Autor Lucian Dan Teodorovici von der früheren AutorInnengruppe Club 8 aus Iași lässt in seinem Beitrag in Suplimentul de cultura erkennen, wie es zur Entstehung dieser Reihe unter seiner Leitung kam. Club 8 hatte weitreichende Folgen in der rumänischen Literaturlandschaft, da einzelne Mitglieder das Iașier Literaturmuseum der Klassik leiten, bei POLIROM aktiv sind, das Literaturfestival FILIT gestalten, Filmszenarien schreiben u.a.m. Solche Synergien hat POLIROM befördert und damit der jungen rumänischen Literatur einen sichtbaren Schub gegeben. Zu den ersten Aktiven dieser Generation gehört auch Radu Pavel Gheo, der beim Verlag mit Übersetzungen aus dem Englischen begann, bevor sein großer Roman Noapte bună, copii! seinen literarischen Ruhm begründete. Aus dem Club 8 resultiert auch eine Besonderheit: Mit der Übersetzung durch Michael Astner von Mariana Codruțs Roman Das Haus mit den gelben Vorhängen hat POLIROM auch ein deutschsprachiges Buch verlegt.

Norman Manea seit langem Autor des Verlags – wünscht aus New York ebenso wie der Religionshistoriker Moshe Idel aus Jerusalem noch viele weitere produktive Jahre. Dafür werden nicht zuletzt die zahlreichen Reihen wie Ego, 10+, Historia, Fiction LTD, Biblioteca POLIROM u.a. sorgen, die POLIROM als einen der produktivsten Verlage und Kulturmultiplikatoren Rumäniens erweisen. Illustre HerausgeberInnen wie der Iașier Historiker und spätere Außenminister Mihai Răzvan Ungureanu, die Lyrikerin Denisa Comănescu u.a. bürgen für die Qualität der Auswahl.

Gabriela Adameșteanu schildert im Suplimentul de Cultură offen ihre überraschende, spontane Entscheidung, als sie um 2000 sich vom Journalismus löste und wieder komplett der Literatur widmet, um sich auf einen kurzen Brief von Lupescu hin gegen Humanitas und für den jungen Verlag aus Iași  zu entscheiden. "Ich habe, unbewusst, mich für den Ort entschieden, an dem sich durch eine unermüdliche Unterstützung für die Newcomer und ohne jede Diskriminierung die rumänische Literatur regeneriert hat. Ich wählte mit geschlossenen Augen nicht nur einen angesehenen Verlag, mit reichen Auflagen und Reihen, sondern auch eine freundschaftliche Arbeitsgemeinschaft, eine Atmosphäre des kreativen Schaffens." Und sie hebt besonders den Verleger Silviu Lupescu hervor, der "nicht nur nach meiner Meinung jene Kulturpersönlichkeit nach 1989 ist, die den rumänischen Schriftsteller wieder auf die Verlagslandkarte gesetzt hat."


 Über die Zeiten

 

Ausgewählte Presseartikel des Schweizer Journalisten Andreas Saurer

 

Rumänien ist in den deutschsprachigen Presselandschaften unterschiedlich, aber meist nur sehr dünn vertreten. Es müssen schon außergewöhnliche Ereignisse geschehen, damit in den Zeitungen und Zeitschriften Platz für einen größeren Artikel freigehalten wird. In Österreich liegen die Dinge besser, was die geographische Nähe und die damit verbundene größere Präsenz der österreichischen Wirtschaft im Karpatenland reflektiert. In der BRD geht die reiche Presselandschaft eher nur punktuell auf Rumänien ein, während die Schweiz in der Person des Journalisten und Schriftstellers Andreas Saurer über Jahre hinweg eine kompetente und nachhaltig berichtende Instanz aufwies. Für die Berner Zeitung als Auslandsredakteur arbeitend bereiste Saurer bereits während der kommunistischen Diktatur Rumänien und lieferte anschauliche Einblicke in die Realität der "epoca de aur" (ironisch: Goldene Epoche) unter Nicolae Ceaușescu. Die Auswahl seiner "Reportagen und Essays aus 33 Jahren" lässt mit großem Gewinn kompetente und unterschiedlich perspektivierte Ansichten von Rumänien vor und nach der Revolution von 1989 nachlesen. So können wir jetzt verfolgen, was die LeserInnen der WochenZeitung am 1. Dezember 1989 – also wenige Wochen vor der "Revolution" – erfuhren. Saurer klärt über die als "Systematisierung" bezeichneten Vorhaben der Dorfzerstörungen ebenso auf wie über die unentgeltliche Arbeit, die jeder Rumäne in seiner Freizeit leisten musste. Und wer weiß noch etwas von den über 30000 ungarischsprechenden Flüchtlingen, die bereits vor der Revolution aus dem Karpatenstaat nach Ungarn geflohen waren? Oder – noch weiter historisch ausgreifend – von der Botschaftsbesetzung in der schweizerischen Hauptstadt Bern durch Exilrumänen, die in der Eiszeit des Kalten Krieges internationale Wellen schlug und tragische Weiterungen bis nach München und Ostberlin hatte.

 

Die Artikel Saurers setzen Markierungen in der jüngeren Geschichte Rumäniens, an denen sich die wichtigen Entwicklungen verfolgen lassen. Dies ist auch möglich, weil der Schweizer Journalist nachfasste, wieder in die Städte und auf das Land reiste, um nachzufragen, wie sich bestimmte Dinge entwickelt haben. Zu solcher Vertiefung tragen seine Interviews etwa mit Ana Blandiana oder  Andrei Pleșu ebenso bei, wie seine Treffen mit Schriftstellern wie Petre Stoica, Ion Zubașcu und Gheorghe Crăciun.

 

Saurer wirft in seinen Texten ebenso präzise wie eindringliche Schlaglichter – etwa auf das Problem der Securitate und die politische Entwicklung mit ihren spezifischen Merkwürdigkeiten. Aber auch auf die neuen Veränderungen im Land, anschaulich skizziert in einem Text über die Maramuresch und  Neueinwanderer aus Trier, die in Botiza eine Reihe von touristischen Projekten in diesem landschaftlichen Paradies initiiert haben. Besonders interessant sind jene Artikel, die gerade erst "vergangene" Entwicklungen und Hoffnungen in den Blick nehmen, wie den Europagedanken in Rumänien und anderen Staaten der Region. Was schien vor 15 oder 20 Jahren alles möglich! Es stellt den dokumentarischen Wert von solchen gesammelten Artikeln dar, dass sie auch an die jüngst vergangene Zeit erinnern, die von der Gegenwart aus oft am nachdrücklichsten der Vergessenheit anheimfällt.

 

Nicht nur am Ende der in 7 Kapiteln angeordneten Beiträge geht der Blick auch über die Grenzen in die Republik Moldau und die Ukraine. Stellt Saurer die Celan-Stadt Czernowitz (Černivci/Cernăuți) als "begehbares Gedächtnis" vor, so kann ebenso der heutige Lesende durch die Lektüre von Saurers plastischen Darstellungen die rumänische Welt als vielfältiges Textgedächtnis betreten.

 

 

 

Andreas Saurer: Rumänische Helden. Vom Realsozialismus bis zum EU-Vorsitz. Reportagen, Porträts, Interviews, Essays und Analysen aus 33 Jahren. Pop Verlag Ludwigsburg 2019, 196 Seiten, ISBN 978-3-86356-250-2

 

 

Wen die lyrische Seite der rumänischen Reisen von Andreas Saurer interessiert, findet spannende Hinweise in der Nummer 186 der Schweizer Literaturzeitschrift orte ("Rumänische Raritäten") vom Mai 2016.


 

Paul Celan vor 100 Jahren geboren

 

 

 

 

 

Abb.: Paul Celan und Petre Solomon in Bukarest am Bulevard Brătianu

 

 

Am 23. November 1920 wurde in der in Gefolge des Ersten Weltkriegs zu Rumänien gehörenden, früher österreichischen Stadt Cernăuți (Czernowitz) in der Wassilkogasse 5 Paul Antschel (rum. Ancel) geboren, der unter dem Namen Paul Celan zu einem der, wenn nicht sogar zu dem bedeutendsten Lyriker deutscher Sprache in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhundert werden sollte. In die jüdische Familie eines Händlers und Bauingenieurs geboren durchlief Ancel sowohl hebräische, deutsche als auch rumänische Schulen bis zum Abitur an dem Liceul Marele Voievod Mihai (früher Viertes ['Ukrainisches'] Gymnasium). Bereits zur Schulzeit mit dem Antisemitismus der Eisernen Garden und der zunehmenden behördlichen Diskriminierung konfrontiert, entschloss sich der Abiturient, in Frankreich ein Studium der Medizin zu beginnen. Auf dem Weg nach Tours durchfuhr Celan Berlin an jenem 9. November 1938, als gerade das reichsweit von den Nazis inszenierte Pogrom an der jüdischen Bevölkerung stattgefunden hatte. Nach dem ersten Studienjahr kehrte Celan nach Czernowitz zurück und begann wegen des Ausbruchs des Weltkrieges in Czernowitz ein neues Studium, diesmal der Romanistik. Bereits in der Schule hatte sich der künftige Dichter als sehr sprachbegabt erwiesen und erlernte Hebräisch, Rumänisch, Französisch, auch Russisch. Aufgrund des Hitler-Stalin-Pakts fiel die Nordbukowina an die Sowjetunion und im Juni 1940 marschierten sowjetische Truppen in die Stadt ein. Die anfänglichen Sympathien des in rumänischer Zeit gegen den zunehmenden Abbau der demokratischen Rechte und die Diskriminierungen Widerstand leistenden Kreises um Celan wich bald der Einsicht in den Charakter des wenige Freiheiten gewährenden und eine nicht geringe Zahl von Bewohnern deportierenden Sowjetregimes. Immerhin hörte nun die Diskriminierung der Juden auf, jiddische Schulen und Kultureinrichtungen wurden gefördert. Ein Jahr später griffen Nazi-Deutschland und Rumänien als Alliierte die Sowjetunion an und Czernowitz wurde von rumänischen Truppen erobert. Nun folgten sowohl von den Einsatzgruppen der Wehrmacht wie vor allem von den rumänischen Militärs und Behörden die Ghettoisierung, Deportierung und Ermordung von Juden. Celan musste Zwangsarbeit verrichten, seine Familie wurde in das neu geschaffene Ghetto eingewiesen. Im Juni 1942 versteckte sich Celan in der Fabrik eines Rumänen, seine Eltern weigerten sich aber, in den Untergrund zu gehen und wurden an den Bug transportiert, wo der Vater im Herbst 1942 starb, die Mutter im Frühjahr 1943 von den Deutschen ermordet wurde. Dieses Geschehen, von dem Celan im Arbeitslager bei Buzău erfuhr, wird ihn zeitlebens belasten und vielfach seine Dichtung prägen.

1944 kehrten die Sowjets zurück und der Student nahm wieder das Studium auf, diesmal der Anglistik, und schrieb zudem für die ukrainische Lokalzeitung. In dieser Zeit erst machte er die Bekanntschaft der Lyrikerin Rose Ausländer, während zu seinen Schulfreunden die Dichter Immanuel Weißglas und zu seinen Verwandten die in der Deportation ermordete Selma Merbaum-Eisinger gehörten. Im Arbeitslager entstanden eine Reihe von Gedichten, die er sammelte und in ein Typoskript überführte. Sie sind seiner Freundin Ruth Lackner-Kraft gewidmet, die nach Bukarest emigrierte.

Über diese lange unbekanntgebliebene Jugendzeit Celans hat der ebenfalls aus Czernowitz stammende Israel Chalfen ein seinerzeit Aufsehen erregendes Buch geschrieben auf der Basis von Gesprächen mit zahlreichen der JugendfreundInnen Celans, die meist nach Israel emigriert waren.1)

 

Celan folgte mit Verwandten dem Weg in die rumänische Hauptstadt im Frühsommer 1945. Aufgrund seiner Sprachkenntnisse kann er im Herbst eine Stelle als Übersetzer im Verlag Cartea Rusă antreten, wo er mehrere russische Romane ins Rumänische übersetzt. Celan bewegt sich in einem Kreis von Schriftstellerfreunden wie Petre Solomon, Nina Cassian, Ion Caraion oder Ovid Crohmălniceanu. Sie verschafften ihm die Möglichkeit, auch in rumänischen Zeitschriften zu publizieren. So erscheint in Contemporanul am 2. Mai 1947 sein erstes gedrucktes Gedicht auf Rumänisch – Tangoul Morții, übersetzt von Solomon, das später in Wien als Todesfuge erstmals auf Deutsch erscheint. Auch sind einzelne in rumänischer Sprache geschriebene Gedichte und Kurzprosa überliefert. Peripher kommt Celan mit dem aufblühenden Kreis der rumänischen Surrealisten in Kontakt. Durch den seit dem Krieg in Bukarest lebenden Mentor der bukowinischen Dichtung, Alfred Margul-Sperber, kann der junge Debutant briefliche Kontakte nach Westeuropa knüpfen. Seine surrealistische Phase setzt Celan in Wien fort, nachdem er wegen der zunehmenden Beschneidung der Demokratie durch die stalinistischen Kommunisten Rumänien im Dezember 1947 in Richtung Donaustadt verlassen hat. Ausführlicher ist diese Bukarester Zeit von Juni 1945 bis zum Dezember 1947 von seinem Freund Petre Solomon beschrieben worden.2)

Nach dem Fall der Mauer konnten die Jahre vor der Wiener Phase, der Celans Übersiedelung nach Paris 1948 folgen sollte, sehr viel intensiver aus den Quellen in der Ukraine und Rumänien erforscht werden, so dass mittlerweile weitere Darstellungen der rumänischen Jahre des Dichters vorliegen. Nicht zu übersehen ist dabei, dass Celan die Erinnerung an die Bukowina und die Bukarester Freunde bis in seine letzten Tage nicht verließ.

 

 

1) Israel Chalfen: Paul Celan. Eine Biographie seiner Jugend. Frankfurt a.M. 1979.

2) Petre Solomon: Paul Celan. Dimensiunea românească. Bukarest 1987.


Rumänien dystopisch

 

 

Ein Roman von Radu Găvan entwirft eine gewaltvolle Welt der Marginalisierten

 

 

 

 

Wenig zu verlieren hat der junge Literaturdozent nach dem Tod seiner Ehefrau und Mutter ihrer kleinen Tochter. So scheint es ihm jedenfalls: wenig Geld, keine Freunde, winzige Wohnung, schlechte Wohngegend. Einziger Lichtblick bleibt die Tochter Letitia, die er abgöttisch liebt. Aber Radu Găvans Roman inszeniert eine Wende im Leben des Anton, die in das Genre des Pulp Fiction führt: Der Held gerät in Kontakt mit der Welt des lokalen Verbrechens, das über Geld und durch brutale Gewaltanwendung über Macht verfügt. Und genregerecht entfaltet sich eine Story, die fatal enden muss. An Kinofilme erinnernd verbindet der Plot die Handlung mit Wahrnehmungen des städtischen Umfelds in einer namenlosen Vorstadt Bukarests mit Wohnblöcken, versteinert wirkenden Menschen und rumpelnden Straßenbahnen. Găvan arbeitet mit starken Kontrasten, die insbesondere durch rohe Gewaltszenen und die Darstellung der vergötterten Tochter Letitia entstehen.

 

Der Literaturdozent gerät selbst in den Sog der hinter der Alltagswelt stehenden Gewaltstruktur, wenn er wegen der Tochter einen Nachbarn verprügelt. Und der Kontakt mit der Welt der "interlopii" zeigt ihm mehr an Mechanismen der Gewalt und ihrer Entstehung, als im lieb sein könnten. Eine Nebenhandlung führt die Entwicklung eines der Schergen des Unterweltchefs von den Mißhandlungen der Kindheit bis hin zur Gewalt des Gefängnisses als einziger Ausdruck von Dominanz vor. Dem Genre gemäß ergreift Anton die vermeintliche Chance auf das große Geld und ein Glück im Ausland, aber muss dabei natürlich scheitern. Diese Szenen wirken fast traumartig, so dass ihre Realitätshaltigkeit in Frage gestellt werden kann, wie überhaupt der Realismus der Szenen noch keinen Realismus des Romans bedingt. Găvan geht es mehr um Stimmungen, Träume, Gefühle der Hoffnungslosigkeit und des Glücks, die den Roman über seinen Plot transzendieren. Eine bemerkenswerte Stimme in der rumänischen Literatur!

 

 

 

Radu Găvan: Neverland. Roman. Aus dem Rumänischen von Edith Konradt. Pop Verlag Ludwigsburg 2018, 182 Seiten, ISBN 978-3-86356-181-9


Vor 50 Jahren: Paul Celan gestorben

 

Am 1. Mai 1970 wird in Paris die Leiche des Dichters Paul Celan aus der Seine geborgen. Es wird angenommen, dass er in der Nacht vom 19. auf den 20. oder 20. auf den 21. April den Tod  in dem Fluss gesucht hat. Zuvor war der in Czernowitz 1920 geborene Paul Antschel (Ancel) längere Zeit in einer psychiatrischen Klinik behandelt worden, drei Jahre vorher hatte er bereits einen Suizidversuch unternommen.

Celans Herkunft aus der österreichisch geprägten Bukowina, als diese nach dem Ersten Weltkrieg an  Groß-Rumänien gefallen war, hat, nach diesem tragischen Tod und nachdem die Dichtungsweise Celans in der deutschen Literatur als eine einzigartig aktuelle und moderne entdeckt worden war, ein beispielloses Interesse an der deutschsprachigen Kultur dieses kleinen Kronlandes an der Grenze zu Russland und Rumänien freigesetzt. Der Untergang dieser Kultur im von Deutschen und Rumänen verursachten "vergessenen" Holocaust, während dem auch die Eltern Celans ermordet wurden, fand seine einzigartige Sprache in der Auseinandersetzung Celans mit der deutschen Sprache, die auch in der rumänischen Zeit noch die Sprache der jüdischen Bevölkerung der Bukowina geblieben war und in der Celan nach dem Krieg und der Flucht aus Rumänien über Wien nach Paris weiter festhielt. Seine opak erscheinenden Verse brachen jedes semantische Kontinuum auf, um es neu zu verwenden zur Sichtbarmachung der geschehenen Gewalt - aber auch zur lyrischen Evokation von Schönheit, die bis heute Celan zu einem der wenigen von einem großen Lesepublikum rezipierten aktuellen Lyriker hat werden lassen. War es zunächst die in rumänischer Übersetzung erschienene "Todesfuge" (Tangoul morţii), die das Bild des mörderischen Geschehens im Gedicht fasste, so beinhalteten die späteren Lyrikbände Mohn und Gedächtnis (1952), Von Schwelle zu Schwelle (1955), Sprachgitter (1959), Die Niemandsrose (1963) Atemwende (1967), Fadensonnen (1968) mitunter rätselhafte Chiffren der Traumatisierung und des Suchens nach einer "neuen" Sprache.

 

Paris spielte in dieser Biographie eine besondere Rolle. In der Einleitung zu seiner Studie zu Celans Pariser Zeit ruft der Iaşier Germanist Andrei Corbea-Hoişie in gedrängter Folge die wesentlichen Stimmen auf, die Celan in seiner Herkunft und Gebrochenheit beschreiben: von des Dichters eigener Aussage in einem Brief an Max Rychner 1946 "Mein Schicksal ist dieses: deutsche Gedichte schreiben zu müssen" bis zur dekonstruktiven psychoanalytischen Theorie der in Bulgarien geborenen Julia Kristeva von der Verdrängung und Hervorhebung des Jüdischen zwischen Vatergebot und Muttersprache. Der Bewältigung des Traumas gesellt sich der Versuch bei, sich ein "Hier" zu schaffen, das Paris hieß. Hoişies reich dokumentierte Arbeit zum "unbequemen Zuhause" interessiert sich für 3 biographische Schwellen in Frankreich: "das Germanistik-Studium an der Sorbonne, das Bestreben, die französische Staatsbürgerschaft zu erhalten und die Anstellung als Deutsch-Lektor an der Pariser École Normale Supérieure". In Gesprächen mit Serge Moscovici, Virgil Ierunca u.a. aus Rumänien stammenden Freunden und Bekannten und durch akribisch erschlossene Archivquellen erfährt der Autor viel über die Lebenswelt des Flüchtlings, der in einer intellektuell faszinierenden Welt des Nachkriegs sich als deutscher Dichter durchzusetzen bemüht (und dies auch erreicht). Es zeigt sich der Alltag eines jungen Autors jenseits der mittlerweile vielfach thematisierten emotionalen Beziehungen im Umgang mit beruflichen und bürokratischen Prozeduren, die für sein Überleben in der anfangs fremden Umgebung entscheidend sind.

 

Dass Hoişie die theoretischen Probleme des biographischen Zugangs zu Celan ernst nimmt, zeigt seine Diskussion dieser Wende in der Celan-Forschung - bei einem Autor, der immerhin erklärte, "kein Freund der Vergesellschaftung des Innenlebens" zu sein, aber zugleich auch offenbarte, "Ich habe nie eine Zeile geschrieben, die nicht mit meiner Existenz zu tun gehabt hätte." Es sollte u.a. der Celan befreundete und ebenfalls als Flüchtling nach Westen gelangte Philologe Peter Szondi sein, der eine Vermittlung dieser beiden diametralen Positionen versuchte. Abgeschlossen wird der äußerst informative Band durch die Rezension zweier "Ego-Dokumente": Edith Silbermanns Erinnerungen an die gemeinsame Kindheit und Jugend in Czernowitz und Brigitta Eisenreichs Schilderung ihrer Liebesbeziehung zu Celan.

