Im Inneren eines Paradieses
Georgien in Text und Bild
Im Jahr 2018 war Georgien das Gastland der Frankfurter Buchmesse. Seitdem gibt es nur wenige Publikumsverlage, die nicht Bücher aus Georgien verlegt haben. Das Nachbarland Rumäniens jenseits des Schwarzen Meeres setzte große Mittel ein, um seine Literatur und Landschaft im deutschsprachigen Raum über den Status des "Geheimtipps" hinaus bekannt zu machen. Diesen Zweck erfüllen auch die beiden unterschiedlichen Fotobände von Gerald Hänel und Wolfgang Korall sowie ein Reisebuch mit Impressionen des Journalisten und Verlegers Volker Dittrich.
Für Dittrich fing alles mit einer Reportage über georgische aufständische Soldaten auf der niederlän-dischen Insel Texel am Ende des Zweiten Weltkriegs an. Diese seltsame Geschichte brachte ihn am Ende der Sowjetunion in das Kaukasusland, wo einer der Teilnehmer 1992 noch lebte. Er lernte die Familie kennen, hielt Kontakt über Jahre hinweg, besuchte dann 2002 und ab 2007 wiederholt den Kaukasus wieder. Durch das Anwachsen der Zahl der Freunde und Bekannten erhält die/der LeserIn einerseits Details über das Alltagsleben einer Reihe von Menschen, zugleich gilt Dittrichs journalistische Neugier den politischen und historischen Hintergründen, die er sich immer wieder von seinen Freunden erklären lässt. Im Laufe der Lektüre entwickelt sich eine ganz eigene Verbundenheit mit dem Personal von Dittrichs Reisen und seinem Blick auf Georgien. Auch gehen Gespräche und Interviews mit Diplomaten, PolitikerInnen und Wissenschaftlern wie dem Berliner Zaal Andronikashvili, in die Darstellung ein. Dabei wechselt der Autor oft ohne Anführungszeichen in die Aussagen der Befragten, was die Unmittelbarkeit und Subjektivität des Gesagten erhöht. Im Gespräch mit der früheren Außenministerin Maia Pandschiditse erfährt man, dass diese die Einladung zur Frankfurter Buchmesse initiierte und auch gegen Unverständnis im Land durchsetzte.
So entsteht ein plastisches, facettenreiches Fresko des jungen Staates seit seiner Unabhängigkeit von der Sowjetunion im Jahre 1991. Nicht wenige der postsozialistischen Probleme (Korruption, Unterentwicklung, Instabilität, Demokratiedefizite, etc.) scheinen den rumänischen dabei nicht sehr fremd zu sein. Der Band enthält zudem eine Reihe von Farbfotografien des Autors, die einige der erlebten Szenen und Begegnungen zeigen.
Die bildliche Repräsentation des Landes setzen auf unterschiedliche Weise die beiden anderen Bände in Szene. Sie können dabei durchaus auch als fotografische Umsetzung der Beschreibung betrachtet werden. Der weitgereiste Fotograf Gerald Hänel hat in dem zweisprachigen Band (deutsch-englisch) die Motive der grandiosen Landschaften ebenso wie die Gegenwart der Städte nebeneinander versammelt. So wirkt manches wie eine aktuelle Entdeckung, anderes wie eine zeitlose Perspektive auf eine unveränderte archaische Landschaft mit uralten Kirchen und Türmen, in denen Gläubige ihre Riten absolvieren. Wiederum anderes eher journalistisch, ereignishaft, wenn in der Stadt junge Leute feiern oder Schachspieler und Kinder mit Disney-Figuren im Park abgelichtet werden. Diese anschauliche Mischung ergänzt ein Beitrag des georgischen Autors Archil Kikodze, der in einem Nachwort die unterschiedlichen Regionen des kleinen Landes mit ihren z.T. wohl sehr unterschiedlichen Bewohnern skizziert. So vermischen sich Bilder und Text zu einer lebhaften Vorstellung von Georgien heute und in der Vergangenheit.