 

Andrei Corbea-Hoisie: Paul Celans "unbequemes Zuhause". Sein erstes Jahrzehnt in Paris. Aachen: Rimbaud 2017 (Celan Studien. Neue Folge 5), 127 S., ISBN 978-3-89086-379-5

 

Bereits um die Jahrtausendwende hatte Hoişie einen Sammelband in einer Zusammenarbeit dreier Verlage aus Rumänien, Deutschland und Frankreich vorgelegt:

 

Andrei Corbea-Hoisie (Hg. / éd.): Paul Celan. Biographie und Interpretation / Biographie et interprétation. Konstanz: Hartung-Gorre, Paris: Éditions Suger, Iaşi: Polirom 2000, 235 Seiten, ISBN (Hartung-Gorre) 3-89649-578-X, 2-912590-15-9 (Éditions Suger), 973-683-537-5 (Polirom)

 


Spiegelungen-Preis für Minimalprosa 2020

 

 

 

Mariana Codruț

Foto: © Cristina Hermeziu

 

Die drei Gewinnerinnen des Spiegelungen-Preises für Minimalprosa „Mikrolithen. Jenseits von Celan“ 2020 stehen fest.

 

Das Institut für deutsche Kultur und Geschichte Südosteuropas an der LMU München (IKGS) schrieb für das Jahr 2020 den Spiegelungen-Preis für Minimalprosa auf Deutsch, Rumänisch und Ukrainisch aus.
Die Resonanz auf die Ausschreibung war groß und vielstimmig. Bis zum Einsendeschluss trafen 289 Texte auf Deutsch, 79 auf Rumänisch und 201 auf Ukrainisch ein.

 

Institutul pentru cultură și istorie germană a Europei de sud-est al Universității Ludwig-Maximilian München (IKGS) a anunțat Premiul Spiegelungen pentru proză scurtă în limbile germană, română și ucraineană pe anul 2020.
Răspunsurile la anunțul nostru au fost multe și variate. Am primit 289 de texte în limba germană, 79 în limba română și 201 în ucraineană.

Наприкінці минулого року Інститут німецької культури та історії Південно-Східної Європи при Мюнхенському університеті імені Людвига-Максиміліана (нім. Institut für deutsche Kultur und Geschichte Südosteuropas, IKGS) оголосив на 2020 рік конкурс на отримання премії німецького видання «Віддзеркалення» за мініпрозу німецькою, румунською та українською мовами.
Конкурс виявився резонансним і багатоголосим: загалом ми отримали 289 текстів німецькою мовою, 79 румунською та 201 українською.

Die Gewinnerinnen des #SPPM2020!  Câștigătoarele la #SPPM2020!  Визначено переможниць #SPPM2020!

 

Natalie Buchholz (München)
Glück, vielleicht | Noroc, poate | Пощастить, можливо
» Biografie und Begründung der Jury


Mariana Codruț (Iași/Jassy)
Noua zi | Der neue Tag | Новий день
» Biografie und Begründung der Jury

 

Halyna Jazenko (Lwiw/Lemberg)
Вхопися, мій Хлопчику! | Halte dich fest, mein Junge! | Ține-te bine, băiete!
» Biografie und Begründung der Jury

 

Auf den Plätzen zwei und drei landeten jeweils Gregor Stefan Heuwangl mit „Der Tschub“ und Katharina Hopp mit „Salzkaramell“ (Deutsch), Irina Georgescu mit „Vest“ („Westen“) und Ștefan Bolea mit „2 minute“ („2 Minuten“) in rumänischer Sprache sowie Maria Mykyzej mit „Musik auf der Treppe“ („Музика на сходах“) und Mykola Iwanow mit „Schiff der Träume“ („А корабель пливе“) auf Ukrainisch.

Die Jury

 

Die Preisverleihung findet am 23. November 2020 im Rahmen der von Meridian Czernowitz und dem Zentrum Gedankendach veranstalteten Celan-Tage in Czernowitz/Чернівці/Cernăuți statt. Die Preisträgerinnen werden Dank der Kooperation mit den ukrainischen Partnern zu diesem besonderen Datum an diesen besonderen Ort eingeladen. Es wird ein Preisgeld von je 1.500 Euro vergeben. Die von drei Fachjurys prämierten Texte werden zudem in die jeweils anderen beiden Sprachen übersetzt und in den Spiegelungen sowie weiteren renommierten Literaturzeitschriften publiziert.


Ceremonia de premiere va avea loc pe data de 23 noiembrie 2020 în cadrul Zilelor Celan, organizate de Meridian și de Zentrum Gedankendach. Suntem încântați să putem invita câștigătorii în acest loc special într-o zi cu o semnificație deosebită, datorită colaborării cu partenerii noștri ucrainieni.
Premiul este în valoare de 1.500 Euro pentru fiecare limbă. Textele premiate de trei jurii specializate vor fi traduse în celelalte două limbi și publicate atât în revista
Spiegelungen, cât și în alte reviste literare de renume.


До кінця червня ми повідомимо імена переможців (-ниць) на веб-сторінках видання Spiegelungen-Preises та Центру Gedankendach і сконтактуємо з авторами й авторками особисто. Вручення премії відбудеться 23 листопада 2020 у рамках Целанівських днів у Чернівцях/Czernowitz/Cernăuți, що їх спільно організовують Meridian Czernowitz та Центр Gedankendach. Ми раді, що завдяки співпраці з нашими українськими партнерами зможемо запросити переможців цього особливого дня в це особливе місто.
Розмір премії становить 1500 євро для кожного з творів. Три визначені фаховими журі найкращі твори будуть перекладені відповідно на дві інші мови й опубліковані у виданні «
Spiegelungen» та інших літературних журналах.


Paul Goma gestorben

 

Ein Opfer der Corona-Pandemie wurde in Paris der rumänische Schriftsteller und Dissident Paul Goma. Goma verstarb in der Nacht auf den 25.3. 2020 in einem Pariser Krankenhaus.

Goma wurde 1935 in Mana (Bessarabien) geboren, seine Eltern waren Lehrer. 1971 machte er als Schriftsteller mit dem Roman Ostinato, der in Deutschland übersetzt bei Suhrkamp erschien, auf sich aufmerksam. Seine literarische Karriere in Rumänien war mit dieser unerlaubten Publikation im Ausland bereits gefährdet. Die Verfolgung seiner Familie durch die Securitate geht allerdings bereits auf die Deportation des Vaters 1940 durch sowjetische Truppen nach Sibirien zurück. Verwirrenderweise befand sich der Vater aber 1942 in einem Kriegsgefangenenlager im rumänischen Slobozia, wo er als "bolschewistischer Gefangener" geführt wurde und 1943 zur Familie zurückkehrte. 

1944 flüchteten die Gomas nach Siebenbürgen und versteckten sich nach dem 23. August 1944 eine Zeit lang vor den Repatriierungskommissionen in den Wäldern. Mit gefälschten Papieren konnte die Familie in Siebenbürgen bleiben, Goma besucht die Schule in Hermannstadt/Sibiu. 1953 beendete er nach mehreren Relegationen das Lyzeum, ein Studium der Cinematographie wird aber verwehrt. Statt dessen wird Goma Erzieher in Pionierschulen, besteht aber die Aufnahmeprüfung zum Literaturstudium und beginnt an der Fakultät in Bukarest zu studieren. Nach mehrfachen ideologischen  Auseinandersetzungen mit Parteigremien an der Universität findet Ende 1956 seine Verhaftung im Zusammenhang mit der ungarischen Revolution statt. Er wird nach zwei Jahren Haft in den Hausarrest in Fetești, dann nach Constanța entlassen; ab 1963 befindet er sich für zwei Jahre in Freiheit und schlägt sich mit Hilfsarbeiten durch.

Mit dem Antritt Ceaușescus als Parteichef kann Goma 1965 noch einmal sein Studium beginnen. Nach Jahren gelingt ihm auch das Debut als Autor in der Zeitschrift Luceafarul, was die Möglichkeit zu weiteren Publikationen eröffnet. Der fertiggestellte Roman Ostinato wird jedoch von den staatlichen Verlagen mit immer neuen Änderungswünschen verzögert. Statt dessen erscheint 1967 ein Fragment daraus in der Zeitschrift Neue Literatur in der Übersetzung von Anemone Latzina und Dieter Schlesak sowie in der österreichischen Zeitschrift Literatur und Kritik mit Bemerkungen von Marie Thérèse Kerschbaumer. Ein Jahr später heiratet Goma Ana Maria Năvodaru, der Sohn Filip-Ieronim wird 1975 geboren. Im gleichen Jahr 1968 erscheint als einziges Buch Gomas im kommunistischen Rumänien ein Band mit Kurzgeschichten (Camera de alături). Goma tritt nach der Nichtteilnahme Rumäniens an der Zerschlagung des Prager Frühlings zusammen mit Paul Schuster, Adrian Păunescu, Nichita Stănescu in die Kommunistische Partei ein, wird Redakteur an der Zeitschrift România Literară für den Musikteil. Wegen der Querelen um die Veröffentlichung von Ostinato wird über ihn später Publikationsverbot verhängt, auch dürfen keine Übersetzungen mehr von ihm erscheinen. 1971 ist zur Frankfurter Buchmesse Ostinato in deutscher Übersetzung von Marie Thérèse Kerschbaumer im Verlag Suhrkamp präsent, zugleich erscheinen die französische Ausgabe bei Gallimard und die italienische bei Rizzoli. Im Klappentext wird Goma als "rumänischer Solschenizyn" bezeichnet.

1972 kann Goma für drei Monate nach Österreich, Frankreich und in die BRD reisen. Er trifft Schlesak, der entscheidend bei der Publikation von Ostinato mitwirkte, in Paris Cioran, Virgil Ierunca, Monica Lovinescu, in Wien Kerschbaumer. Es erscheint bei Suhrkamp ein weiterer Erzählband, Die Tür. In Rumänien wird weiter Druck auf Goma ausgeübt. Er verliert den Posten bei România Literară, wird aus dem Schriftstellerverband ausgeschlossen, verhaftet und muss das Land mit seiner Familie verlassen. Hauptgrund sind seine öffentliche Unterstützung der tschechischen Charta 77 und Berichte in Radio Europa Liberă, vor allem aber sein berühmter offener Brief an Ceaușescu, in dem auf die Unterdrückung der verfassungsgemäßen Rechte der Rumänen hingewiesen wird.

Im Pariser Exil tritt er für die rumänische unabhängige Gewerkschaft SLOMR (Sindicatului Liber al Oamenilor Muncii din România) ein. Er wird mehrfach Ziel von durch die Securitate organisierten Attentaten.

Nach der Wende ist sein Ruf als Dissident der Grund für zahlreiche Ehrungen. Spätestens mit der Veröffentlichung des Buchs Sâptămănă roșie. 28 iunie-3 iulie sau Basarabia și evreii (2002) aber wendet sich die Perspektive auf den Autor: In der Abscheu gegenüber der Sowjetunion, die Bessarabien durch gezielte Hungersnöte und Deportationen zerstört habe, beginnt Goma die Beteiligung jüdischer Kommunisten in den Vordergrund zu stellen - bis hin zur paranoiden Ausweitung der Schuld auf deren Nachkommen und die Leugnung des rumänischen Holocaust. Die Massaker an den Juden seien lediglich Reaktionen auf jüdische Feindschaft gegenüber der rumänischen Armee gewesen. Zunehmend gewinnen rassistische Theorien in seinem Denken die Überhand, auf Widerspruch von den neuen intellektuellen Eliten aus Rumänien reagiert er ausfallend. Isoliert greift er das neue "Establishment" wie den GDS (Grupul de Dialog Social) oder Ana Blandiana, Gabriel Liiceanu, den Schriftstellerverband so ätzend an wie einst die Securitate.

So ist die Auseinandersetzung mit seinem frühen Werk und Engagement in den letzten Lebensjahren überschattet von der nicht mehr nachvollziehbaren antisemitischen Idiosynkrasie, mit der Goma die (allerdings im Westen nicht zur Kenntnis genommenen) Geschichte Bessarabiens als einem von "Judäobolschewisten" verursachten Genozid ("holocaustul roșie") verdunkelt, der Antisemitismus und Holocaust nur als leichte Verfehlung erscheinen lässt.

Weiterhin auf Rumänisch schreibend wurden seine Bücher in immer kleineren und z.T. obskuren Verlagen publiziert, zuletzt war das Internet das Fenster, um seine kruden Theorien und Geschichtsdarstellungen unter Leugnung des rumänischen Holocaust zu verbreiten. Er bezeichnete sich nun als scriitor internetizat.

Goma blieb gleichzeitig mit seiner einzigartigen Dissidentenvita der wandelnde Vorwurf, dass die Intellektuellen in Rumänien in der Diktatur nicht gemeinsam handeln konnten/wollten. Das Echo auf seinen Tod ist in Rumänien eher verhalten.


Von Störchen, Metzgern, Radioleuten und vielem anderem

(in Zeiten der Erderwärmung)

 

 

 

Radu Țuculescus wunderbarer Roman Metzgerei Kennedy

 

 

 

 

Nach dem eindringlichen Stalin, mit dem Spaten voran (2018) legt der Mitteldeutsche Verlag nun ein weiteres Erfolgsbuch des siebenbürgischen Autors Radu Țuculescu vor. Auch in Metzgerei Kennedy (Măcelăria Kennedy) zeigt sich der vielseitige Erzähler als ein gekonnt mit Charakteren, Konventionen, Selbstbildern jonglierender Regisseur eines vielfach verflochtenen Geschehens. Und greift auch diesmal in den üppigen Alltag von gewöhnlichen Menschen, um eine Geschichte zu erzählen, wie sie scheinbar überall und unter vielerlei Umständen möglich ist. Im Kern geht es um die bevorstehende Eröffnung einer Metzgerei, die Flavius Kasian in dem kleinen Ort Untermond nicht weit von Cluj (Klausenburg) vorbereitet. Bevor es dazu kommt, findet neben anderem eine Veranstaltung in einem Freilufttheater statt. Und aus Cluj reisen zwei Redakteure an, um sowohl aus dem Theater als auch von der Eröffnung der Metzgerei mit dem merkwürdigen Namen zu berichten. Aber da ist auch noch die geheime Liebesgeschichte zwischen der verheirateten Doris und dem Radiochef Ovi, die das ungleiche Paar ebenfalls in den Ort führt. Und die lyrisch ehrgeizige Tante Viviana besucht Sami Goldenberg, einen Juden, der sich entschieden hat, als einziger aus seiner Familie nicht auszuwandern, um als letzter der Gemeinde den Friedhof zu betreuen. Er hilft zudem Flavius bei der Arbeit in der Metzgerei aus. Und dies tut auch Noni, der die begeisterungstolle Heike liebt, die wegen ihres Enthusiasmus in allen Lebenslagen jetzt im Krankenhaus liegt, während der Maler Avram sich um das Design des Ladenschildes und die Auslagen im Schaufenster kümmert. Und da sind ja auch noch die alten ausgebufften Zwillinge Rosalia und Roberta, und die Störche mit ihren Jungen auf dem Vordach der Metzgerei, und Flavius' seltsam schlafsüchtige Frau Mathilde und zwei Raffaelsche Putten, die überall dabei zu sein scheinen...

Erzählt wird viel in dieser Geschichte, die bis ins Kosmische ausgreift, da eine totale Sonnenfinsternis bevorsteht. Und zurecht verweist der deutsche Titel auf die zunehmende Hitze, die allen ProtagonistInnen unterschiedlich zusetzt. Ein Personal wie geschaffen für die Komplexität der Welt in Zeiten der Erderwärmung.

Völlig unbeeindruckt von allen auftauchenden Seltsamkeiten schafft Țuculescu einen wie ein Sog wirkenden Spannungsbogen, der nach der Lektüre des Buches den Wunsch nach einem Fortlaufen dieser Geschichte erweckt, als sei noch mehr zu sagen und beschreiben von dieser Personalkonstel-lation in Untermond irgendwo bei Cluj. Der Autor setzt präzise seine Paukenschläge, die keinen Lesenden verschonen und die der Übersetzer Peter Groth adäquat und sehr plastisch ins Deutsche übertragen hat.

 

Radu Țuculescu: Metzgerei Kennedy (Zarte Nebenwirkungen der Erderwärmung) (Măcelăria Kennedy). Aus dem Rumänischen von Peter Groth. Halle (Saale): Mitteldeutscher Verlag 2019, 237 Seiten, ISBN 978-3-96311-107-5

 


Die Donau als Textfluss

 

 

Eine herausragende Anthologie zum Strom Südosteuropas

 

 

 

 

 

 

 Jede Anthologie zur Donau kann auf ein reiches Reservoir an Texten zurückgreifen. Schließlich durchquert der Strom auf seinem Weg vom Schwarzwald zum Schwarzen Meer zahlreiche literarische Landschaften und Sprachen und wurde über Jahrtausende zum Gegenstand vieler Formen von Literatur. Da kann die Schwierigkeit einer Textauswahl eher darin bestehen, die notwendige Beschränkung auf den vorgegebenen Umfang des Buches einzuhalten. Im vorliegenden Falle haben die Literaturwissenschaftlerinnen Edit Király und Olivia Spiridon daraus einen Vorteil gezogen: Die Herausgeberinnen strukturieren durch eingezogene Themenblöcke ihre Auswahl, die  dem Lauf des Stroms folgt. So erscheint die Donau als "große Klammer",  innerhalb derer viele Sprachen und Stimmen zu hören und lesen sind. Die weiteren Kapitel tragen Überschriften wie "Brücken", "Auen, Ufer, Weichbilder", "Farben", "Delta", "Überschwemmungen", "Schiff und Wrack", "Krieg", "Stadtlandschaften", "Mündung" u.a. Es bleibt mit dieser Strukturierung die Vielfalt erhalten, zugleich wird möglicher Beliebigkeit entgegengewirkt. Gegen alle Linearität greifen die den Themenblöcken vorangestellten kurzen theoretischen Überlegungen der Herausgeberinnen in den anthologischen Fluss ein und wirbeln die Gedanken leicht durcheinander, sodass jeder Text noch einmal neu ansetzen kann. Dabei erkunden die Herausgeberinnen sorgfältig die unterschiedlichen Resonanzen und Herkünfte ihrer Texte, um in ihren Andeutungen knappe Verständnisangebote für den Zusammenhang und Hinweise auf nicht Präsentiertes zu bieten. Ihre vielseitige Auswahl berücksichtigt so ein weites Feld von Textformen und lässt zugleich die durch Auswahl zwangsläufig bedingten Lücken erahnen.

Die phantasievolle Auswahl betrifft im weitesten Sinne Texte der Moderne, die in vielfachen Perspektiven die Literatur der Donau repräsentieren: von den Fischbeschreibungen des Marsigli im 18. Jahrhundert über die Reisebeschreibungen des Johann Georg Kohl oder eines Patrick Leigh Fermor, von Franz Grillparzers Gedichten und denen der rumänischen Königin Carmen Sylva bis zu Herta Müller, Mircea Cărtărescu oder Franz Tumler, Iljia Trojanow und Peter Esterházy; von Gedichten über Romanauszüge zu Berichten und Erzählungen; von Donaueschingen, Ulm, Belgrad, Rustschuk, Ada Kaleh, Novi Sad, Eisernes Tor, Persenbeug bis nach Sulina.

Für das Gelingen jeder Anthologie unabdingbar ist die glückliche Hand bei der Auswahl. Sie beruht in diesem Fall auf der stupenden Kenntnis der Herausgeberinnen des ausufernden Materials. Alle Texte sind markant, spannend, ungewöhnlich, einzigartig – und alle machen die Donau erkennbar, unübergehbar, historisch und ebenso einzigartig. Keineswegs reduziert auf die Idylle der "blauen" in den Walzern seit Strauß lassen Texte und Kommentare auf überzeugendste und unterhaltsamste Weise unzählige Lichtsplitter jenes im Sonnenlicht spielenden Flusswassers erkennen, die die Unendlichkeit der Möglichkeiten des Erlebens mit dem Strom erahnen lassen. Die Lektüre wird ein außergewöhnliches Leseerlebnis von großem Reiz durch den permanenten Wechsel der Perspektiven, die zugleich doch dem ewig gleich wechselnden Strom des Wassers entspricht. Erwähnt sei zudem unter den zahlreichen Vorzügen des Bandes noch seine Haltbarkeit in doppelter Hinsicht. In Zeiten der Verflüchtigung und Virtualität ist das solide gebundene Buch eine willkommene Gelegenheit zum Ausstieg aus schnellem Verbrauch und hastig-zersplittertem Zurkenntnisnehmen. Es hat nicht zuletzt durch die treffend ausgewählten Abbildungen etwas von einem Hausbuch, das Beständigkeit nicht nur ausstrahlt, sondern wirklich realisiert: Es rettet Texte und Landschaften vor ihrem Verschwinden, indem es sie in die lange Tradition der Buchkultur einbettet – weite Reisen in Vergangenheit und Gegenwart, Formen und Texte in einem Gestalt verleihenden Rahmen. Dies wird keine Textsammlung in der "Cloud" oder auf den beleuchteten Monitoren so erreichen können. Ein Buch, dessen Gebrauch über Generationen jene Spuren produzieren wird, die menschliche Geschichte ausmachen. Bei dieser Anthologie trifft wie auf wenige Produkte des Büchermarktes Kurt Tucholskys Diktum zu, dass wer kein Geld habe, seine Hosen versetzen und dieses Buch kaufen solle.