Wolfgang Koralls großformatiges Album ist im Unterschied zu Hänels Band Ergebnis eines besonderen Projekts. Bereits in DDR-Zeiten reiste der damalige Jenenser Student auf abenteuerlichen Wegen durch das sowjetische Georgien, wo er viele Freundschaften knüpfte und über das er bereits 1991 einen Bildband ("Swanetien - Abschied von der Zeit") veröffentlichte. Seit 2008 bringen ihn mehrere Projekte zurück, 2011 geht es um die Nationalheilige Nino aus dem Mittelalter, auf deren Wegen und Spuren sich Korall durch Georgien bewegt. Der Titel des Bandes geht vor allem auf dieses spirituelle Unternehmen zurück, wobei sich wie Kaskaden die Fotos aus den Jahren davor dazugesellen. Natürlich wirken die grandiosen Landschaften des Kaukasus mit ihren schneebedeckten Gipfeln und den Wäldern und Wiesen in diesem Format besonders eindringlich, jedes Bild hat seine eigene Seite. Aber auch die Städte mit ihren Kontrasten sind bei Korall eingefangen. Das Besondere dieses Bandes machen aber auch die rahmenden Umstände seiner Entstehung aus, die der Fotograf knapp schildert. So auch den schweren Unfall, der fast tödlich endete und nur durch einen Flug mit dem Helikopter nach Deutschland die Gesundung möglich machte. Daher blieb das Projekt "Nino" ein Torso - aber die bereits gemachten, den Blick tief einsaugenden Bilder sind jetzt in dem Band zu sehen.
Volker Dittrich: Paradies am Rande Europas. Impressionen aus Georgien von 1992 bis 2017. Halle (Saale): Mitteldeutscher Verlag 2018, 319 Seiten, ISBN 978-3-96311-008-5, zahlr. Farbfotos des Autors
Gerald Hänel: Auf dem Balkon Europas On the Balcony of Europe. Fotografien aus Georgien Photographs from Georgia. Mit einem Textbeitrag von Archil Kikodze With a text by Archil Kikodze. Halle (Saale): Mitteldeutscher Verlag 2017, 159 Seiten, ISBN978-3-95462-888-9, zahlr. Farbfotos des Autors
Wolfgang Korall: Die Seele Georgiens. Halle (Saale): Mitteldeutscher Verlag 2018, 127 Seiten, ISBN 978-3-95462-305-1, zahlr. Farb- und 1 S/W-Foto des Autors
Essad Bey - Öl und Blut
Kolportagegeschichte des Orients
Die "Wiederentdeckung" durch die Biographie von Tom Reiss des seinerzeit ungemein erfolgreichen Autors mit dem exotischen Namen Essad Bey hat auf eine Gestalt aufmerksam gemacht, deren Lebenslauf ebenso Teil seiner Legende wurde, wie die Art, dieses Leben in Literatur zu verwandeln. Selbst ein "Sachbuch" über die Erdölförderung in Aserbaidschan musste da zur Folie für eigene Erlebnisschilderungen werden. Dies ist aber verständlich, denn Essad Bey wuchs in Baku auf, sein Vater war einer der im Buch beschriebenen reichen Erdölbarone. Nur trug die Familie den Namen Noussimbaum, war jüdischer Religion und nach dem frühen Tod der Mutter 1911 mussten Vater und Sohn nach Ausbruch der Russischen Revolution Baku verlassen, um verarmt in Berlin zu landen. Hier gelang es Lev Noussimbaum nach Besuch der Russischen Schule und Übertritt zum Islam mit entsprechendem Namenwechsel zu Essad Bey seine Herkunft und Kenntnisse gewinnbringend in zahlreichen Zeitungs-und Zeitschriftenartikeln (über 150 in der Literarischen Welt) umzusetzen - das Publikum lechzte förmlich nach kaum verifizierbaren Geschichten und Nachrichten aus dem "Orient". Essad Bey besaß das Talent einer orientalisch anmutenden Erzähllust und es gelang ihm Aufsehen zu erregen. Auch durch seinen Bucherstling "Öl und Blut im Orient" 1929, da er darin die Gefühle zahlreicher Bewohner der Region ziemlich strapaziert hatte, wie das informative Nachwort von Sebastian Januszewski hervorhebt.