 

 

Der Fluss. Eine Donau-Anthologie der anderen Art. Hg. v. Edit Király und Olivia Spiridon. Jung und Jung Verlag, Salzburg/Wien 2018, 491 Seiten, zahlreiche Abbildungen, ISBN 978-3-99027-225-1

 


Rumänien - Trakl-Land

 

 

Der Lyriker Matthias Buth

 

 

 

 

 

 

 

Rumänien in der deutschsprachigen Lyrik - ein eher seltener Fall. Neben Günther Deicke in der DDR seinerzeit sind es heute die aus dem Land  kommenden Dichter wie jene von der Aktionsgruppe Banat oder Franz Hodjak oder Alexandru Bulucz, aber auch Jan Koneffke, bei denen sich die Erfahrungen und Wahrnehmungen des Landes in dichter Sprache niederschlagen. Auf eigene Weise lässt auch  der rheinländische Jurist Matthias Buth häufig das Land in seinen bilderintensiven und reflektierten Gedichten aufscheinen. Ein vielseitiger Autor, der nicht nur in seinem Dichten ein außergewöhnliches Profil zeigt.

 

In dem Gedicht "König Michael" des neuesten Gedichtbandes von Matthias Buth, Weiß ist das Leopardenfell des Himmels (2019), sammeln sich zu Rumänien poetische Bilder einer weit reichenden, ungewöhnlichen Phantasie. 

 

"[...]

Weil Rumänien eine Insel ist die immer weiter hinausschwimmt

In die Umarmungen der Wolken

 

Sie weinen sich aus mit dem Schnee im Advent

Die unsichtbaren Gedichte Pannoniens bis hinüber zum Altreich

Bukarest will endlich ankommen in Paris

Und Timișoara hisst seine Türme um abzulegen nach Wien

[...]"

 

Ein driftendes Rumänien scheint hier auf, das dem Wasser verbunden ist - und zugleich nicht ganz bei sich, auf der Suche, immer nach außen blickend und verlangend.

 

"[...]

In den Logbüchern schreibt Enescu eine neue Oper

Um Clara Haskil zurückzuholen und alle anderen die fehlen

Und doch geblieben sind

In den aussichtslosen Versen der Meere von Odessa und Messina"

 

Musik als Medium der Erinnerung an jene Verlorenen wie auch an die aktuellen im Meer vor Messina. Anlass dieses Gedichtes ist der König im Exil: Dieses shakespearesche Motiv wird bezogen auf den Ende 2017 gestorbenen Mihail I., jenen König Michael, der als Kleinkind bereits vorübergehend in den 1920ern  Oberhaupt der Rumänen wurde, als junger Mann mit Antonescu in den Krieg zog, den die Kommunisten 1947 ins Exil zwangen und der eine Hoffnung vieler RumänInnen für eine bessere Zukunft geblieben war.

 

"Im Exil blieb er wie Romania die ferne Geliebte

Auch sie ist Exil

Reich ohne Land

 

Er schrieb keine Epistulae ex Ponto

[...]"

 

In die Rolle des Exilanten und Dichters Ovid schlüpft der Dichter selbst mit seinen elegisch gestimmten Phantasien von Landschaften, menschlichen Konstellationen, aber auch konkreten Dingen und Umständen. Es ist ein außerordentlicher Reichtum an Gegenwart und Realien in dieser sprachlich konkreten und zugleich stimmungshaften, melancholisch-abgewandten Lyrik. Ein Gedicht kann Nach Meinerzhagen heißen, oder Polizeibericht oder Der Anruf. Selten wird es nur um das Konkrete gehen, immer kommt etwas hinzu, das plötzlich die Richtung der Verse verändert, andere Perspektiven eröffnet.

Dieser Blick ist ein präziser, der die Aktualität, die Gegenwart, die Realität in eine dichterische Sprache bringt, die dennoch viel von dem Träumerisch-Utopisch-Ideellen bewahrt, ja vielfach erst gerade von der Erzeugungsmacht der Sprache her seine Kraft entwickelt.

Wie in früheren Zusammenstellungen basiert im aktuellen Gedichtband Weiß ist das Leopardenfell des Himmels diese Kraft des Lyrischen immer wieder auf der drängenden, modulierenden Macht der Musik, die auch ganz gegenständlich zum Motiv werden kann:

 

"In Klausenburg treffen nachts sich schwarze Klaviere

Sie kommen die Alleen entlang

Mit Noten von Brahms und Chopin

[...]

Und Trakl hält alle Wolken an"

 

Die melancholische Stimmung der Lyrik Georg Trakls durchzieht Buths rumänische Gedichte. Es ist ein Bewusstsein für den Verlust, der in den Dingen und Umständen liegt und niemals wieder eingeholt werden kann. Der aber produktiv wird in der sprachlichen Nachzeichnung und reflexiven Verdichtung. Das Besondere in vielen Gedichten Buths ist dabei der Bruch, der Riß in der Stimmung  durch die Hinwendung zur Realität. Ganz konkret handelt das Gedicht Der Apostel von einem Flüchtling, der über Timișoara und die Balkanroute nach Trier kommt - ein Flüchtling, der eine lange Geschichte hat.

 

Diese Perspektiven haben viel mit der Reisekunst Buths zu tun, die ihn in entfernte Gegenden geführt hat. Das Leopardenfell hat da durchaus konkrete Bezüge, der Nil oder Äthiopien spielen ihre Rolle als Schauplätze differenzierter Beobachtungen und Kombinationen. In Angola steht plötzlich die Donau da, in einem einzigartigen Bild von Weite und Verlorenheit:

 

[...]

5

Der Okavango kommt von Angola

Fließt durch die Augen der Elefanten

Langsam fast stehend sich selbst betrachtend

Wie die Donau an ihrem Ende

Das Meer vor Augen

 

Hier aber mündet nichts

Was der Himmel nicht nimmt

Entweicht ins Erdinnere

Verzweigend verzweifelt vergehend

[...]"

 

Im Nachwort zu dem Band Die Stille nach dem Axthieb (1997) bestätigt der früher Klausenburger Literaturwissenschaftler Peter Motzan die Vielfalt von Funktionen der Natur in Buths Landschaftsgedichten: "Sie ist weder heiler Weltrest noch Verkörperung unentfremdeten Lebens, sondern mal stummes und fernes Gegenüber, das wie ein Buch der Entzifferung harrt, mal Mitwelt im Alltag, durchsetzt von zivilisatorischen Elementen, mal 'Material', das sich das lyrische Ich ausleiht, um eigene Befindlichkeiten auszudrücken oder um zwischenmenschliche Beziehungen in bildhaft komprimierter Diktion zu ergründen."

 

 

In allen Lyrikbänden des "Dichterjuristen" (Petro Rychlo) schimmert durch die Welthaltigkeit eine Präferenz des Dichters für den Südosten. Danubisch titelt er in der von Helmut Braun herausgegebenen Sammlung des aus DDR-Zeiten in die neue BRD geretteten einzigartigen Projekts Poesiealbum (2019). Das Gedicht beginnt:

 

 "Wenn es nur gelänge

Wenn doch nur einmal der Rhein

Sich umlenken ließe in die Donau

 

Wenn sich die Unruhe mit dem Gleichmut

verbinden wollte

[...]"

 

In diesem Widerstreit von Gemütseigenschaften lassen sich einige der Dichotomien der Poetik Buths verorten, wenn sie immer wieder Gegensätze, Konterfaktionen, Dilemmata und Dichotomien ins Spiel bringen. Aber diese lösen immer auch ein Spiel mit der Sprache aus, in dem diese als Reservoir von Freiheit und Schönheit aufscheint.

 

Die geschlossenste Sammlung der rumänischen Gedichte bringt das von dem aus Bukarest gebürtigen, nach der

 

Ausreise in Stuttgart lebenden außerordentlichen Künstler Gert Fabritius gestaltete Heft Gott ist der Dichter aus der Reihe Die Besonderen Hefte (2018). Hier sind 10 Gedichte mit Rumänienbezug zu lesen, darunter auch eine Gedichtbetrachtung des verstorbenen Germanisten Walter Hinck zu Buths Gemeinde für Eginald Schlattner in der FAZ: 

"[...]

Die Tür atmet schwer

Wenn sie nachgeben muss

 

Er streicht Wellen über die Bänke

Leergebetet seit Jahren

 

Die Orgel tropft Stille

Im Chor spielen die Fenster

 

Dann breitet er seine Arme

Und tröstet Gott

[...]"

 

Die religiöse Komponente dieser Psalmen und andere Liebesgedichte ist nicht zu übersehen, was aber sich nicht unbedingt in einem Bekenntnis äußert, sondern in ihrer reflektierten Präsenz in der Welt. Schön gefasst in Großau / Siebenbürgen:

 

Milch perlt aus den Manualen

Wenn der Alte

Seine Orgel pflügt

Die spitzen Fenster werden

Still und spiegeln den Turm

Den geduldigen Zuhörer

 

Die Kirche ein Storchennest

Vom Winter verinselt

[...]"

 

Orgelmusik findet sich nicht zuletzt deshalb häufig in den Gedichten Buths aufgerufen. Sie steht für den konzentrierten Ausdruck einer Musikliebe, aber weit darüber hinaus bündelt das Bild des Instruments auch  Geschichte, Kultur, Orte, Kirchengebäude, Menschen. Es erstaunt nicht, dass eine Reihe von Buths Gedichten auch vertont wurden.

Nicht nur in der Evokation der Orgelmusik öffnet Buth einen Weg in eine  Kulturgeschichte Deutschlands, in der dieses Kircheninstrument zu unterschiedlichen Zeiten eine besondere Rolle spielte. Buth stößt jenseits der tümelnden Verherrlichung der Orgel in nationalistischer Kulturauffassung in eine präzise Unterscheidung zwischen dem Weg in die Sackgasse und den kulturellen Leistungen aus Deutschland vor. Emphatisch wird deutsch mit positiven Bildern und Beispielen belegt. Die überschäumende Bildlichkeit lässt auch jene Nuancen zu Wort kommen, durch die kein endgültiges Urteil über das allgemeine Wort deutsch zugelassen wird. Buths Bilder aber sind nicht nur emotional bedingt, sondern durchaus reflektiert wie die Sammlung Seid umschlungen (2017) von im Laufe der Jahre entstandenen Essays belegt. Am Beispiel der Wertschätzung der Lyrik Reiner Kunzes hebt Buth hervor, dass nach der Vereinigung "wir uns bei der nationalen Selbstbefragung aus[weichen]". Und  dabei auch die vielen Beziehungen und Bezüge zu anderen Sprachen und Kulturen übersehen. Eine 30 Jahre nach der Wende immer wieder virulente Fragestellung.

Sie liegt Buth am Herzen, nicht zuletzt da er beruflich intensiv mit der deutschen Kultur und ihrer Organisation beschäftigt war. Der Jurist, der mit einer Arbeit über das DDR-Militärstrafrecht promovierte, war langjährig in der bundesdeutschen und dann gesamtdeutschen Kulturpolitik gegenüber den osteuropäischen Staaten mit früherer deutscher Bevölkerung befasst und damit auch an der Einrichtung diverser Institute für die früheren Vertriebenenverbände. Buths Kenntnis der östlichen Nachbarländer und Rumäniens ist nicht nur eine der lyrischen Phantasie. So weiß auch das Potsdamer Kulturforum für die Deutschen im östlichen Europa seinen institutionellen Einsatz zu schätzen. Für seine Bemühungen um Rumänien verlieh ihm der rumänische Staatspräsident Klaus Johannis den Nationalen Kulturverdienstorden, der im Frühjahr 2020 in Berlin überreicht wird.

 

 

"[...]

Timișoara meine  Freundin

Über Dein Gesicht

Springen Delphine

Sie wollen blickaufwärts

Immer wieder

Ins sanfte Banat

Es siedelt hinter den Lidern"

 

(Timișoara, in: Die Stille nach dem Axthieb, S. 33)

 

Weiß ist das Leopardenfell des Himmels. Neue Gedichte. Mit einem Nachwort von Jörg Aufenanger. Berlin: PalmArtPress 2019, 157 Seiten, ISBN 978-3-96258-035-3

 

Poesiealbum 344: Matthias Buth. Auswahl von Helmut Braun. Grafik: Hans-Hendrik Grimmling. Wilhelmshorst: Märkischer Verlag 2019, 32 Seiten, ISSN 1865-5874

 

Gott ist der Dichter. Psalmen und andere Liebesgedichte. Einband: Gert Fabritius. Wuppertal: NordPark Verlag 2018, 64 Seiten, ISBN 978-3-943940-30-5

 

Die Stille nach dem Axthieb. Gedichte. Mit zwei Illustrationen von Helena Wernischová und einem Nachwort von Peter Motzan. Eisingen: Heiderhoff Verlag 1997 (Lyrikreihe "Das Neueste Gedicht" Neue Folge 43), 152 Seiten, ISBN 3-921640-98-9

 

Seid umschlungen. Feuilletons zu Kultur und Zeitgeschichte. Mit einem Vorwort von Peter Steinbach. Berlin: Vorwerk 8 2017, 296 Seiten, ISBN 978-3-940384-92-8


Fußball und Lyrik

 

 

Die Spitzen-Elf der rumänischen DichterInnen

 

 

Seit Ringelnatz' oder Robert Gernhardts Tagen ist der Zusammenhang von Fußball und Lyrik nicht mehr von der Hand zu weisen und wird immer wieder neu aktualisiert. Für die rumänische Dichtung hat dies jetzt Bogdan Coșa mit aktuellen Beispielen erneuert - eine Spitzenelf aktueller lyrischer Wortakrobatik.

 

Es ist  - lyrisch gesehen - eine junge Mannschaft, die meisten der AutorInnen kommen aus den 1980er Jahren, sind spielerisch versiert und mit allen traditionellen und neuesten Methoden des Spiels mit der Sprache vertraut. Auf einer "Pressekonferenz" erklärt Coșa, dass im Tor (aber mit der Nummer 5!) V. Leac steht, da er "dem Experiment gewidmet [...] ein radikal anderer Autor als seine Kollegen [ist], so wie es eben nur ein Torhüter in Vergleich zu seinen Feldspielern sein kann." Schöner Vergleich, der V. Leac in seiner ausgeglichenen Versponnenheit gerecht wird. Nr. 1 (die Spitze im Sturm) ist der in Deutschland lebende  Ionuț Chiva, der in seinen Gedichten ironisch  die Existenz von Drop-outs und ihre Liebesnöte sprachreich in Vergleiche fasst (und auch des jugendlichen Fußballspiels gedenkt: "meine freunde, die jungbullen, / sahen so krank aus, als sie, vom fenster aus gesehen, / ohne mich fußball spielten. im innenhof // waren die kanaldeckel von einer feinen / rostschicht bedeckt. meine freunde, die lahmen, traten den ball / und dann einander und dann saßen sie auf den treppen und, / von einer feinen schicht asche bedeckt, sprachen sie miteinander.//". Der erfahrene Dan Sociu steuert Einblicke in die Realität rumänischer Krankenhäuser bei und führt gekonnt die Überheblichkeitstänze eines um eine Frau werbenden Losers vor.

Als Verteidiger sind nominiert Andrei Doboș, Ruxandra Novac und Gabi Eftimie. Doboș ist u.a. mit einem in diesen verdorrten Zeiten so erfrischenden Regengedicht vertreten, Novacs präzise Mikrobeobachtungen sind durchsetzt mit expressionistisch wirkenden organisch-technischen Hybridstrukturen ("wo ist unsere seele, die einem vogel gleicht / wo ist denn unsere perfekte gesundheit / unser perfekter lärm / wo sind denn die ekstatischen schwingungen / wo das marihuana und die träume / das delirium und das unglück in kleinen, verschwitzten räumen / der veraltete aufstand wie in einem film über bauern //").  Die städtischen Beobachtungen der in Schweden lebenden Eftimie erweitern sich ins Internet oder gar ins Weltall ("Wird er schlussendlich, nach Lichtjahren des fallens, abstürzen / oder wird er in diesem Astronautenanzug / weiterhin verrotten, / wird er sich zusammen mit Abfällen von Raumstationen um die Erde drehen?"). Noch stärker in die Lebens- und Gefühlswelt schiebt die jüngere musikalische Stürmerin Cosmina Moroșan die elektronische Technik, wenn sie schreibt: "Das Telefon ist jetzt die einzige Verwandtschaft, / das ganze Gleichgewicht - dein verstohlener Blick unter den Menschen". Ihr verdankt sich auch ein Blick in die Stimmungslage einer verliebten Bumenhändlerin. Diese Frauenstimmen lassen die Stärke dieser Spitzenelf erkennen in ihrer durch mediale, substitutive und sprachliche Rückkopplungen produzierten grellen präzisen Bilder. Auch Stürmer Andrei Dósa setzt sich mit der fragwürdigen Folgen der Existenz von google u. Co. auseinander, wandert auch in spirituelle Alternativen oder beschreibt ganz realistisch den Tag einer rumänischen Putzfrau im Ausland mit ihren Illusionen. Sehr traumverloren die Gedichte von Alex Văsieș aus Bistrița, in dessen Pastorala Alemană auch der Name von Robert Zieler auftaucht - immerhin! Ansonsten auch hier Bezüge zur Digitalisierung und Allusionen auf die Traumwelt des frühen Mircea Cărtărescu. Im Zentrum spielt die Nr. 11, die ebenfalls in Schweden lebende Elena Vlădăreanu, deren Gedichte sich mit dem Klischee "der Rumänen" beschäftigen, aber auch dem Verbrauch von Plastiktüten und -flaschen.

So skizziert die Anthologie das Bild einer Mannschaft, die aktuelle Themen und Formen der rumänischsprachigen Lyrik repräsentiert. In dem großzügig gestalteten, zweisprachigen Band des noch jungen Verlags wirken die Übersetzungen von Daria Schnut-Hainz angemessen prosahaft, wenn auch nicht in jedem Detail  auf den Punkt präzise.

Aus dem an merk-würdigen Sprachbildern reichen Band, in dem neben "online", "kokain" oder "roboter" durchaus noch oft "Sonnenblumen", "wodkaflaschen" oder "wohnblocks" vorkommen, bleiben Formulierungen hängen wie: "es regnet in den Kaffee, der draußen am Balkon vergessen wurde / und in den Aschenbecher / Schaum und stechender Rauch" (Diomid; Andrei Doboș) oder "Der gesamte Raum eine breite Straße, / das dumpfe Brummen des Zählers in der Nacht, / das einzigartige Atmen in den Wänden. "(Space; Cosmina Moroșan).

 

Bogdan Coșa: Die Spitzen-Elf. Primul unsprezece. Zweisprachig Rumänisch-Deutsch. Aus dem Rumänischen von Daria Schnut-Hainz. Ulm: danube books 2018. 217 Seiten, ISBN: 978-3-946046-11-0


 

Salată de vinete graphisch

 

 

 

Oskars Pastiors Lieblingsspeise und die Wiederentdeckung seiner ingeniösen Zeichnungen

 

 

 

 

 

 

 "Im Oktober 1969 gründeten fünf fast dreißigjährige Studenten und Berufsanfänger in der ersten Etage des Vorderhauses Clausewitzstraße 2 in Berlin-Charlottenburg eine Wohngemeinschaft. Anfang des Jahres 1973 wurde eines der drei zur Straße gelegenen Zimmer frei. [...] Der Zufall spielte Vermittler, und wir konnten Oskar Pastior, ein uns damals unbekannter Schriftsteller aus dem deutschsprachigen Siebenbürgen (Rumänien), im März des Jahres als neues Wohngemeinschaftsmitglied willkommen heißen."

 

Diese historische Reminiszenz steht am Beginn einer veritablen (Wieder) Entdeckung: Oskar Pastior als Zeichner. Die Sätze erklären, weshalb Heidede Becker (in ihrem Berufsleben Mitherausgeberin der Zeitschrift "Stadtbauwelt" des Deutschen Instituts für Urbanistik) in freundschaftlichen Kontakt mit dem Dichter aus dem fernen Rumänien kam und nun mit der Veröffentlichung der Zeichnungen eine wichtige Dimension der künstlerischen Welterfahrung und -verarbeitung Pastiors wieder zugänglich macht. Mehr als 650 Zeichnungen liegen in Pastiors Nachlass im Literaturarchiv Marbach. Sie sind allmählich aus dem Fokus des Interesses und der Beschäftigung mit dem Werk Pastiors verschwunden, obwohl zwei Drittel davon durchaus zu Lebzeiten des Dichterzeichners publiziert worden waren. Nicht nur als Buchcover seiner Gedichtbände und der Werkausgabe, sondern in der Welt der gerade in den 1970er Jahren so aktiven experimentellen Kleinverlagsszene in Berlin und anderen Städten hat Pastior immer wieder diese meist mit schwarzem Kugelschreiber produzierten Zeichnungen in Zusammenhang mit seiner Dichtung  sichtbar werden lassen. Wie die Publikation zeigt, ergeben sich äußerst spannende und aufschlussreiche Beziehungen zwischen Wort und Bild bei Pastior - etwa wenn er seine Sonettexplorationen auch bildlich umsetzen will. Das  Ausdrucksverlangen bei der Erforschung der Worte und Bedeutungen macht auch vor dem Zeichnen nicht Halt. Einige der Zeichnungen gehören in das weite Feld der visuellen Poesie, andere entwerfen Formen und unwirkliche Gegenstände, wiederum andere illustrieren Pastiors Leibfrucht - die Aubergine - aus der seine Lieblingsspeise Salată de vinete hergestellt wird. So verspielt die wortschöpferischen Zugänge zur  Lyrik erscheinen, so präzise hat sich Pastior um die Veröffentlichungen seiner Zeichnungen und ihrer Kontexte gekümmert. Das Zeichnen, so macht das fein gestaltete Buch evident, ist von Pastiors Dichten und Denken in vielen Fällen kaum zu trennen. Beckers genaue Beschreibung der Bildträger und ihres werkbiographischen Zusammenhangs gibt zahlreiche Aufschlüsse über die in Marbach verwahrten Konvolute. Im zweiten Teil des Buches sind dann die Zeichnungen verkleinert komplett veröffentlicht. Dort lassen sich auch die frühen Anfänge in Hermannstadt/Sibiu nachvollziehen, als der Schüler ein eigenes Modeheft entwirft - angeregt von einer in Südtirol lebenden Verwandten, die als Modezeichnerin arbeitete. Es sind in der Wiederentdeckung der Zeichnungen Oskar Pastiors eine große Zahl von neuen oder bisher wenig beachteten Aspekten seines Werkes sichtbar, die zur weiteren Beschäftigung mit den Gedichten und Zeichnungen des Siebenbürgers animieren.

 

 

In der Berliner Akademie der Künste findet vom 8. Juni bis 20. Juni 2019 anlässlich des Poesie-Festivals eine Ausstellung der Pastiorschen Zeichnungen statt.

 

 

Heidede Becker: Aubergine mit Scheibenwischer - die Zeichnungen von Oskar Pastior.
Heidelberg: Verlag Das Wunderhorn 2018, 229 Seiten, ISBN 978-3-88423-594-2

 


Gesang des Meeres

 

Czernowitz im Frühjahr 1944

 

 

Dass Schriftsteller und Künstler im lateinischen Europa häufiger als Diplomaten eingesetzt werden als etwa im Diplomatie als Beamtenlaufbahn verstehenden Auswärtigen Amt ist an Rumänien und seinen Botschaftern, Gesandten und Legationssekretären Lucian Blaga, Mircea Eliade oder Oskar Walter Cisek zu belegen. Und aktuell im Falle von Emil Hurezeanu in Berlin. Dass auch die Republik Moldova dieses Muster  anwenden kann, ist dem Historiker und Schriftsteller Oleg Serebrian geschuldet, der sein Land seit 2016 in Deutschland vertritt. Hervorgetreten durch Arbeiten zur Geopolitik hat er mittlerweile auch zwei Romane vorgelegt.

In Cântecul mării (Gesang des Meeres) wird eine Geschichte verhandelt, die in der bukowinischen Metropole Czernowitz (Cernăuţi) im Frühjahr 1944 spielt. Die sowjetischen Truppen nähern sich allmählich der Stadt, der junge Priester Filip Skawronski und seine Frau Marta, die der adeligen deutschen Familie Randa entstammt, erleben die um sich greifende Verunsicherung und die Fluchtgedanken in der Bevölkerung. Mit der Familie seiner Frau kam es zum Bruch wegen der dieser nicht standesgemäß erscheinenden Heirat mit dem Sohn eines alten ruthenischen Forstangestellten. Die ländliche Welt von Crasna in den Karpatenwäldern mit den althergebracht lebenden Eltern bildet den Kontrast zu dieser Ehe in der bukowinischen Hauptstadt.

Aber es sind die multikulturellen Hintergründe der Stadt und der Familien, die keine einseitige rumänische oder ukrainische Perspektive auf die Geschehnisse entfalten lassen und die herannahende Front für alle Bewohner zur Bewährungsprobe machen. Serebrian zeichnet ein intensives Bild der Figuren und der Geschehnisse, das auch von des Autors historischen Kenntnissen profitiert. Subtil zeichnet der Moldauer die Wirkungen des Krieges in einer für längere Zeit von Zerstörungen verschont gebliebenen Stadt. Bis sich mit der Herankunft der Roten Armee die Verhältnisse wiederum dramatisch verändern. Ein ungewöhnlicher Blick auf Czernowitz vor und nach der Sowjetisierung der Stadt!

 

Oleg Serebrian. Cântecul Mării [2011]. Roman. Chişinău: Cartier 2018, 335 Seiten, ISBN 978-9975-86-303-2

 


Dieter Schlesak gestorben

 

 

 

 

Der aus Siebenbürgen stammende und in Italien lebende Schriftsteller Dieter Schlesak ist am 29. März 2019 gestorben, wie sein Verlag in Ludwigsburg mitteilt. Schlesak wurde am 7. August 1934 in Sighişoara/Schäßburg geboren. Er erregte Aufsehen durch seinen Dokumentarroman Capesius, der Auschwitz-Apotheker (2006; in zahlreiche Sprachen übersetzt) sowie den Roman Vaterlandstage und die Kunst des Verschwindens (1986). Zu seinen Gedichtbänden gehören Grenzstreifen (Bukarest 1969), Weiße Gegend (1981) Herbst Zeit Lose (2006), Grenzen Los (2006), Namen Los (2007). Begonnen hatte der Siebenbürger als Redakteur der Zeitschrift Neue Literatur in Bukarest. 1969 wanderte er in die Bundesrepublik aus und ließ sich später in Italien nieder. Als Übersetzer trug er Nichita Stănescus Elf Elegien ins Deutsche.

Er erhielt für sein umfangreiches lyrisches, essayistisches und erzählerisches Werk zahlreiche Auszeichnungen, darunter den Andreas-Gryphius-Preis (1980), den Nikolaus-Lenau-Preis (1993), die Ehrengabe der Deutschen Schillerstiftung Weimar (2001), den Umberto-Saba-Preis (2006), den Maria-Ensle-Preis der Kunststiftung Baden-Württemberg (2007). Der Pop Verlag plant eine umfangreiche Werkausgabe Schlesaks.


Panorama eines Bukarester Alltags

 

Gabriela Adameşteanus Meisterwerk Verlorener Morgen

 

 

 

 

 

Das können nur ganz wenige: Aus einem kurzen Tag ein ganzes Jahrhundert erstehen zu lassen, ohne dass der Leser die notwendigen Übergänge aufdringlich findet und schon gar nicht etwa in der Aufmerksamkeit für die Geschichte nachlässt. Und dies alles aus der Perspektive einer alten Frau erzählt, die sich während dieses scheinbar "verlorenen Morgens" an vieles erinnert.

Vica Delcă ist Anfang der 1980er Jahre eine nicht gerade zimperliche alte Frau, sie lebt mit ihrem wenig beweglichen Mann in einer kleinen Wohnung hinter ihrem längst geschlossenen Lebensmittelladen, den sie  in der Coriolan-Straße von Bukarest betrieben. Hin und wieder rafft sie sich auf, geht auf "Tour", um Verwandte und Bekannte zu besuchen, immer mit dem Hintergedanken, dass sie "nie mit leeren Händen zurück [kam]". An diesem sich hinziehenden Morgen sieht sie ihre Schwägerin mit Sohn und die Tochter jener verstorbenen Frau Ioaniu, einer Dame aus der feinen Gesellschaft, bei der Vica ihr Handwerk als Schneiderin lernte: Diese Figuren genügen, um ein ganzes Lebenspanorama mit seinen historischen Streiflichtern zu entwerfen. Es geht dabei weniger um die Gegenwart des kommunistischen Regimes, in dem die Alte nun lebt - sie scheint so wenig mit dieser politischen Realität zu tun zu haben, dass es nur kleiner Hinweise auf die überfüllte Straßenbahn, das Warten in einer Schlange vor einem Geschäft bedarf, um der inneren Gegenwart von Vica auch eine äußere historische Zeit hinzufügen. Vor allem aber geht es um die Reflexion der Vergangenheit, das Nachdenken darüber, wie die Dinge im Privaten wurden, was sie sind. Das Verhältnis zum Ehemann, die Verwandtschaft, die Eltern, der Verzicht auf eigene Kinder. Das Historische stellt sich dann von alleine ein.

Dieser permanente Strom der Gedanken und Wahrnehmungen führt auf die Familie Ioaniu und in die Zeit des Ersten Weltkriegs, als die an dem Morgen von Vica besuchte Tochter noch ein kleines Mädchen war und dessen Vater sich auf die Teilnahme am Krieg einstellen musste. Im Wechsel in die Ich-Form des Tagebuchs dieses Bukarester Bürgers, der von Eifersucht geplagt wird, wird einer der den Fluss des Erzählens kennzeichnenden Übergänge realisiert und dennoch der Zusammenhang des Romans gewahrt. Mit dem Rückgang bis vor den Ersten Weltkrieg gewinnt der Roman eine Tiefendimension, die den "verlorenen" Morgen zu einer Proustschen Suche nach dem Spezifischen von Geschichte und Lebenszeit machen. Ein Roman von europäischer Perspektive und Relevanz. Gabriela Adameşteanus Roman erschien bereits 1983 in Rumänien  und gehört dort zu den Klassikern des 20. Jahrhunderts. Für die flüssige Übersetzung kam Eva Ruth Wemme auf die Shortlist des Preises der Leipziger Buchmesse in der Kategorie Übersetzung.

 

Gabriela Adameşteanu: Verlorener Morgen (Dimineaţă pierdută).

Roman. Aus dem Rumänischen von Eva Ruth Wemme. Berlin: AB - Die Andere Bibliothek 2018, 561 Seiten, ISBN 978-3-8477-0404-1

 

 

UPDATE

Für ihre Übertragung von Gabriela Adameşteanus Dimineaţă pierdută ist am 21.3.2019 Eva Ruth Wemme mit dem Preis der Leipziger Buchmesse in der Kategorie Übersetzung ausgezeichnet worden.


Literatur und historische Kritik

 

Zu den neuesten Arbeiten von William Totok

 

 

 

 

 

 

In den 1920er Jahren machte ein junger Lyriker aus dem Banat Furore: Der größte Dichter der Zeit, Rainer Maria Rilke, hatte ihn für wert befunden auf seine Fragen und Gedichtsendungen hin über Jahre ein poetologisches Statement in Briefen abzugeben. Als Briefe an einen jungen Dichter (1929) nach Rilkes Tod mit einer Einleitung des jungen Banater Autors Franz Xaver Kappus erschienen, sind Rilkes Briefe bis heute ein Text geblieben, der Literaturinteressierte fasziniert. Den Hintergründen des Banater Autors ist William Totok nachgegangen, indem er Kappus' (1883-1966) Roman Die Peitsche im Antlitz. Geschichte eines Gezeichneten (Temeswar 1921) auf Deutsch und in rumänischer Übersetzung durch Werner Kremm mit einer ausführlichen Einführung im Verlag des Nationalen Literaturmuseums Bukarest herausgegeben hat. In dieser literarhistorischen Einführung wird Kappus als wegen ihres Pazifismus und Eigensinns außergewöhnliche Figur in der sich oft nationalistisch und in der Zwischenkriegszeit gar nationalsozialistisch gebärdenden Heimat- und Volkstumsliteratur in Rumänien sichtbar. Im Ersten Weltkrieg als Berichterstatter und Nachrichtenoffizier eingesetzt kehrte er nach einem Aufenthalt im Budapest der Räteregierung vor 100 Jahren in seine Heimatstadt Temeswar zurück, um bei der traditionsreichen Temeswarer Zeitung aktiv zu werden. Neben einer oft konventionellen Lyrik entstanden auch zahlreiche Unterhaltungsromane, bevor die Publikation von Rilkes Briefen den Autor überregional berühmt machten. Sehr zustimmende Kritiken bis hin zu Roda Roda erhielt Kappus für seinen pazifistisch-expressionistische Roman-Dystopie Die lebenden Vierzehn (Berlin: Ullstein 1918). Im in Rumänien eher selten zu findenden expressionistischen Stil ist auch der jetzt herausgegebene kleine Roman Die Peitsche im Antlitz gehalten über einen Menschen, der durch eine Missgestaltung immer ein abwertend wirkendes Lächeln im Gesicht trägt und dadurch im Leben scheitert. Wie in einem Stummfilm der Zeit mit übertriebenen Gebärden und Empfindungen, einer Entwicklung vom kalten Einzelgänger zum ekstatischen Gefühlsmenschen, dem Scheitern der Liebe nach dem Krieg nimmt Kappus eine Reihe von expressionistischen Motiven auf.

 

Aus der Wiederpublikation dieses literarischen Fundstücks lässt sich ein allgemeines Prinzip der Arbeiten William Totoks ableiten: die Vermittlung zwischen deutscher und rumänischer Kultur in der Verzahnung von Literatur und politischer Analyse. Dieses Prinzip ist auch bei den beiden anderen neueren Publikationen Totoks zu erkennen. Im Jahr 2016 erschien im Ludwigsburger Pop Verlag in einem Band eine Auswahl seiner Gedichte ergänzt durch einen Rückblick auf seine jahrzehntelange Beschäftigung mit der eigenen Securitate-Akte. Im gleichen Jahr brachte der angesehene rumänische Verlag Polirom eine umfangreiche Studie über die Mythisierung des antikommunistischen Widerstands in der Figur des früheren Legionärs Ion Gavrilă Ogoranu heraus, die Totok mit der Soziologin Elena-Irina Macovei erstellte.

 

Anfang

 

Im anderen Land

wächst  nur noch blindes Gras,

verletzt durch lange Jahre

der Geduld, des dumpfen Schweigens.

Langsam kehren alle Sätze heim

und an den Fahnenstangen fault die Wut.

Der Lyrik-Band verweist auf Totoks literarische Herkunft aus der Aktionsgruppe Banat der frühen 1970er Jahre. Zusammen mit Richard Wagner, Werner Kremm, Ernest Wichner, Anton Sterbling und fünf weiteren Dichtern hat diese Gruppe, an deren Rand auch Herta Müller erstmals publizierte, ein einzigartiges Projekt im kommunistischen Rumänien realisiert, bevor es von der Securitate zerschlagen wurde. Die Gedichte stellen eine Auswahl von diesen Anfängen bis in die Gegenwart dar. In ihnen wird ein Dichter erkennbar, der sprachlich präzise und zugleich politisch engagiert auf  die Zumutungen der Welt reagiert. Es ist eine Entwicklung erkennbar, wenn es heißt "Ich halt sie noch / Die Fahne und denk' / Sie nützt mir / Wenns mich friert.//" und in einem anderen Gedicht "... an den Fahnenstangen fault die Wut". Aber diese Extreme sind durch zahlreiche Zwischentöne verbunden, in denen Totok sensibel und aufmerksam die Beziehungen von Politik und Ich erkundet. So lassen sich diese mitunter elegischen Gedichte nach 1973 auch als eine Gefühlslage der kritischen rumänischen Jugend lesen, die erstaunlicherweise nicht sehr unterschieden von ihren bundesdeutschen Pendants sich darstellt - obwohl doch die äußeren Umstände extrem unterschiedlich waren.

Das Ende der Aktionsgruppe Banat markierte in Totoks Vita einen großen Einschnitt: Er wurde nach bereits jahrelanger Observation durch die Securitate mit anderen verhaftet, blieb aber als einziger mehrere Monate in Haft. Wie die minuziöse Rekonstruktion der Akten der Securitate ergibt, trieb diese einen enormen Aufwand, um nicht nur den Dichter, sondern auch seinen Bruder Gunter Totok und die Familie zu bespitzeln und in ein schlechtes Licht zu stellen. "Außer physischen Misshandlungen habe ich im Laufe der Jahre sämtliche Varianten der Securitaterepression kennengelernt, die darauf abzielten, einen als Regimegegner eingestuften Menschen zum Schweigen zu bringen, ihn zu kompromittieren und seine kritische Stimme verstummen zu lassen," konstatiert Totok. Bereits seit den '60er Jahren wurde wegen des im Westen als bedeutender Bibliothekar arbeitenden Onkels Wilhelm Totok die Familie beobachtet. Mit fabrizierten Umständen wird der als Schüler sich freimütig äußernde und aufbegehrende Bruder zu einer Gefängnisstrafe verurteilt. Seit seinem Buch Die Zwänge der Erinnerung (1988) hat Totok konsequent die Akten der Securitate studiert, um Klarheit über die Vorgehensweise der Geheimpolizei zu erhalten und diese öffentlich zu machen. Dass dies nicht ohne anzuecken zu erreichen ist, bezeugen allein schon die späteren Karrieren der Securisten: Einer der ihn bespitzelnden Informanten ist heute einer der reichsten Oligarchen Rumäniens, andere sind als Banater Schwaben nach Deutschland ausgewandert.

Diese kritische Auseinandersetzung mit den Akten der Geheimpolizei in der Diktatur ist Totok über die eigene Biographie hinaus immer wieder Anlass zur Recherche von wenig beachteten oder verschwiegenen politischen Zusammenhängen. Sein Augenmerk gilt dabei insbesondere auch den rechtsradikalen und neolegionären Strömungen, deren Bild in Rumänien oft verharmlost wird. So bildet das Studium der Securitate-Akten, in die auch das Archiv der Siguranţa - der Vorkriegsgeheimpolizei - integriert worden ist, die Basis für ein weiteres Buch, das sich mit der rumänischen Vergangenheit und ihrer Mystifikation beschäftigt. Zusammen mit der Soziologin Elena-Irina Macovei geht Totok den Biographien einzelner späterer Securitate-Informanten der deutschen Minderheiten nach, die vor dem kommunistischen Regime Aktivisten des Nationalsozialismus waren (Mokka, Cloos) und von der Securitate benutzt wurden, um die Geschichtsschreibung zu manipulieren. Auch die Legende des Legionärs und später in den Bergen Untergetauchten Ion Gavrilă Ogoranu war eine von ihm selbst gestrickte, indem er durch seine Autobiographie das Bild eines geläuterten antikommunistischen Freischärlers im romantischen Widerstandskampf gegen die Securitate verbreiten konnte (das in einem ansprechend gemachten Film von Constantin Popescu noch zementiert wurde). Dieser Mythos und die gleichzeitige Bagatellisierung der legionären Vergangenheit werden von Totok/Macovei minuziös enttarnt, um zugleich ein Licht auf die Funktion jener "sfinţi inchisorilor" (Gefängnisheiligen) zu werfen, die sich meist von der faschistischen Eisernen Garde kommend in kommunistischen Gefängnissen zur orthodoxen Religion bekannten und bis heute ein verklärtes, irreales Bild der Vergangenheit und ihrer eigenen legionären Taten konstruieren.

In dem Gedichtband ...an den Fahnenstangen findet sich eine ausführliche, wenn auch nicht vollständige Bibliographie der Arbeiten Totoks, der als Journalist bei Radio France International, Radio Free Europe, der Tageszeitung u.a. über Rumänien berichtet. Weiterhin betreibt er die Website der eingestellten Zeitschrift "Halbjahresschrift für südosteuropäische Geschichte, Literatur und Politik", wo aktualisiert Texte zu seinen Forschungsgebieten erscheinen. Totok war Mitglied der internationalen Kommission zur Erforschung des Holocaust in Rumänien und wurde 2009 mit dem kulturellen Verdienstordens im Rang eines Offiziers vom rumänischen Präsidenten ausgezeichnet.

 

 

Franz Xaver Kappus: Biciul dispreţului. Povestea unui stigmatizat. Die Peitsche im Antlitz. Geschichte eines Gezeichneten. Prefaţa, tabel cronologic şi ediţie bilingvă îngrijită de William Totok. Traducere din limba germană şi note de Werner Kremm. Bucureşţi: Editura Muzeul Literaturii Române 2018, 247 S. ISBN 978-973-167-473-5

 

William Totok: ... an den Fahnenstangen fault die Wut. Gedichte und "Statt eines Nachworts. 'Es werden andere Zeiten kommen.' Zwanzig Jahre lang im Visier der Securitate". Ludwigsburg: Pop Verlag 2016, 222 S., ISBN 978-3-86356-135-2

 

William Totok, Elena-Irina Macovei: Între mit şi bagatelizare. Despre reconsiderarea critică a trecutului, Ion Gavrilă Ogoranu şi rezistenţa armată anticomunistă din România. Iaşi, Bucureşţi: Editura Polirom 2016, 366 S., ISBN 978-973-46-6127-5

 


Der Nerv

 

 

 

Vor 100 Jahren hielt die literarische Moderne Einzug in die Bukowina

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Der Krieg war beendet, die mehrfachen russischen Invasionen der Bukowina und ihrer Hauptstadt Czernowitz Vergangenheit, das frühere Kronland war gerade dem sich vergrößernden Kriegsverlierer Rumänien beigetreten, in den Pariser Vororten begannen die Friedensverhandlungen (auch über die Bukowina), rumänische Truppen besetzten Siebenbürgen und machten sich auf den Weg Richtung Ungarn, im Banat entstand eine sozialistische Republik, in der Ukraine und Rußland tobte der Bürgerkrieg zwischen der Revolution und den Antirevolutionären - vieles war Anfang 1919 in Bewegung und im Fluß. In Czernowitz sah der Literat Albert Maurüber die Gelegenheit für eine literarische Zeitschrift, die mit der Vergangenheit brach und sich den kritischen politischen Bewegungen annäherte, wie dies in Deutschland die Expressionisten bereits während des Krieges getan hatten. Es erschien am 1. Jänner 1919 die Nr. 1 von Der Nerv. Eine Halbmonatsschrift für Kultur mit seinem ersten Satz: "Spiel ist aus."

Maurüber, ein Sozialdemokrat, formulierte ähnlich seinen literarischen Gesinnungsgenossen in Berlin, Wien oder Prag in dem eröffnenden Manifest:

 

"Sturm des großen Sterbens ist zusammengebrochen und die durch Jahre in der Tat für den Mord standen sind umgekehrt vom Blutschnitte.

Krieg war. Mit feige verkniffenen Lippen standen die Menschen - Brüder! - gegeneinander. Und der Wurm des Hasses grub immer tiefer in ihren Augen. Aufflatterten Schreie der Verzweiflung aus angstverkrüppelten Mündern und fielen erkaltend übereinander zu Haufen: Unendliches Leiden... Erlösung ward."

 

Die aktivistische Zeitschrift gab sich anti-bürgerlich, ironisierte die Lokalpolitik, kritisierte das Theaterprogramm in Invektiven gegen den Direktor Guttmann, sah sich durchaus in Nähe zu Karl Kraus' in Czernowitz besonders erfolgreichem Zeitschriftenunternehmen der Fackel mit ihrer Pressekritik. Im ersten Heft schrieb Ernst Maria Flinker an den "Kamerad" Ludwig Rubiner, einen der bekanntesten Protagonisten des Berliner Expressionismus um die Zeitschrift Die Aktion, von dem später auch ein Text im Nerv abgedruckt wurde. Maurüber selbst schrieb über den Rat der Geistigen, den Kurt Hiller in Berlin gegründet hatte. Es entsprach nach dem Horror des Völkerkrieges einem brückenbauenden Impetus, dass auch Übersetzungen aus anderen Sprachen gebracht wurden, wie etwa von Lotar Wurzer zu Mihai Eminescu oder eine des jungen bosnischen Autors Ivo Andric, später auch des ukrainischen Nationaldichters Taras Schewtschenko. Interessant ist, dass Lotar Wurzer (dabei handelt es sich um den späteren Angehörigen des ZK der rumänischen KP, Lotar Rădăceanu) im dritten Heft das das habsburgische Imperium und seine übernationale Sozialdemokratie umtreibende Thema des Verhältnisses von Klasse und Nation aufgreift, auf dessen Beitrag dann auch Maurüber mehrfach reagiert.

 

Mit den Brüdern Flinker, Alfred Sperber, Artur Kraft tauchen auch Namen jener Schriftsteller auf, die nach ihrer expressionistischen Phase teil hatten an der Blüte der Gedichtkunst, die in den nächsten 20 Jahren die Stadt in der Bukowina mit den Gedichbänden von Alfred Margul-Sperber, Rose Ausländer, Moses Rosenkranz, Alfred Kittner, David Goldfeld erleben sollte. Sperber publizierte im Nerv sowohl Gedichte als auch Prosa.

Das Ende dieser Zeitschrift kam bereits im Herbst 1919 überraschenderweise wegen Auseinandersetzungen mit der sozialdemokratischen Druckergewerkschaft. Lange verschollen brachte vor 22 Jahren das Berliner Literaturhaus einen Neudruck der Zeitschrift mit einem ausführlichen, die Hintergründe beleuchtenden Nachwort des Iaşier Germanisten Andrei Corbea-Hoişie. (Der Band ist noch erhältlich!)

 

 

Der Nerv. Nachdruck einer expressionistischen Czernowitzer Kultur- und Literaturzeitschrift des Jahres 1919. Mit einem Nachwort von Andrei Corbea-Hoişie herausgegeben von Ernest Wichner und Herbert Wieser. Berlin 1997 (Texte aus dem Literaturhaus Berlin, 12), 276 S., ISBN 3-926433-11-6

 


Offenbach - Banat

 

 

S. Katharina Eismann zieht ungewöhnliche Linien durch die Welt

 

 

 

 

 

 

Offenbach, die Stadt des Leders am Main, war bisher nur durch die Tatsache, dass hier einige Zeit der Übersetzer Gerhart Csejka gelebt hat, mit dem karpatischen Raum assoziiert. Nun stellen sich ganz überraschend neue Verbindungen her. Die Künstlerin und Lyrikerin S. Katharina Eismann tritt eine traumhafte Reise in ihren Gedichten an, die am Wilhelmsplatz in der Mainstadt beginnt und in Temeswar endet. Es ist ein "Paprikaraumschiff" als Traumschiff, mit dem

 

"die Blechtrafikanten

shanteln

Balladen

Hoffnungsziganiaden

vom Fuchs

vom Hasen

vom Heim auf Straßen".

 

So geht es nach Erlebnissen auf dem Offenbacher Wochenmarkt Richtung "Süd, Südost und Osten". Nach dem Besuch des Donauschwäbischen Zentralmuseums in Ulm ein Zusammenprall mit einer Kellnerin in Wien:

 

"Ringdrall gestikuliert sie

die aufgespritzte Tante:

Tu kriegst schon tai Gölt

in Wien der grünschlammigen

Aktionszentrale an der Donau"

 

Über Belgrad wird das Banat erreicht, eine Leerstelle zunächst

 

"das Nest ist leer

Banat–Error".

 

Aber allmählich erschließt sich die Landschaft mit ihren Dörfern, die Stadt Temesvar mit ihren ausländischen Tramwagen:

 

"eine Spende aus der Fremde

die Elektrische ist in Rente

Bochum

Karlsruhe

steht auf lila Schläfen".

 

In den Dörfern (Livezile, Comloşu-Mic, Altfreidorf)  mit den Storchennestern scheint die Zeit zu stehen,

 

"die Betten noch ungemacht

das Dorf im Morgentaumel";

 

Frauen mit

 

"Zopfskulptur

eingeschweißt in Dorfschmalz

hat Mähne und Lachen verbannt

übers Halstuch hüpfen Wiesen

 

von sieben Unterröcken gestärkt".

 

So ist die Ankunft in der Herkunftsregion der Autorin eine verhaltene, fragende und staunende. Melancholie liegt in der Luft, aber auch die Ahnung des Besonderen des Banats. Eine gauklerische, eulenspiegelhaft-phantasievolle Reise an der Donau entlang nach Rumänien - unterhaltsam und hintersinnig! In einem überlegt gestalteten Buch.

 

 

S. Katharina Eismann: Reise durch die Heimat. Von Offenbach nach Temeswar. Gedichte. Größenwahn Verlag Frankfurt a.M. 2017, geb., 112 Seiten, ISBN 978-3-95771-178-6

 


"Kleiner" Roman - ganz groß

 

 

Das Rumänien der 1980er Jahre aus der Perspektive eines Kindes

 

 

 

 

 

 

Es sind nicht die "großen" Ereignisse, die in diesem flüssig erzählten Roman Thema werden: der Sommerurlaub am Schwarzen Meer, die eigene Familie und die des Onkels, die Rückkehr nach Bukarest, die Streitereien der Eltern, der Wunsch des Vaters nach der Ausreise aus dem anstrengenden Rumänien der Endphase des sozialistischen Experiments. Aber das Mädchen beobachtet genau, eigenwillig und immer an der Geschichte orientiert, die auf diese Art einen eigenen Sog entwickelt. Es entgeht ihr nicht, dass die schöne eigenwillige Mutter den Schwager besonders behandelt, dass der Vater unglücklich über seine Arbeit im Mangelstaat Rumänien ist, dass der Cousin ihr zu gefallen beginnt. Hinzu kommen die Erlebnisse im Kindergarten zwischen patriotischen Liedern und der täglichen Routine, das Spiel mit den Nachbarskindern, nicht immer erfreuliche Wahrnehmungen des Geschlechts, Telefongespräche mit einer Erwachsenen, die niemand je gesehen hat, und all dem, was sonst so den kindlichen Alltag in Bukarest ausmacht. Die Geschichte hält sich eng, aber phantasievoll an den Erlebnishorizont des Mädchens. (Wobei die Frage auftaucht, ob nicht eher ein Schulkind als eines des Kindergartens diese Wahrnehmungen artikulieren könnte.) Was sichtbar wird, ist die fragile "Normalität" einer Kinderwelt, in der die Dinge so genommen werden, wie sie erscheinen. Und dennoch tauchen immer wieder bohrende Fragen auf nach der unbekannten möglichen Welt hinter diesen Erscheinungen, Gesten und Dingen.

Der erste Roman der Drehbuchautorin und Texterin Ilinca Florian bietet eine anziehend und gekonnt geschilderte Geschichte in ihrem nur auf den ersten Blick unscheinbar wirkenden Verlauf, deren Ende eine unerwartete Überraschung bereit hält.

 

 

Ilinca Florian: Als wir das Lügen lernten. Roman. Karl Rauch Verlag Düsseldorf 2018, geb., 190 Seiten, ISBN 978-3-7920-0252-0

 


Rumänien kaleidoskopisch

 

4 Anthologien

 

 

 

Die vergangene Leipziger Buchmesse mit ihrem Schwerpunktland Rumänien brachte zahlreiche Übersetzungen rumänischer Litera-tur. Erhöht wurde die Zahl durch unterschiedliche Anthologien, die erzählende, lyrische, essayistische Splitter boten, um so möglichst viele AutorInnen und Texte - wenn auch oft gekürzt - der interes-sierten Leserschaft verfügbar zu machen. Hier seien vier neuere Anthologien vorgestellt.

 

 Als vor zwei Jahren Elsa Lüder die Anthologie Einladung nach Rumänien zusammenstellte, scheint dies noch aus der vorherrschenden Überlegung geschehen zu sein, wie einem offensichtlich rumänische Literatur kaum wahrnehmenden Lesepublikum eben diese "schmackhaft" gemacht werden könne. Das Konzept, das sie zeitweise mit Studierenden der Universität Freiburg umsetzte, versuchte möglichst viele Aspekte zu berücksichtigen. So wurden junge AutorInnen übersetzt und  am Schwarzen Meer Sommercamps mit einigen Autoren abgehalten. Ergänzt wurde die Auswahl zudem durch einige klassische Texte der rumänischen Literatur (Caragiale, Hogaş, Jean Bart, Filimon, Macedonski, Cella Serghi) und im Anhang durch eine bildliche und bio-bibliographische Vorstellung. Ein fast schon enzyklopädischer Ansatz.

Es sind dabei durchaus Entdeckungen zu machen: Etwa der Moldauerin Nicoleta Esinencus "Moldauisches Rap-Mosaik" aus Sowjetzeiten, oder Luminiţa Cioabăs Gedicht "Der Zigeunerengel". Gabriel Horaţiu Decuble stellt die Atmosphäre des verregneten Bukarester Ausgehviertels Lipscani vor - und eine dementsprechende Gefühlslage bei seinen Protagonisten. Adrian Schiop erzählt vielschichtig eine grasgeschwängerte Geschichte von rumänischen "Losern" in Neuseeland - mit einer Rumänin als Zentralfigur.

Einige der bei Lüder gebotenen Ausschnitte sind mittlerweile in voller Übersetzung vorhanden, wie etwa Varujan Vosganians "Buch des Flüsterns" oder Florin Lăzărescus "Sonderberichterstatter".

 

Zwei Jahre nach Lüders Anthologie ist die Situation ganz verän-dert, als das Gastland der Leipziger Buchmesse Rumänien heißt: Jetzt sind in einer Übersetzungs'flut' von über 40 Titeln drei Anthologien auf dem Lesemarkt sichbar - und diese Textsamm-lungen haben durchaus Aufmerksamkeit gefunden.

 

 

 

"Rumänien neu erzählen" hat sich die Anthologie Wohnblockblues mit Hirtenflöte, hg. v. Michaela Nowotnick und Florian Kührer-Wielach, vorgenommen. In ihr sind sowohl aus Rumänien kommende wie auch das Land von außen bzw. durch mehr oder weniger intensive Reiseeindrücke kennende AutorInnen vertreten. Bis auf Dana Grigorcea aus Bukarest, die in Zürich lebend auf Deutsch schreibt, haben die aus Rumänien Kommenden alle Siebenbürgen oder das Banat als Herkunftsregion. Eine der intensiveren Stimmen lässt die Lyrikerin Elke Erb verlauten mit ihren Gedichten, Beobach-tungsfragmenten, Erinnerungen, etc. an und in Siebenbürgen. Zugleich evoziert die Lyrikerin in ihren Lektüre- und Reflexionssplittern auf ganz eigene Weise auch eine DDR-Perspektive auf Siebenbürgen und Rumänien.Ergänzend die genauen und zugleich phantastischen Beobachtungen von Uwe Tellkamp bei einer Fahrt von Sofia über Rumänien nach Dresden mit Besuchen bei Mircea Cărtărescu und Eginald Schlattner. Auch ein Interview der Herausgeberin mit Ingo Schulze hebt auf diese besondere Beziehung der DDR-Bewohner zu Rumänien ab. William Totok erinnert in zwei Gedichten an historische und mentale Kontinuitäten, Jan Koneffke ehrt Nora Iuga und Bukarest, während Alexandru Bulucz rumänische Moral und Landschaften durcheinander wirbelt und Dana Grigorcea rumänische Frauen erinnert. Vier der BeiträgerInnen sind Gewinner des von Frieder Schuller initiierten Katzendorfer Dorfschreiberpreises.

 

Die beiden anderen Anthologien sind solche, die konsequent rumänische AutorInnen in deutscher Übersetzung zu Wort kommen lassen. Hier tauchen vor allem jüngere VertreterInnen der rumänischen Literatur auf, es wird hingewiesen auf neue Talente und zahlreiche unübersetzt und hierzulande leider bisher unbekannt gebliebene AutorInnen, die in anderen Sprachen zwar häufig präsent und bekannt sind, von denen das Literaturland Deutschland aber bisher kaum Notiz genommen hat.

 

 

 

Bei Das Leben wie ein Tortenboden haben mit den HerausgeberInnen Daniela Duca, Anke Pfeifer und Valeriu Stancu zahlreiche Studierende durchweg überzeugende Übersetzungen von viel versprechenden Romanfragmenten und einer Erzählung geliefert. Hervorragend etwa die Geschichte von Ovidiu Nimigean aus seinem Roman Rădăcina din bucsau über das Sterben der Mutter und die Wiederbegegnung mit der getrennten Freundin. (Letzteres ein häufiges Motiv in den Anthologien). Sehr kunstvoll und eindringlich die Erzählung von Petru Cimpoeşu über eine Mutter, die einen Geldschein verliert oder Marta Petreu über eine Kindheit mit einem Vater, der zu den Zeugen Jehova übertritt und einer Mutter, die dies hartnäckig ablehnt. Nora Iuga entwirft in ihrem Roman Harald şi luna verde Biographien von jüdischen Ballettänzern zwischen Rumänien und Deutschland vor und nach dem Zweiten Weltkrieg. Adina Rosetti schlüpft in die Rolle eines Computerfreaks, Corina Sabău beobachtet das konfliktreiche Familienleben in einem Wohnblock. Ein Kabinettstück von Erzählkunst ist Ioana Părvulescus Viaţa începe vineri, von dem der gebotene Ausschnitt eine vielseitige Erzählung aus dem Leben am Ende des 19. Jahrhunderts in Bukarest bietet.

 

Eine gewisse Tradition weist die verdienstvolle Zeitschrift "die horen" auf, die bereits mehrere Hefte der rumänischen Literatur widmete. Zur Messe erschien das schöne, von Bogdan-Alexandru Stănescu, Georg Aescht und Ernest Wichner herausgegebene Heft Nr. 249 Die Entführung aus dem Serail, das "Rumänische Erzählungen aus dem letzten Jahrzehnt" und einen farbigen Kunstteil "Black Dreams" von Răzvan Luscov bietet. Der überraschende Hefttitel geht auf eine Erzählung von T.O. Bobe zurück, in der das heimatliche Constanţa die Kulisse für eine phantastisch orienthafte Atmosphäre einer tragischen verbotenen Liebesgeschichte abgibt - eine große Entdeckung ist dieser Autor! Von Radu Pavel Gheo gibt es ein ebenso lustiges wie bezeichnendes Capriccio aus der banater Kindheit, die von der Grenzlage zu Jugoslawien profitierte (es ging später in Gheos großen - immer noch unübersetzten! - Roman "Noapte bună, copii!" ein). Die Mehrzahl der etwas männerlastig ausgewählten Erzählungen handelt von dem heutigen Leben junger Menschen in Rumänien, Lavinia Branişte ebenso wie Ana Maria Sandu entwerfen kleine Einblicke in die Beziehungsnöte junger Frauen, Veronica D. Nicolescu fügt ihnen noch eine bezeichnende historische Facette aus den Studentinnenheimen der Ceauşescu-Zeit hinzu. Aber auch in Bogdan Răileanus "Kochen für Lesbierinnen" ist die Perspektive die vom speziellen Stress einer erfolgreichen jungen Mutter, während Răzvan Petrescu gegenläufig die eines alt gewordenen Vaters meisterhaft in eine kleine Form fasst.  Weitere Themen und Motive sind genügend in dem Heft zu entdecken.

 

So machen die vier Anthologien bei genauerem Hinsehen eine sehr unterschiedliche Figur, erweisen sich je nach Anlage als Füllhörner für rumänische Literatur, siebenbürgisch-banater und deutsche Perspektiven oder suchen auch die Klassiker in ein Gesamtbild der rumänischen Literatur zu integrieren. Lesenswert und unterhaltsam sind sie allemal!

 

 

Einladung nach Rumänien. Klassische und moderne Erzählungen aus dem Rumänischen übersetzt und herausgegeben von Elsa Lüder. Edition Noack&Block in der Frank&Timme GmbH Berlin 2016, 355 Seiten, br., ISBN 978-3-86813-032-4, m. Autorenfotos

 

Wohnblockblues mit Hirtenflöte. Rumänien neu erzählen. Hg. v. Michaela Nowotnick u. Florian Kührer-Wielach. Wagenbach Verlag Berlin 2018 (Wagenbachs Taschenbuch 794), 239 Seiten, br., ISBN 978-3-8031-2794-5

 

Das Leben wie ein Tortenboden. Neue Rumänische Prosa. Hg. v. Daniela Duca, Anke Pfeifer, Valeriu Stancu. Transit Verlag Berlin 2018, geb. m. Schutzumschlag, 240 Seiten, ISBN 978-3-88747-363-1

 

Die Entführung aus dem Serail. Rumänische Erzählungen aus dem letzten Jahrzehnt. Zusammengestellt von Bogdan-Alexandru Stănescu, Georg Aescht und Ernest Wichner. die horen. Zeitschrift für Literatur, Kunst und Kritik. Nr. 269, Wallstein Verlag Göttingen 2018, br., 219 Seiten, ISSN 0018-4942 ISBN 978-3-8353-3194-5, m. einem Kunstteil von Răzvan Luscov

 


Lyrik bei Pop:

Hurezeanu und Christi

 

 

 

 

 

Das größte Verlagshaus für rumänische Literatur in deutschen Übersetzungen hat  einen Schwerpunkt auf Dichtung

 

 

Emil Hurezeanu aus Hermannstadt verließ das kommunistische Rumänien 1982 mit einem Stipendium des Herder-Preises für Ana Blandiana. In Deutschland wurde er ein aus Rumänien vielfach bewunderter und hoch angesehener Redakteur bei Radio Free Europe, mittlerweile ist er seit einigen Jahren bereits Botschafter Rumäniens in Berlin. Jenseits des Journalistischen war Hurezeanu aber auch ein wichtiger Lyriker. Sein erster Gedichtband Lecţia de anatomie (Die Anatomiestunde) erhielt 1979 den Preis des Schriftstellerverbandes für das Debut. Gedichte begleiteten seinen Werdegang, jetzt hat der Pop Verlag zwei Bände der Gedichte Hurezeanus in der Übersetzung Georg Aeschts veröffentlicht: einmal den frühen Band Die Anatomiestunde von 1979 und eine Sammlung weiterer Lyrik (die Die Anatomiestunde noch einmal enthält).

 

Hurezeanus Lyrik ist vielseitig: formal, thematisch, perspektivisch. In der Einteilung in "Abendwache", "Nachtwache" und "Morgenwache" reflektiert Die Anatomiestunde über die großen Themen des Lebens und des Todes, die Liebe, aber auch persönliche Erfahrungen wie das Eintauchen in die Atmosphäre der Kleinstadt. Unter der Oberfläche der Themen aber zeigt sich in den Wortgefügen eine komplexe Denkweise, ein rumänisches Denken der Wörter, das ungewöhnliche Gedanken und Blüten der Sprache zur Welt bringt.

 

Kommunion

 

Wie auf dem weißen Antlitz des Mannes

Der Zweig jungen Blutes gesprossen ist und

Den Schnee des Rasierschaums

Wie ein mineralischer Quellbach durchfließt.

 

So ist in den frischen Bäumen

Der Frühling Leben und Gift.

 

Die Gedichte des zweiten Bandes  Ultimele, primele (Bukarest 1994; in der deutschen Übersetzung umgekehrt: Die Ersten, die Letzten) sind näher an den Anlässen ihrer Entstehung, welthaltiger, Namen aus der Öffentlichkeit treten auf. Fast schon episch in seiner panoramatischen Perspektive das großartige Gedicht "Die Abwesenheitserklärung", in dem die postrevolutionären Zweifel zum Rückblick auf die Diktatur führen: 

 

"[...]

 

Aber erinnert ihr euch noch, Mädels und Jungs meiner Generation, an

Echinox, dreisprachig, Montagsliteraturkreis, Dialog,

Amfiteatru, Forum, Izvorul Mureşului, Festival Eminescu,

Ars Amatoria, Podul, Jazzfestival Hermannstadt, Club A,

Begegnungen von Hermannstadt, Abende in Costineşti, 15.

September in Klausenburg, 24. Januar in Jassy, 25. Dezember in Bukarest

[...] "

 

Die Erinnerungen werden aufgehoben von einem abgeklärten Blick in die Zukunft, von dem, was sich nach der Wende abzeichnete:

 

"[...]

Die kleinen und großen Schrecken werden nur noch den Hauch

Einer wohl erhaltenen Mumie verströmen

In irgendeinem Museum der Verheerungen, das die Schüler lieben

Und die Widerstandskämpfer meiden.

[...]"

 

Aber Hurezeanu ist nicht auf dieses vermeintlich nur politische Thema zu reduzieren, vielmehr finden sich hier wie auch in anderen Gedichten persönliche Reflexionen, intime Situationen, genaue Beobachtungen von Befindlichkeitenm ein Gedicht an den noch ungeborenen Sohn - ein weites Panorama rumänischer Nachwende-Aktualität!

 

 

Aura Christi ist das Pseudonym der in Chişinău geborenen Lyrikerin Aurelia Potlog. Schon diese Namenswahl lässt auf eine besondere Verbindung zu einer religiös-metaphysischen Sphäre erwarten, was ihre Lyrik auch teilweise einlöst. Das Pseudonym kann aber auch im Zusammenhang mit in den Biographien berichteten Schicksalsschlägen zu tun haben, die die Autorin trafen: zeitweilige Blindheit durch eine Erkrankung, mehrere Operationen hierzu, Überwindung  der Tuberkulose, Depressionen. Die Übersetzerin Edith Konradt schreibt im Nachwort zu den Elegien aus der Kälte, dass Potlog "ihre Künstlerexistenz von Anfang an dem sich weigernden Körper abtrotzen musste." Dabei entstand aber ein durchaus monumentales, mehrfach preisgekröntes Werk der Vielleserin: eine Tetralogie von Romanen, zahlreiche Gedichtbücher, Essaysammlungen. Zudem war Christi stellvertretende Chefredakteurin der Zeitschrift "Contemporanul" in Bukarest.

 

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FILIT Iaşi - zum 6. Mal

 

Bereits zum sechsten Mal findet in Iaşi/Jassy das Internationale Literatur- und Übersetzungsfestival FILIT (Festivalul Internațional de Literatură și Traducere Iași) statt. Es hat sich als eines der, wenn nicht das wichtigste literarische Festival in Rumänien etabliert und in wenigen Jahren eine große Zahl von AutorInnen, ÜbersetzerInnen und JournalistInnen in die Kulturmetropole im Nordosten Rumäniens an der Grenze zur Republik Moldau geführt. Herta Müller, Norman Manea, Mircea Cărtărescu, Gao Xingjian, Andrzej Stasiuk, Jonathan Coe, David Lodge, Sadie Jones, Aris Fioretos, u.a. sind nur die international bekannten Namen des für die rumänische Gegenwartsliteratur unverzichtbar gewordenen Unternehmens.  In diesem Jahr werden Jonathan Franzen, Goncourt-Gewinner Éric Vuillard, Gabriela Adameşteanu, Juri Andruchowytsch, Veronika Roth, Ioan Es. Pop, Nichita Danilov, Mariana Codruţ, Robert Şerban, Florina Ilis, Marin Mălaicu-Hondrari, Sylvie Germain u.v.a. teilnehmen, aus Deutschland u.a. die Übersetzerinnen Eva Ruth Wemme und Ingrid Baltag.

 

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FILIT Iaşi

 

Die sechste Ausgabe des größten Literaturfestivals Osteuropas

 

 

 

 

 

 

Iaşi im Oktober 2018: FILIT, das poppige Hinweisschild auf die Casa Pogor (das Literaturmuseum) und der allgegenwärtige Schatten Eminescus         Foto:www.kultro.de

 

 

 

Die Veranstalter hatten fürsorglich die Wettervorhersage bemüht und die Gäste auf Regen und Kälte vorbereitet – Windjacken und feste Schuhe seien mitzubringen. Wer Iaşi im Herbst kennt, weiß, dass in dieser Jahreszeit meteorologisch alles möglich ist – aber letztlich war es dieser nicht endend wollende unheimliche Sommer, der strahlenden Sonnenschein und angenehme Temperaturen während FILIT, dem „Internationalen Festival für Literatur und Übersetzung Iaşi“, brachte. Das Event begeisterte viele Besucher durch seinen harmonischen Ablauf und die gleichermaßen lässige wie auch intensive Atmosphäre.

Auf dem zentralen Platz der osteuropäischen Kulturmetropole – der Piaţa Unirii (Vereinigungsplatz) – stand um das Denkmal des Alexandru Ioan Cuza die „Casa FILIT“, eine kleine Zeltstadt, die temporär Anlaufstelle für die AutorInnen, JournalistInnen, BesucherInnen und Neugierige war. Es  bewährte sich trotz weniger Windstöße, die an den Zelten rüttelten, dennoch wieder einmal das Vertrauen der Veranstalter, ohne viel Aufwand eine Location zu schaffen, von der aus das Festival sich für vier mit über 100 Veranstaltungen voll gepackte Tage in die Stadt und über das Internet – gewissermaßen – „world wide“ verbreiten werde.

FILIT zeichnet sich durch vier bemerkenswerte Features aus: Es hat die absolut größten Namen, es geht in die Stadt und in die Schulen und Universitäten, es animiert SchülerInnen und StudentInnen sich als „volunteers“ mit dem Festival zu identifizieren und es hat die Arbeit der ÜbersetzerInnen perma-nent zum Thema gemacht, d.h. es fördert auf diese Weise die Übersetzung rumänischer Literatur. Dies sind der „Alleinstellungsmerkmale“ genug, aber ebenso wichtig ist die wohl überlegte Organisation der Abläufe und Betreuung der Gäste. So wird es vielfach nicht zu Unrecht von SchriftstellerInnen als das größte und beste Literaturfestival Osteuropas bezeichnet.

Am kleinen Flughafen finden sich schnell einige angereiste Teilnehmer, der norwegische Schriftsteller Carl Frode Tiller, die deutschen Übersetzerinnen Ingrid Baltag und Eva Ruth Wemme, die schwedische Übersetzerin Inger Johansson. Ein Fahrer bringt sie in das Hotel Unirea, das direkt am Platz des Festivals gelegen ist, ein Betonblock aus früheren Zeiten, jetzt geschickt renoviert und ideal für die Unterbringung der FILIT-Gäste geeignet. Vom Restaurant im 13. Stock hat man nicht nur einen tollen Blick auf das wie eine Miniatur aussehende Zeltensemble mit einem Zelt der Verlage, sondern weit über die Stadt.

Am Abend offizielle Eröffnung im Nationaltheater. Seit einigen Jahren endlich renoviert strahlt es in Blattgold und Stuck, ein historischer Rahmen für die großen Events, geeignet für Sylvie Germain und Gabriela Adameşteanu. Zuvor spricht der Schriftsteller Lucian Dan Teodorovici, der Direktor des Literaturmuseums und des Festivals, und erhält von dem Vorsitzenden des Kreisrats eine Medaille für seine Arbeit und das Festival; ein bemerkenswerter Vorgang, weil er zeigt, dass sich FILIT in der Stadt durchgesetzt hatauch gegen engstirnige und am Eigenwohl orientierte Politiker. Der Kreisrat (Consiliul Judeţean) finanziert einen Großteil der Kosten, so dass das Festival gesichert ist für die nächsten Jahre. Zudem es Unterstützung durch die EU gibt. Im Saal auch der Polirom-Verleger Silviu Lupescu, die Chefredakteurin des "Observator Cultural" Carmen Muşat, der Schriftsteller und Parlamentarier Dan Lungu aus Iaşi, der 90-jährige Ion Vianu, Sozialpsychologe und Essayist, seit Jahren aus dem Schweizer Exil zurückgekehrt und eine vielbeachtete intellektuelle Gestalt in Rumänien, der in gewisser Weise das Erbe seines Vaters, des Literaturprofessors Tudor Vianu fortsetzt. Wegen der akribischen Fragen gerät das Gespräch zwischen den Schriftstellerinnen etwas akademisch, die Reaktionen des Publikums und manche Antwort lassen dies bemerken. Am nächsten Abend wird Robert Şerban aus Temeswar daraus gelernt haben und mit einer Flasche Whiskey und Begeisterung für das Werk seines Gastes Jón Kalman Stefánnson aus Island eine lebendige und publikumswirksame Präsentation hinlegen. Ebenso auf andere Weise auch Marius Chivu mit Jonathan Franzen am Abend darauf, der den Gast mit schrägen Fragen zu provozieren sucht und ihm ebenfalls ein Geschenk macht, das dieser nicht ausschlagen kann.

Aber nicht nur am Abend wird über Literatur gesprochen, die Tage sind komplett gefüllt im Kulturpalast, in der Uni, in Schulen, Museen, dem "Palatul copiilor" (Palast der Kinder), wo unterschiedlichstes Publikum auf rumänische und anderssprachige Schreibende trifft. Das Interesse ist immer gegeben, wenn etwa Jurij Andruchowytsch und Roland Orcsik vor Schulklassen, die ihre Bücher gelesen haben, über ihre Erfahrungen mit Sprachen und der Vergangenheit sprechen. Im aufwendig restau-rierten riesigen Kulturpalast, der wie ein Loire-Schloss wirkt, ist der Ukrainer wegen seines ins Rumä-nische übersetzten frühen Buches „Moscoviada“ über seinen Aufenthalt in der russischen Hauptstadt um 1990 gefragt, während der in Jugoslawien geborene Ungar Roland Orcsik über seinen Weggang aus der Voivodina wegen des Jugoslawienkriegs nach Ungarn spricht.

Im Pressezelt findet der tschechische Autor Tomáš Žmeškal großes Interesse mit seinem auto-biographischen Roman über seinen kongolesischen Vater und das Leben im oppressiven kommunis-tischen Regime der CSSR. Žmeškal ist Träger des Europäischen Buchpreises und ein viel gefragter Interviewpartner – hat man von ihm in Deutschland je gehört?

Das ist das Erfreuliche an einem solchen Festival: Man lernt nicht nur rumänische AutorInnen und ihre Bücher und Themen kennen, sondern der Blick weitet sich auf benachbarte, ähnliche Fragestellungen und Themen. Rumänischsprachig ist Iulian Ciocan aus Chişinău, der bereits drei Romane über seine Heimatstadt im Iaşier Verlag Polirom und einen weiteren bei Tracus Arte publiziert hat. Er benennt einige der Probleme der Literatur in der Republik Moldau, wo es kein wirklich organisiertes literarisches Leben außerhalb der Hauptstadt gebe. Es fehle am bürgerschaftlichen Engagement, an der Einsicht in die Bedeutung der Kultur. Seine kurzen Romane mit absurd-kafkaesken Zügen behandeln Chişinău in verschiedenen Stadien seiner jüngeren Geschichte und der Zukunft – von Breschnews Tod über die Abspaltung Transnistriens bis in die endlose „Transition“ der Republik Moldova.

Während des Gesprächs im Zelt interviewt im Hintergrund Mirko Schwanitz vom Deutschlandfunk die erst zehnjährige Delia Calancia, die wie selbstverständlich zu FILIT eingeladen wurde, da sie ein selbst geschriebenes und gezeichnetes Buch im großen Humanitas-Verlag vorzuweisen hat. Klar, dass Kinder zur Lesung mit ihren Lehrerinnen kommen und so eine weitere Tür zum Lesenachwuchs geöffnet wird.

Florina Ilis diskutiert mit dem Lyriker Radu Vancu im Eminescu-Museum am Copou über die brillante Idee des Literaturmuseums, zeitgenössische AutorInnen zu bitten, eine kurze Romanbiographie eines der in den elf Literaturmuseen der Stadt ("case memoriale") vertretenen Schriftstellers zu schreiben. Da ihr mit vielen Preisen ausgezeichneter Roman "Vieţile paralele (Parallele Leben)" das Nachleben Eminescus thematisiert, war sie die ideale Autorin, um die Iaşier Liebesgeschichte zwischen dem 'Nationalpoeten' und der Dichterin Veronica Micle in der Reihe der "Scriitori de poveste" (Geschichtenerzähler) zu schreiben.

Am Abend gibt es bei der Weinprobe angeregte Gespräche mit dem rumänisch-französischen Übersetzerpaar Courriol und der schweizer Schriftstellerin Catherine Lovey, Jean-Louis Courriol war 1975-77 Lektor an der Universität in Iaşi. Und mit Dan Lungu, spiritus rector der neueren Iaşier Literaturszene, die die literarische Gruppe „Club 8“ und FILIT hervorbrachte, der aus seiner Perspektive als Senator für die junge Partei USR im Parlament über die Wirren der rumänischen Politik erzählt, was insbesondere auch den japanischen Journalisten Nagayo Taniguchi interessiert, der aus Brüssel angereist ist und sonst meist über militärstrategische Fragen schreibt, von dem Festival aber wie alle sehr begeistert ist...

Beim Abschied spricht Florin Lăzărescu, Organisator des Festivals, Schriftsteller und Drehbuchautor, über die Wahrnehmung der Stadt und von FILIT durch AutorInnen, die nicht nur zum ersten Mal teilnehmen. Es sei für die meisten eine große Entdeckung gewesen in der kommunikativen Atmosphäre des Festivals diese Stadt und die rumänische Literatur zu erleben. Dies lässt auf weitere Ausgaben gespannt bleiben.

 


Gabriela Adameşteanu beim ilb

 

Das Internationale Literaturfestival Berlin findet dieser Tage zum 18. Mal statt und zählt unter den rumänischen Gästen auch Gabriela Adameşteanu. Bei der Präsentation durch den Übersetzer und Lyriker Ernest Wichner auf der Bühne im gut besuchten Haus der Berliner Festspiele wird über ihr neues

Foto:www.kultro.de

 

Buch, d.h. den in Deutschland gerade erstmals in Übersetzung publizierten Roman "Verlorener Morgen" (Dimineaţă pierdută) gesprochen, der bereits 1984 (!) in Rumänien erschien. Wichner wies darauf hin, dass der Roman als ihr Hauptwerk verstanden werden könne, das im Laufe der Zeit in Rumänien einen gewissen Kultstatus gewonnen habe. Nach den Entstehungsumständen befragt, erwähnt Adameşteanu die Zensur, die ein Kapitel über den Krieg und einzelne Äußerungen  beanstandete, so dass der integrale Roman erst nach der Wende vollständig erscheinen konnte.

Er schildert in einer Art Mosaiknarration unterschiedliche Szenen aus der Erinnerung einer älteren Frau an ihre Familie, vom Ersten Weltkrieg über das ganze Jahrhundert verteilt bis in die Gegenwart der 1980er Jahre. Wichner erkennt in dieser Form des Romans auch Allusionen zu Adameşteanus Uni-Abschlussarbeit über Marcel Proust, was die Autorin nicht verneint. In der lebendigen Lektüre durch die Schauspielerin Naomi Krauss wurde die Stimme der Erzählerin präsent, es entstand jener Sog in die Geschichte hinein, die in einer Art Gedächtnisstrom die Bukarester Familie in zahlreichen ihrer Erlebnissen aufruft. Auf Nachfrage aus dem Publikum erklärte Adameşteanu, dass sie zwar in Târgu Ocna geboren sei, aber durch die Versetzung ihrer Eltern als Lehrer u.a. auch in Piteşti länger gewohnt habe und erst mit 18 Jahren nach Bukarest gekommen sei. Dort spielen allerdings dann alle ihre Romane, von denen jetzt drei auf Deutsch vorliegen. Ernest Wichner lobte die Übersetzerin Eva Ruth Wemme, die "Dimineaţă pierdută" hervorragend übertragen habe.

Gabriela Adameşteanu war nach der Wende von 1989 lange Chefredakteurin der Zeitschrift "22", bevor sie wieder zur Literatur zurückkehrte. Auf diesen Wechsel angesprochen erklärte sie, dass auch in demokratischen Zeiten eine Chefredakteurin unterschiedlichen Pressionen ausgesetzt sei und ihr daher die Rückkehr zur Literatur eine nahe liegende Option erschien. Die Stimme der rumänischen Literatur in deutschsprachigen Raum ist mit den Übersetzungen der Werke Adameşteanus jetzt eine deutlicher erkennbare geworden.

 

Gabriela Adameşteanu: Verlorener Morgen (Dimineaţă pierdută) Roman. Aus dem Rumänischen von Eva Ruth Wemme. Die andere Bibliothek Berlin 2018, 561 Seiten, ISBN 978-3-8477-0404-1

Der gleiche Weg an jedem Tag. (Drumul egal al fiecărei zile). Roman.  Aus dem Rumänischen von Georg Aescht. Schöffling Verlag Frankfurt  a.M. 2013, Seiten, ISBN 978-3-89561-297-8

Begegnung. (Întâlnirea), Roman. Aus dem Rumänischen von Georg Aescht. Wieser Verlag Klagenfurt 2018, Seiten, ISBN 978-3-99029-287-7

 


Florian und Mihuleac beim ilb

- und Ernest Wichner

 

 

 

 

 

 

 

(v.l.: Ernest Wichner, Filip Florian, Roland Schäfer) Foto: www.kultro.de)

 

Einiges zu tun hatte Ernest Wichner beim Internationalen Literaturfestival in Berlin (5.-15.9.2018). Nicht nur las er eigene Lyrik, sondern moderierte vier Veranstaltungen mit rumänischer Beteiligung. An seiner früheren Wirkungsstätte Literaturhaus stellte er Filip Florian mit seinen übersetzten Büchern "Kleine Finger" (Degete mici) und "Alle Eulen" (Toate bufniţele) vor.

Gleich zu Beginn hatte Wichner die erfreuliche Neuigkeit, dass das neue Buch Florians, "Zilele regelui" (Tage des Königs), sich in Übersetzung  befinde. An den beiden vorgestellten Büchern fällt das Interesse des Autors an der Geschichte auf: In "Kleine Finger" ist es die Entdeckung eines Massengrabs, das Spekulationen auslöst, in "Alle Eulen" befreundet sich ein Junge mit einem älteren Mann und lernt von diesem einiges über das Jahr 1944 und den Zweiten Weltkrieg. Florian bemängelte, dass in Rumänien junge Menschen über die bedeutendsten Ereignisse der Geschichte des Staates oft nur geschönte Kenntnisse besäßen, die in den Schulbüchern stehen. So sei die Eroberung von Odessa zu Beginn des Überfalls auf die Sowjetunion für viele immer noch der größte Sieg der rumänischen Armee, wobei die Massaker an den Juden geflissentlich verschwiegen werden. Die den Text markant vergegenwärtigende Lesung durch den ehemaligen Schaubühnen-Schauspieler Roland Schäfer (der seit der ersten Ausgabe des Festivals als Vorleser aktiv ist!) zeigte auf, dass Florian weniger Handlungsstränge verfolgt, als unnachahmlich intensiv Beobachtungen und Reflexionen zu verbinden weiß.

Szenenwechsel: Vom Literaturhaus ging es die Fasanenstraße entlang in das nahe gelegene Haus der Berliner Festspiele, wo Wichner einem interessierten Publikum den Autor Cătălin Mihuleac mit "Oxenberg & Bernstein" (America de peste Pogrom; s. Politik/Geschichte) vorstellte. Mihuleac erklärte neben den Schwierigkeiten, diesen Roman über das Pogrom in Iaşi 1941 in der rumänischen literarischen Landschaft durchzusetzen, seinen Ansatz einer "Rock-Oper" mit einem drastisch-frechen Register, das die Jugend anziehen könne. Die adäquate Lesung einer geschickt gewählten Textpassage durch den Schauspieler Matthias Scherwenikas machte diese Absicht unmittelbar  plastisch und überzeugend. 

 

Wichner, Cătălin Mihuleac, Matthias Scherwenikas

Foto: www.kultro.de

 

Filip Florian: Kleine Finger (Degete mici). Roman. Aus dem Rumänischen von Georg Aescht. Suhrkamp Verlag Berlin 2008, 269 Seiten, ISBN 978-3-51840-014-0

Alle Eulen (Toate bufniţele). Roman. Aus dem Rumänischen von Georg Aescht. Verlag Matthes & Seitz Berlin 2016, 213 Seiten, ISBN 978-3-95757-221-9

Cătălin Mihuleac: Oxenberg & Bernstein (America de peste pogrom). Roman. Aus dem Rumänischen von Ernest Wichner. Paul Zsolnay Verlag Wien 2018, 366 Seiten, ISBN 978-3-552-05883-5


Das Leben des Schriftstellers als Alltagsmensch

 

Florin Lăzărescus Roman "Seelenstarre"

 

Jewgenij ist Schriftsteller, jedenfalls so eine Art. Denn er gibt seinen prekären Antiquariatshandel auf, nachdem die Bücher durch Wasserrohrbruch im Keller zu einem riesigen Eisklumpen gefroren sind und annonciert als zukünftige Beschäftigung das Fabrizieren von Texten an. Diese und ähnlich mehr oder weniger epochale Ereignisse begegnen dem Helden dieses Romans permanent, so dass jeder Nimbus und jede literaturbetriebliche Hype um das Image des Autors von Beginn an keine Chance hat in diesem sehr geerdeten Roman des Iaşier Autors Florin Lăzărescu.

Es ist ein Alltag, wie er fast schon ethnographisch in manchen kleinen Hinweisen auf Gegenstände, Denkweisen, Beschreibungen aufscheint, der  das Leben der meisten RumänInnen bestimmt. Jewgenij, geplagt von Panikattacken und wechselnden Interessen, wohnt zur Untermiete bei Frau Valeria Stoican, einer Witwe mit labiler Gesundheit, die allmählich merkwürdige Ansichten und Verhaltensweisen zeigt, bis sie zur Tat schreitet und sich die Haare abschneidet und den Kopf rasiert.

Solche Details des Romans tragen zur allgemeinen Absurdität bei und werfen ironisches Licht auf die Alltagsszenerie, deren Oberfläche gepflastert ist mit trivialen Welterklärungen, Wikipedia- und Discovery-Halbwissen, merkwürdigen Philosophemen, dem Rätsel der Beatles in Oneşti und was der Tag und die bunte Medienwelt sonst noch hergeben. Dass Lăzărescu bei dieser Beobachtung des rumänischen Alltags in seinem Element ist, zeigen nicht nur seine weiteren Bücher wie etwa "Unser Sonderberichterstatter" (Wieser Verlag), sondern auch erfolgreiche Drehbücher, etwa für den Kurzfilm "Lampa cu căciula" (Regie: Radu Jude; Preis für besten Kurzfilm des Festivals des osteuropäischen Films Cottbus 2007). Aber er kann auch ganz anders: Der Spielfilm "Aferim" von Radu Jude nach dem Drehbuch Lăzărescus über einen Roma-Sklaven im frühen 19. Jahrhundert gewann 2015 den Silbernen Bären der Berlinale. In der FAZ nannte Andreas Rossmann "Seelenstarre" "große Literatur".

 

Florin Lăzărescu: Seelenstarre (Amorţire). Roman. Aus dem Rumänischen von Jan Cornelius. Wieser Verlag Klagenfurt 2018. 231 Seiten, ISBN 978-3-99029-286-0

 


Bukarest - Berlin.

David Wagners erinnertes Tagebuch

 

"Vielleicht habe ich das alles ja nur geträumt: Eine Wohnung in einer unbekannten Stadt, viel Zeit und genug Plastikfoliengeld, um jeden Tag Strudel cu mere kaufen zu können." David Wagners Melancholie und Präzision haben ihn zu einem der bekanntesten und aktuellsten Schriftsteller unserer Befindlichkeiten im 21. Jahrhundert werden lassen. Unnachahmlich seine Beobachtungen auf  langen Berlin-Wanderungen, seine lakonisch-treffenden Wahrnehmungen, sein Pathos des Alltäglichen. In der Nachbemerkung des Buches erwähnt der Erzähler "eine Datei, die Bukarester Tagebuch heißt. Ich öffnete sie, begann zu lesen, las, las mich fest, und wunderte mich: Hatte ich das geschrieben?"

Solchermaßen verklausuliert geht der Autor an die Publikation eines Tagebuches, das großenteils mit Klarnamen versehen ist. Der 'Erzähler' kommt am Flughafen Otopeni an, wird von Simona und Bogdan abgeholt und in einer Wohnung untergebracht. Er ist Schriftsteller und hat einen Aufenthalt im ihm unbekannten Bukarest erhalten (im Austausch mit Simona, die nach Berlin kommt). Die Stadt ist neu und unbekannt - also ein idealer Gegenstand für das permanente Beobachten, Vergleichen, in Worte Fassen der fremd erscheinenden Welt. Der schmale aber vielseitig reflektierende Band lässt sich aus dieser Perspektive als ein rares Stück der Erinnerung an Bukarest um die Jahrtausendwende lesen. Es fällt das Plastikgeld auf, die Alarmanlagen der Autos, der Parlamentspalast und vieles andere. Alles gibt dem Melancholiker Anlass für grundsätzliche Überlegungen: "Man solle nur über das schreiben, was man kenne, sagt Naipaul. Womöglich hat er recht. Wann aber, ab wann, kenne ich etwas? Wie lange dauert das? Und wenn ich etwas ganz genau kenne, ist es dann nicht zu spät?"

'Handlung' ergibt sich durch die kurze, aber einschneidende Rückreise nach München, die im Hintergrund zu erahnende familiäre Konfliktsituation, auch durch die Insights in den Betrieb der wichtigen Kulturzeitschrift "Observator Cultural", vor allem aber durch einen Besuch bei Gellu Naums Witwe in Bukarest und deren Ferienhaus in Comana. Hier erhält der Erzähler einen Sommermantel des Surrealisten, den er nach Berlin bringen soll, um ihn Oskar Pastior zu überreichen. Ein abwechslungsreiches Spiel um Realität und Fiktion eines Schriftstellerlebens vor Bukarester Hintergrund.

 

David Wagner: Romania. Verbrecher Verlag, Berlin 2018, 143 Seiten, ISBN 978-3-95732-306-4

 


Lyrische Positionen

 

Claudiu Komartin und Alexandru Bulucz

 

 

Das Baumhaus im Berliner Bezirk Wedding ist eine Initiative von Bewohnern des Gebäudes, die sich vor zwei Jahren entschlossen,

Claudiu Komartin (links), Alexandru Bulucz Foto: www.kultro.de

 

einen Raum zu schaffen für Aktivitäten, Diskussionen, Lesungen, Ausstellungen. Von dem Wunsch nach gesellschaftlicher Veränderung angetrieben, insbesondere was die Verhinderung der Zerstörung menschlicher Lebensgrundlagen angeht, haben sie einen großen Raum im Parterre umgebaut, so dass er in der Tat aussieht wie ein Baumhaus, mit Holzverschlägen, Astgewirr und einem "Baum" mitten im Raum. Vielleicht war es dieses Ambiente, das das Literarische Colloquium Berlin (lcb) vom fernen Wannsee animierte, am 22. Juni 2018 eine Lesung des rumänischen Gastes hier im Norden der Stadt im Baumhaus zu organisieren.

Der Lyriker Claudiu Komartin hat sich in Rumänien bereits einen Namen gemacht als Dichter, Organisator des Lesekreises "Institutul Blecher", Verleger der Casa de Editură "Max Blecher" und der Zeitschrift "Poesis internaţional". Ihm zur Seite war als Moderator, aber auch mit seinen Gedichten der Lyriker, Übersetzer und Philosoph Alexandru Bulucz, der seit längerem in Berlin lebt.

Bei der Vorstellung Komartins hob Bulucz dessen politisches Interesse hervor, das ihn zu einem der seltenen explizit 'engagierten' Dichter seiner Generation in Rumänien mache. (Das Blog Komartins trägt als Motto die Zeile: Poezia e forma de rezistență a unui koala față în față cu buldozerele trimise de Corporație. [Poesie ist die Form des Widerstands eines Koala gegenüber den von der Firma geschickten Bulldozern.])

Komartin verwies auf  die etwa bis ins Jahr 2000 dauernde Nachwende-Abneigung gegen die sich einmischende Literatur, was auf den "proletcultism" der kommunistischen Ära zurückgehe. Danach sei aber die Präsenz des Dichters, das in die Wirklichkeit Eintreten (împlicare în real)  -Komartin verweist auf den frühen Enzensberger -  sichtbarer geworden. Im Idealfall sei Literatur per se widerständig, der Dichter leiste ein Bekenntnis - er sei Zeuge.

Komartins Gedicht "Marvin Pontiac" macht das Politische evident, indem es - poetisch verwoben in einen Maschinenrhythmus, der in Komartins Lesung expressiv präsent ist - von einem US-Schwarzen in der früheren Autostadt Detroit 'erzählt'. Auch in "fericiţi cei" (Selig sind; Übersetzung Georg Aescht) betont der Lyriker stark wie ein einfallender Schlag in den Ablauf der Wörter das Wort "pace". Ebenso sensibel in ihrer Wortmächtigkeit geben die Gedichte "Ceaun" (Kessel) und "2091 A.D." ein dichtes Panorama heutiger und zukünftiger politischer Zustände. In "Kessel" wird einem diffusen Gefühl des Verdachts, der Unzufriedenheit, des Zweifels Wort und Raum gegeben:

 

 

să vorbim despre corali
despre delfini și balene

 

și despre oceane peste care se întind
dârele rachetelor

 

ultima șansă a lăcustei bipede în urma ei doar

 

solul otrăvit, doar vegetația pipernicită,

 

litania progresului permanent

 

roboți sfioși & ecrane hipnotice

 

 

"reden wir über Korallen

über Delfine und Wale

und über die Ozeane darüber sich die Streifen

der Raketen strecken

die letzte Chance der zweifüßigen Heuschrecke hinter ihr nur

die vergiftete Erde, nur die verkümmerte Vegetation

die Litanei vom permanenten Fortschritt

schüchterne Roboter & hypnotische Bildschirme".

 

In "2091 A.D." ist diese kritische Haltung eines Alten kontrastiert mit dem jugendlichen revolutionären Glauben an die neue Welt:

 

Pe cer ardeau câteva supernove, sateliții bâiguiau

 

pe frecvențe demult istovite, metal

 

sfârâind la intrarea în atmosferă, amintiri glorioase sub

 

păturile rărite, piele descuamată, timp-glod.

 

 

"Am Himmel brannten einige Supernovae, die Satelliten brabbelten

auf längst erschöpften Frequenzen, Metall

zischend beim Eintritt in die Atmosphäre, ruhmreiche Erinnerungen

unter den dünnen Decken, Hautabschilferung, Zeit-Schlamm."

 

(beide Übersetzungen: Alexandru Bulucz, erschienen in der Grazer Literaturzeitschrift "Lichtungen" No. 154).

 

Komartins sensibles Sprachgefühl reichert seine Gedichte mit Realität, Welt und Energie an. Ihre dystopischen Qualitäten sind dabei nicht nur als politische, sondern auch poetische zu verstehen. Die  Kraft der melancholischen Weltsicht lässt jeweils neue Bilder entstehen, die über das Sichtbare hinaus in neue Sprachwelten weiterführen.

 

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Cărţi .............. ............................Übersetzungen

Tagebuch eines Stipendiums

 

Rodica Draghincescu und "Schloss Solitude"

 

Natürlich ist der Roman "Die Fee der Teufel" mit dem etwas enigmatisch-sensationellen Untertitel "Das Tagebuch, das seine Leser tötet" nicht ein wirkliches Diarium des Aufenthalts in dem Künstlerprogramm, das das Land Baden-Württemberg auf dem Schloss Solitude bei Stuttgart beheimatet hat (und das eine Reihe von Übersetzungen aus dem Rumänischen förderte...). Aber es scheint dem doch sehr nahe zu kommen. In den datierten Einträgen wird eine Erzählung eines solchen begehrten Aufenthaltes erkennbar, den eine rumänische Autorin 2000-2001 erhielt. Was zunächst als schöne Gelegenheit zur Vollendung eines Buches erscheint, erweist im Laufe der Zeit seine eigenen Tücken - wie wohl jedes Stipendium: Es gehen die gewohnten Einzelheiten der Umgebung ab, plötzlich regt kaum noch etwas an, da man sich erst einmal an die neue Umgebung gewöhnen muss. Zeit verstreicht, die eigenen Dämonen melden sich und machen deutlich, dass das, was in der altgewohnten Schreibsituation zu hindern schien, vielmehr mit einem selbst zu tun hatte und nicht den alten Umständen. Hinzu kommt, dass die Rumänin nicht übersehen kann, wie sie sich als eben solche behandelt fühlt und mitunter dagegen wehren will.

Draghincescu gelingt es, dieses Ineinander von Früher und Neuem gekonnt in einem expressiven Duktus zu Wort kommen zu lassen. Zwischen Deutschkurs, Stipendiatenaktivitäten, neuen Künstlerfreundschaften, Besuchen in Stuttgart, drängenden Erinnerungen vergeht die Zeit schneller als die Stipendiatin wahrhaben will. Das phantasievolle Buch nimmt durch literarische Vielfalt, wechselnde Beschreibungsebenen und Themen gefangen. Dabei ergeben häufige Telefongespräche Hinweise auf die Welt der Protagonistin mit ihren literarischen und persönlichen Verbindungen in mehreren Ländern. Raffiniert gebaut wirkt das Buch wie ein "Making-Of" eines hier nicht erzählten Romans, hält aber in seiner fordernden Mischung von Eindrücken, Erinnerungen, Selbstzweifeln eine Geschichte bereit, die auch mit dem Schauplatz Solitude - und Friedrich Schiller zu tun hat. Dessen als Motto dem Buch vorangestelltes "Ich bin mein Himmel und meine Hölle" passt sehr gut zu dem, was die Protagonistin sehr akribisch und überzeugend die Leser miterleben lässt. Eine eindringliche Lektüre!

 

Rodica Draghincescu: Die Fee der Teufel. Das Tagebuch, das seine Leser tötet. (Zâna dracilor. Jurnalul care îşi omoara cititorii). Roman. Übersetzerin: Eva Ruth Wemme. KLAK Verlag, Berlin 2018, 339 Seiten, ISBN 978-3-943767-91-9

 


Zwei Roadies im Jahr 1807

 

Ştefan Agopians "Manualul întîmplărilor" in deutscher Übersetzung

 

Es sind schon zwei seltsame Gestalten: Marin Ioan, der  Lehrer und Zadic, der Armenier, machen sich auf einen so phantastischen Trip, dass er nur schwer zu beschreiben ist. Es scheint, als seien sie im April 1807 an Ostern in Bukarest und unterhalten sich über merkwürdige Gegenstände wie mavroghenische Archondologie, die Konsistenz von Nahrungsmitteln oder Doktoren-Engel. Die Handlung hält weitere Seltsamkeiten bereit: Es tauchen Molossus-Riesenhunde auf, Stymphaliden, Kakodämonen und anderes mehr, es gibt  das Bankett der Pandidaktiker,ein  Treffen mit dem Bischof von Argeş, Kriegsaktivitäten und Osterfestlichkeiten. Auch das Jahr 1801 wird erinnert, der Hintergrund sind die russischen Angriffe auf die noch osmanische Walachei. Was aber alles erzählt wird, entwickelt unter Einfluss von reichlich Wein oder aber auch anderen pflanzlichen Anregern eine mit jedem Satz sich wandelnde kaleidoskopische Erzählung, deren Reichhaltigkeit das schmale Buch zu einer üppigen Lektüre  werden lässt, als ob es hunderte von Seiten enthielte. Kein Wunder, dass hier viele Kritiker einen Ansatzpunkt der Post-Moderne in Rumänien sahen. Mitten in der düstersten Zeit des Ceauşescu-Regimes erschienen, errang der phantastisch-satirische "Manualul întîmplărilor" einen Kult-Status, nicht zuletzt, weil auf einigen Seiten eine Figur von seiner Überwachungstätigkeit berichtet, was als unverhohlene Anspielung auf die Securitate gelesen wurde. (Das Manuskript passierte die Zensur angeblich durch den Hinweis, dass die Handlung zur Zeit der Phanarioten spiele und damit alle Konflikte mit der Gegenwart ausgeschlossen schienen.)

Die Übersetzung von Eva Ruth Wemme ist angemessen frisch und macht das rauschhafte Buch auch in deutscher Sprache nachvollziehbar.

 

Ştefan Agopian: Handbuch der Zeiten. (Manualul întîmplărilor). Roman. Aus dem Rumänischen von Eva Ruth Wemme. Verbrecher Verlag, Berlin 2018, 100 Seiten. ISBN 978-3-95732-309-5

 


Wie sie wurden, was sie sind

 

Radu Ţuculescus Roman um Kindheit und Gegenwart

 

Eine "typische" rumänische Kindheit im Siebenbürgen der 1950er Jahre? Jedenfalls keine idyllische oder überbehütete. Mutter und Vater langen schon mal zu, wenn das Kind den "Abwegen" seiner kindlichen Phantasie folgt. Sozial zwar gut gestellt - der Vater ist Arzt am Krankenhaus - aber eben deshalb auch im neuen Regime nicht unbedingt wohl gelitten, erlebt das Kind in der Kleinstadt einen nicht ungewöhnlichen Mix aus Freuden und Härten. Der Schulalltag ist von der Auseinandersetzung mit den LehrerInnen geprägt, sein Freund Răzvan unterstützt den Musik begeisterten Adrian bei allen möglichen (oder phantasierten?) wilden Streichen. Die Mädchenwelt entdeckt er zuerst als  glücklicher Ausreißer bei Zigeunern, die Stadt ist bevölkert von mitunter skurrilen Typen und bietet allerlei entsprechende Erlebnisse. Das ist subjektiv ausführlich und drastisch geschildert, mitunter in an den amerikanischen Pulp-Film erinnernden insistierend-ausufernden Dialogen. Gewalt gehört ebenso in diesen Rahmen, wie auch politische Aspekte, wenn etwa eine Attacke auf eine Synagoge geschildert wird und Adrians Freundin mit ihrer Familie nach Israel emigriert.

Der Autor Radu Ţuculescu, dessen Biographie als Musiker, Theater- und Fernsehautor einige der im Roman auftauchenden Motive erkennen lässt, kreuzt diese Erinnerungen mit einer durch Kursivschrift kenntlich gemachten Erzählung des nun erwachsenen, frustriert wirkenden Adrian in Bukarest. Dieser wartet zu Hause auf seine Tochter  und erhält dabei unerwartet Besuch einer anderen jungen Frau. Das unter eigenartiger Spannung stehende Gespräch führt bald ins Sexuelle und zum Schluss in eine Katastrophe. Es bleiben wenige Bezugspunkte zur Kindheit erkennbar, am ehesten noch die Musik.

Wenn am Ende des Buches in der Schrift der Erinnerung das aktuelle Geschehen geschildert wird, scheint typographisch die Verbindung zu den Kindheitserlebnissen hergestellt zu sein. Ob es allerdings derselbe Adrian ist, bleibt eine offene Frage. Ein komplexer und rauher Roman, von Peter Groth flüssig und präzise übersetzt.

 

Radu Ţuculescu: Stalin, mit dem Spaten voran! (Stalin, cu sapa-nainte). Roman. Aus dem Rumänischen von Peter Groth. Mitteldeutscher Verlag Halle (Saale) 2018. 255 Seiten, ISBN 978-3-95462-992-7


Vater-Staat Rumänien 

 

 

 

Carmen-Francesca Bancius packende Auseinandersetzung mit der Vaterfigur

 

 

Dieser 'Roman' ist in vielfacher Hinsicht bemerkenswert: Rein äußerlich fällt er durch seine Form auf, denn es handelt sich um ein langes Prosagedicht, keine durch komplette Sätze gebildete Erzählung im Blocksatz. Und um es gleich zu sagen: Diese 'Form-Sache' beeinträchtigt in keiner Weise den Zugang zu dieser eindringlichen Geschichte einer Auseinandersetzung einer Tochter mit ihrem Vater. Im Gegenteil: Durch die kurzen Satzfragmente, ihre Wiederholungen und Variationen kristallisiert sich sehr viel intensiver die Obsession dieser Tochter mit ihrer Vergangenheit und der Rolle des nach einem Unfall im Sterben liegenden Vatergestalt heraus als es eine abschweifende und erläuternde Beschreibung je könnte. Es vereinen sich die Vorteile lyrischer Intensität mit dem breiten epischen Verfolgen einer sich über ein Leben erstreckenden Geschichte.

 Worum geht es? Es geht um die Rückkehr der Tochter nach Rumänien, als der Vater nach einem Unfall im Krankenhaus liegt. Diese Konfrontation mit dem Sterbenden löst noch einmal die ganze Wut und das Unverständnis der Tochter aus, die sich an die Zeit der Kindheit erinnert, in der der Vater als Funktionär und Bürgermeister der Partei angehörte und das neue System verteidigte. Dieser politischen Ebene, gegen die die Tochter später rebellieren sollte, ist die persönliche Perspektive auf das Liebesleben des Vaters zugesellt, der die mittlerweile verstorbene Mutter offen betrog und von dessen Geliebten nun zwei um den Status der Hinterbliebenen kämpfen. Banciu erzählt diese fast schon archetypische Konstellation in einem packenden und in seinem Zorn nicht nachlassenden Monolog der Tochter, der künstlerisch überzeugend ein ganzes Panorama sowohl des Staates, seiner Ideologie, der moralischen Fragwürdigkeit des Vaters, des Unverständnisses der Tochter als auch dem Verhalten der Geliebten ausbreitet. Auf der Suche nach den Gründen der Vorgänge ist die Erzählerin ebenso auf der Suche nach den Wörtern, der adäquaten Sprache für ihre Perspektive auf die Dinge und Verhältnisse und dem Vergangenen, das noch so präsent ist. Gerade diese Vielfalt der Themen und der poetischen Mittel machen das Langgedicht zu einer der wichtigsten Neuerscheinungen auf der Leipziger Buchmesse.

Der Band bildet den Schluss einer thematischen Trilogie, die in den vorherigen Prosabänden "Das Lied der traurigen Mutter" und "Vaterflucht" die Geschichte(n) dieser Familie, des Staates und der Rebellion als zentrales Thema behandelt.

 

 Carmen-Francesca Banciu: Lebt wohl, Ihr Genossen und Geliebten! Tod eines Patrioten. Berlin: PalmArtPress 2018, 373 Seiten, ISBN: 978-3-96258-003-2


Lavinia Branişte - ein Romandebut

 

 

Die "Realität" ist oft auch nur, was in Büchern steht. Und in Büchern die Realität zu erkennen, erfordert oft, sich literarisch auf Details, Kleinigkeiten, Alltägliches einzulassen. Dies hat die junge Schriftstellerin Lavinia Branişte getan - die Lakonie ihrer Protagonistin Cristina wird nur durch kleine Beobachtungen und Vergleiche durchbrochen. Indem sie sich auf dieses Schreibverfahren konsequent stützt, macht die Autorin deutlich, wie reduziert, scheinbar hoffnungslos, funktionell das Leben dieser Büroangestellten in Bukarest sich darstellt.

Cristina arbeitet in einer Baufirma, ungelernt, ohne eigentliche Aufgabe ist sie für den Empfang, die Kopien und sonstiges zuständig, wie es gerade ihrer impulsiven Chefin in den Sinn kommt. Die KollegInnen sind umgänglich, aber nicht alle nett. Das Leben hat außer einer wenig zukunftsverheißenden Fernbeziehung wenig zu bieten als gelegentliche Tanzabende in einem Club, Bekanntschaften, Festivalbesuche, Gedanken über das Leben, Besuche der Mutter aus Spanien, wo sie als Campingplatzaufseherin arbeitet. Trotz einiger eingreifender Veränderungen bleibt am Ende nur die Verbundenheit mit der Mutter - die Familie als Anker in einer ansonsten wenig attraktiven Welt.

Was hier so abgeklärt und lakonisch daherkommt, hat dennoch seine literarischen und menschlichen Facetten, die in die Erzählung hineinziehen und zum Nachdenken animieren. Nicht umsonst wurde das Buch bei Erscheinen mit dem Preis des Clujer (Klausenburger) Leseclubs "Thoreaus  Enkel" für ein Debut ausgezeichnet. Manuela Klenkes Übersetzung kommt dieser scheinbar abgeklärten Prosa mit ihren Untiefen und emotionalen Klippen sehr nahe, so dass ein gut lesbarer, anziehender Text entstanden ist.

 

Lavinia Branişte: Null Komma Irgendwas (Interior Zero). Roman. Aus dem Rumänischen von Manuela Klenke. Mikrotext Verlag Berlin 2018, 281 S., ISBN 978-3-944543-60-4


 

Doina Ruştis prämierter Roman in deutscher Übersetzung

 

Im Jahr 2008 erhielt die Schriftstellerin Doina Ruşti für ihren großen Roman "Fantoma din moară" den Preis des Rumänischen Schriftstellerverbandes (USR) für die beste Prosa. Jetzt ist das Buch im Berliner KLAK-Verlag in der deutschen Übersetzung von Eva Ruth Wemme erschienen.

Es ist ein ambitionierter, überraschender, fantastischer und zugleich zutiefst realistischer Roman, den die Bukarester Hochschuldozentin, Drehbuchautorin und Schriftstellerin vorlegt. Was zunächst nach einer ungewöhnlichen Entdeckung im Leben der gegenwärtigen Protagonistin Adela aussieht - dass sie nämlich ein Buch im Schaufenster einer Buchhandlung sieht, das ihre eigene Lebensgeschichte recht genau nacherzählt - wird im Laufe des Romans noch einmal gesteigert durch die Existenz eines Geistes in der Mühle ihres Heimatdorfes. Und damit begibt sich der Roman in die Vergangenheit dieses Dorfes und seiner Mühle, in der die ganze Geschichte begann... Es handelt sich bei der Geschichte des Umgangs der Dorfbewohner mit diesem Phantom um eine Parabel auf die Wirkung der Securitate und das alles durchdringende Staatsregime, die eine sehr ungewohnte und neue literarische  Umgangsweise mit diesem Phänomen hervorbringt. Die reiche Phantasie der Autorin und ihr genauer Blick auf das Dorf und seine BewohnerInnen machen aus diesem Roman ein herausragendes Werk der neueren rumänischen Literatur, das in einer flüssigen, gut lesbaren Übersetzung nun auch seine LeserInnen im deutschsprachigen Raum finden wird.

 

Doina Ruşti: Das Phantom in der Mühle. (Fantoma din moară) Roman. Aus dem Rumänischen übersetzt von Eva Ruth Wemme. KLAK-Verlag Berlin 2017, 410 S., ISBN 978-3-943767-46-9

 

 

Hier ein Hinweis auf das Buch in der Neuen Zürcher Zeitung...


On the road in Rumänien - Radu Pavel Gheos Roman "Noapte bună, copii"

Wenn es ein Buch gibt, das den Status des Generationenromans der (Nach)Wendezeit in Rumänien errungen hat, so ist es dieser epische Text über Schulfreunde an der westlichen Grenze Rumäniens und ihr Weg von der Diktatur in die glänzenden Verheißungen des Westens. Hier finden sich die Brüche der Zeit zwischen 1986 bis 2000 in einer erzählerisch-ästhetischen Weise verarbeitet und dargestellt, dass nicht wenige jüngere LeserInnen sich in diesem weit ausholenden und spannend erzählten Roman mit ihren eigenen Geschichten wiederfinden konnten. Dazu laden sowohl die genauen Beobachtungen der Jugendsprache und des Verhaltens von jungen Menschen in Rumänien wie auch ein elegischer Grundton ein, der die HeldInnen und die Geschehnisse, die ihnen widerfahren, streift. So geht es jenseits der Entfaltung der Geschichte(n) und der die Protagonisten direkt betreffenden historischen Ereignisse auch um eine Dimension des Spirituellen, die durch zwei alte Männer angedeutet wird, deren Rolle im Geschehen undurchsichtig bleibt, die wir uns aber nur als zwei coole, zurückhaltende, Wohltäter bzw. Heilige vorstellen können. Dieser ungewöhnliche Kunstgriff  spielt erzähltechnisch seine Rolle als Anzeichen einer gewissen Distanzierung vom kruden Naturalismus, eine Andeutung einer Dimension der Realität, wie sie in der rumänischen Geistesgeschichte bis heute auch nicht durch Aufklärung und Rationalismus ihre Bedeutung verloren hat.

Gheo, geboren in Oraviţa (Banat), lange in Iaşi lebend, ist jetzt wieder ins Banat zurückgekehrt. Die Erzählung beginnt zwar im Osten, aber da befindet sich die Geschichte bereits im Jahr 2000 und die LeserInnen erfahren erst in kunstvoller Verschachtelung allmählich,  was den Hauptprotagonisten Marius dort hingeführt hat. Polyperspektivisch enthüllt sich ein dunkles Geschehen aus seiner Jugend, als die vier  Freunde Marius, Leo, Paul und Cristina vor dem Fall des Regimes beschlossen, die nahe Donau nach Jugoslawien zu überqueren - mit Folgen für ihr ganzes Leben.

Das Geschehen greift aus bis in die USA, kehrt dann wieder nach Rumänien zurück und die Leser haben bis dahin ein intensives Bild von den Sehnsüchten, Verwicklungen und Alltagsumständen erhalten, mit denen insbesondere junge RumänInnen durch die historische Entwicklung konfrontiert wurden. Nicht zu Unrecht hob die Kritikerin Adriana Bittel an "Noapte bună, copii!" die glänzende "Virtuosität der Konstruktion" hervor und Mihaela Ursu schrieb: "Ich wage zu sagen, dass dies einer jener Romane ist, deren Wert mit der Zeit wächst, je weniger familiär die Wirklichkeit ("die historische Wahrheit"), von der er inspiriert ist, den Lesern geworden ist. Weil nicht nur die Gewinnung eines subjektiven historischen Gedächtnisses bei der Lektüre dieses Romans Gewicht hat - obwohl sie darin enthalten ist-, als vielmehr das Gelingen der erzählerischen Konstruktion, einer den großen Romanen eigene epische Strategie."  In zahlreiche Sprachen übersetzt blieb dem deutschsprachigen Lesepublikum bisher dieser große Generationenroman vorenthalten.

 

Radu Pavel Gheo: Noapte bună, copii!

Verlag Polirom, Iaşi/Bucureşti
Colecție: EGO. PROZĂ
Număr pagini: 496
ISBN: 978-973-46-1720-3

An apariție: 2010

 


 

Securitate und Literatur

 

Mit Gabriela Adameşteanus "Begegnung" (Wieser Verlag Klagenfurt) und Doina Ruştis "Das Phantom in der Mühle" (KLAK Verlag) findet sich in zwei Neuübersetzungen aus dem Rumänischen das Thema der früheren Geheimpolizei Securitate wieder als ein aktuelles. Dass diese keine Novitäten darstellen, behandelte die "Lesart" von Deutschlandradio Kultur in einem Gespräch.

 

"Lesart" vom 5. März 2018

 


Literatur und Protest - Rumänische Schriftsteller und die aktuelle Politik

 

Die jüngsten Ereignisse in der politischen Szenerie Rumäniens haben Tausende auf die Straße getrieben. Umfassende "Justizreformen"verbergen kaum die Absicht, die Staatsanwälte und Richter dem politischen Amt des Justizministers zu unterstellen und ihre Unabhängigkeit zu gefährden. Viele - darunter z.B. 4000 "magistraţi" und auch der Generalstaatsanwalt - haben sich gegen diese Absicht ausgesprochen. Nach dem zweiten Rücktritt des Ministerpräsidenten in einem halben Jahr und der erstmaligen Benennung einer Frau in dieses zentrale politische Amt scheint sich an der Oberfläche die Konstellation kaum verändert zu haben.

In Deutschlandfunk Kultur (früher Deutschlandradio Kultur) gab es zu diesem Thema ein Gespräch mit dem Fokus auf der Rolle von Schriftstellern in den Protesten gegen das Regierungsvorhaben.

 

 

"Lesart"-Beitrag von Deutschlandfunk Kultur am 18.1.2018

 


 

Siebenbürgen heute - Iris Wolff gestaltet als Literatur die Erinnerung an eine allmählich schwindende Vergangenheit

 

Die mehr als 800-jährige Geschichte der deutschen Minderheit im Karpatenbecken geht allmählich zu Ende. Oder doch nicht? Wenn auch zahlenmäßig von den einst über 300 000 "Sachsen" heute kaum noch 13000 in Siebenbürgen leben, so ist das Abschließen mit dieser Geschichte keine leichte Sache. Schließlich stehen noch zahlreiche architektonische Zeugnisse dieser Geschichte als kulturelles Erbe in der Landschaft, ganze Dörfer und Städte weisen unübersehbar auf das Wirken dieser Gemeinschaft hin, ihre kulturellen Zeugnisse bestehen weiter - und wachsen sogar noch weiter an. Denn noch hat die zuletzt ausgewanderte Generation nicht vollkommen mit dem Faktum dieser Auswanderung komplett abgeschlossen und ihre Kinder sehen sich oft selbst in der Lage, mit der Herkunft ihrer Eltern konfrontiert zu werden. Dies geschieht auch in der Literatur.

Einen bedeutenden Beitrag aus dieser Generation der als Kind mit den Eltern ausgewanderten Sachsen bietet Iris Wolff in ihrem Debütroman "Halber Stein". Sie schildert eine junge Frau, die mit dem Vater nach Michelsberg fährt zur Beerdigung der Großmutter. Diese in der Realität sicher häufig vorkommende Situation gerät hier zu einer intensiven Selbstbefragung einer sich an die eigene Kindheit in Siebenbürgen erinnernden Frau, die in Deutschland studierte und nun etwas ratlos vor ihrem weiteren Lebenslauf steht. Die Reise nach Siebenbürgen bietet da einen Aufschub und steuert zugleich sehr behutsam auf mögliche Entscheidungsoptionen hin. Zunächst ist aber die Konfrontation mit der eigenen Kindheit, mit den Orten, dem rumänischen Freund Julian und vor allem mit dem früheren Familienleben mit der Großmutter das große Thema des Buches, das ebenso realistisch die Selbstbezogenheit der sächsischen Welt thematisiert.

Wolffs außerordentliche Beobachtungsgabe, ihre ernste, mehr fragende denn wissende Haltung zum Leben, die geduldige Auseinandersetzung mit zahlreichen Facetten des "sächsisch"-siebenbürgischen Lebens  macht diesen Bucherstling zu einem Leseerlebnis. Es gelingt Wolff, das Eigentümliche der sächsischen Lebensweise in intensiv beobachteten Details und ganz vorsichtig erzählten Konstellationen so plastisch werden zu lassen, dass der Leser glaubt, "nur so kann es gewesen sein". Es entsteht ein überzeugendes Bild der Gemeinschaft selbst und der Atmosphäre, die durch die Ausreise sowohl bei den Zurückgebliebenen als auch den Ausgereisten und der folgenden Generation entstanden ist. Damit hat Wolff einen unübersehbaren Beitrag zur literarischen Geschichte Siebenbürgens geleistet.

 

Iris Wolff: Halber Stein. Roman. Otto Müller Verlag Salzburg, 2.Auflage 2012, 294 S., ISBN 978-3-7013-1197-2


 

Das Rumänien der Dinge - Jochen Schmidt und die materielle  Gegenwart der Vergangenheit

 

Gleich zu Beginn seiner "Gebrauchsanweisung"  zitiert Jochen Schmidt den vielfach wiederholten Eindruck von Reisenden in Rumänien, dort komme es ihnen vor, als wäre "die Zeit stehen geblieben". Das ist in dieser Wiederholung einerseits ironisch gemeint, zugleich aber eben eine vielfach geteilte Wahrnehmung von "westlichen" Besuchern. Dieses Schillern des Reisens und seiner Beschreibung zieht sich durch das brillante Buch des früheren Mitbegründers der Lesebühne "Chaussee der Enthusiasten" in Berlin. Schmidt ist ein "Phänomenologe der Dingwelt", ihm geht es um das, was es einmal gab und jetzt ersetzt wird durch das Einfließen von modernen, neuen, "westlichen" Waren und Ideen. Durch seine DDR-Sozialisation und frühere Reisen vor der Wende nach Rumänien sensibilisiert entdeckt der Autor noch jene Vergangenheit, die für ihn mit Bedeutung aufgeladen ist: Insbesondere die sichtbare Welt der Dörfer und Städte, das Design des Alltags, die Spiele und Zeitvertreibe der Kindheit und Jugend werden von Schmidt in unnachahmlichen Sprachbildern bewusst gemacht. Einen wichtigen Aspekt dieser Exploration  stellt die Beschäftigung  mit der Sprache dar, insbesondere ihrer Etymologie. Manches von dem, was er wahrnimmt, wird bald verschwunden sein und dann wird es nur noch die Texte von Jochen Schmidt geben, die authentisch und unmittelbar anstatt des Verschwundenen davon berichten werden.

 

Jochen Schmidt: Gebrauchsanweisung für Rumänien. Piper Verlag München 3. Aufl. 2017, 235 S., ISBN 978-3-492-27627-6


Ein Überleben im Exil - Jan Koneffkes großer Roman über einen Deutschen in der rumänischen Zwischenkriegszeit

 

 

Die Geschichte Rumäniens im 20. Jahrhundert ist - wie in den benachbarten osteuropäischen Ländern - eine sich überstürzende, unruhige, extreme. Dass sich ihrer ein deutscher Autor annimmt und sie zum Hintergrund eines großen Romans nimmt, ist selten, um nicht zu sagen einzigartig. Jan Koneffke hat dies getan mit seinem episch angelegten "Die sieben Leben des Felix Kannmacher" und von den 1930er Jahren bis in die Nachkriegszeit einen Protagonisten verfolgt, der in den Turbulenzen der europäischen Geschichte zu überleben versucht. Der "Pikaro" dieser Geschichte ist ein Emigrant aus Hitler-Deutschland, der nach Bukarest gelangt und die Freundschaft eines genialen Pianisten erfährt. Damit ist der Hintergrund gegeben, vor dem die Beziehung mit dessen Tochter und einem großen Personaltableau sich entwickelt. Was Koneffkes Roman einzig macht, ist die genaue Zeichnung der historischen Abläufe im Rumänien der Zeit vor und während des Zweiten Weltkriegs, von denen der Emigrant in besonderem Maße betroffen ist.

Es ist das legendäre Rumänien der Zwischenkriegszeit, das heute einer ähnlichen Verklärung unterliegt wie in Deutschland die Kultur der "Golden Twenties" in der Weimarer Republik. Entsprechend sind die Lokalitäten der Künstlerwelt gewählt: Die Künstlerkolonie Balcic, Bukarester Kasinos, Theater, Sinaia als Ausflugsort und viele andere mehr sind die Schauplätze der abwechslungsreichen Geschichte. Dabei verliert der Autor aber das dramatische und tragische historische Geschehen so wenig aus den Augen wie die Entwicklung der verschlungenen Wege des Felix Kannmacher, als der Krieg und die anreisenden Nazis seine Existenz bedrohen. Diese spannende Geschichte zu verfolgen, stellt ein außergewöhnliches Lesevergnügen dar.

 

Jan Koneffke: Die sieben Leben des Felix Kannmacher. Roman. DuMont Verlag, Köln 2011, 510 S., ISBN 978-3-8321-9585-4

 


Roman von Cătălin Mihuleac für Übersetzerpreis der Leipziger Buchmesse nominiert

 

 

 

Die Short-List für den Preis der Leipziger Buchmesse enhält in der Kategorie Übersetzung auch einen rumänischen Beitrag: In der Übersetzung von Ernest Wichner ist der im Zsolnay Verlag erschienene Roman "Oxenberg & Bernstein" ("America de peste pogrom", Polirom 2014)  nominiert worden.

 

Er handelt von dem Pogrom an den Iaşier Juden 1941 und seinen Folgen bis in die Gegenwart. Der Autor Cătălin Mihuleac ist in Iaşi geboren und durch satirische Prosa und Theaterstücke bekannt geworden. Sein Buch ist das erste, das die Geschehnisse in seiner Heimatstadt romanhaft thematisiert. Der im Banat geborene Lyriker Ernest Wichner ist einer der wichtigsten Übersetzer aus dem Rumänischen, bis 2017 leitete er das Literaturhaus Berlin.

 

Die Short-List für den Preis der Leipziger Buchmesse

 


 

Rumänien – Schwerpunktland der Leipziger Buchmesse 2018

 

 

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Bücher und mehr…

Notizen von der Buchmesse Gaudeamus 2017 in Bukarest

 

Über 125000 Besucher, 300 Aussteller, 800 Veranstaltungen – die traditionell von Radio România veranstaltete Buchmesse in Bukarest zog alle Blicke auf sich…

 

Meteorologisch: wunderbare Herbsttage in Bukarest. Milde Temparaturen, ab und zu Sonne und blauer Himmel. Trocken, für Spaziergänge geeignet – zum Glück, denn lange Märsche waren nötig bei dem verheerenden

 

Verkehrschaos: keine Taxis oder streikende Taxis, die keinen Gast mitnahmen, im Konvoi standen und die Hauptstraßen blockierten. Dazu Proben für die große Parade zum Nationalfeiertag am 1. Dezember (Armee, Feuerwehr, Ambulanzen etc., etc.) auf denselben Hauptstraßen – leider ausgerechnet denen, die zu Romexpo (dem "Gaudeamus"-Schauplatz) führen. Auch die Busse wurden umgeleitet, wenn sie sich überhaupt mit dem ganzen Meer von Fahrzeugen fortbewegen konnten. Durchtrainiert musste man jedoch auch sein für den Besuch der Messe selbst, denn der


Akustischer Surrealismus

 

 

 Zu spät! Die Tür zur Lesung von Gellu Naum-Texten im Berliner Literaturhaus ist schon geschlossen, aber der Kartenverkäufer öffnet sie ganz vorsichtig, schnell leise hinein – Überraschung! Das Publikum sitzt im Kaminzimmer in offener Anordnung – mit verbundenen Augen! Glücklicherweise ist nahe der Tür ein Stuhl frei, also hingesetzt, ein blaues Band um die Augen gebunden, ein Mann fragt auf Rumänisch, ob alles in Ordnung sei. Brille abnehmen, weiter als die eigenen Füße sieht man nichts. Aber hört merkwürdige Geräusche, sich öffnende Fenster, ein kalter Windhauch, dumpfe Geräusche aus der Küche, Schellengeklingel wie von rumänischen "urători" in der Silvesternacht. Mit den Gedanken noch in der hektischen Anfahrt durch die Großstadt stellen sich nach  übermäßigem TV-Konsum leicht Gedanken an ähnliche Situationen ein: Gibt es da nicht Kriminalfilme, in denen nach solchen Anordnungen eine/r im eigenen Blut daliegt und ein Meisterdetektiv über den Tathergang grübelt? Was wird hier passieren? Wenn die Schritte laut auf dem Holzboden heranklappern und abrupt aufhören? Der Raum mit seiner historistischen Holz- und Tapetenausstattung legt Gruseliges nahe, Sherlock Holmes war in solchen Interieurs des 19. Jahrhunderts aktiv. Der Terror gehört durchaus zur Ausstattung des surrealistischen Konzepts, sprach der Oberguru André Breton doch von dem Akt mit dem Maschinengewehr auf die Straße zu gehen und es zu benutzen. Haben dies heute andere übernommen, so hatte einst aber auch Max Ernst aus den diffusen Stimmungen solcher Lokalitäten die unnachahmbare Kraft seiner Bild-Collagen gezogen.