"Öl und Blut im Orient" ist also kein "Sachbuch", wie es in den 1920er Jahren in Berlin von rumänischen Autoren wie Valeriu Marcu oder René Fülöp Miller (dessen besondere Bekanntschaft Essad Bey machte) 'erfunden' wurde, sondern vermischt eigene Erlebnisse des Autors und subjektive Darstellungen mit dem Transport von Informationen über eine Industrie, deren Realität kaum einem deutschen Leser bekannt war. Den zahlreichen russischen, aserbaidschanischen, iranischen, georgischen Flüchtlingen aber umso mehr: Entsprechendes Aufsehen erregte der Autor mit seiner fabulierenden Darstellung, in der unverblümt über Völker und Gebräuche des Kaukasus geurteilt wurde. Diese wird man heute kaum noch unreflektiert lesen, aber die Adelung des Textes durch die Aufnahme in die Andere Bibliothek ist durchaus gerechtfertigt, handelt es sich doch um ein wesentliches Zeugnis der Rezeption des Orients im Westen vor dem Zweiten Weltkrieg. Und es macht auf die Geschichten aufmerksam, hinter denen sich der Siegeszug einer heute in ihren desaströsen Folgen zu überblickenden Ölindustrie verbirgt. Dies war aber kaum das eigentliche Thema Essad Beys, sondern neben seinen eigenen Erlebnissen, die vor allem die russische Revolution und Kämpfe um Baku aufrufen, präsentiert das Buch auch die Szenerie der Länder um das Kaspische Meer und den Kaukasus. So kommen auch ein Kapitel "Deutschland in Aserbaidshan" vor oder Reisen nach Buchara und Samarkand oder die Flucht über Georgien in die Türkei. Bis heute noch in Aserbaidschan gegenwärtig - wie der Schriftsteller Marko Marin in einem dem Band zugefügten Text über einen Aufenthalt in Baku feststellt - ist Essad Bey durch seinen unter dem Pseudonym Kurban Said veröffentlichten Roman Ali und Nino.
Das wie üblich für die Andere Bibliothek aufwendig und äußerst lesbar produzierte Buch macht einen Autor zugänglich, dessen abenteuerliche Biographie wie ein eigenes Kunstwerk immer noch Faszination auslösen kann. Und dessen Thema gegenwärtig von großer Aktualität ist - wie etwa die gerade fertiggestellte Pipeline des Erdgasprojekts "Turk Stream" durch das Schwarze Meer zwischen Russland und der Türkei zeigt.
Essad Bey: Öl und Blut im Orient. Ein autobiographischer Bericht (1929). Mit einem Nachwort zum Leben von Essad Bey von Sebastian Januszewski und einem Essay von Marko Martin auf Spurensuche im heutigen Baku. Die Andere Bibliothek Berlin 2018 (Die Andere Bibliothek 402), 357 Seiten, ISBN 978-3-8477-0402-7
UKRAINE -
SZENARIEN DER (UN)SICHERHEIT
Ukraine-Frühstücksgespräch mit Dr. Andreas Umland
Seit der Besetzung der Krim durch Russland und dem Beginn des Krieges im Osten der Ukraine sind dort mehr als 10000 Menschen gestorben. Ein Krieg, der die europäische "Normalität" begleitet, aber nicht im Mittelpunkt der Debatten steht. Dennoch hängt viel von der
Dr. Andreas Umland (links), Prof. Dr. Mathias Jopp, Leiter des Instituts für Europäische Politik (Foto: www.kultro.de)
zukünftigen Entwicklung des nach der Auflösung der Sowjetunion 1992 neu geborenen Staates ab.
Beim "Ukraine-Frühstück" des Instituts für Europäische Politik (IEP) in Berlin sprach im März 2018 der Historiker und Politologe Dr. Andreas Umland über mögliche Sicherheitszenarien der nahen Zukunft, die aus den gegenwärtigen und vergangenen Umständen und Entwicklungen sich ableiten. Nach der Vorstellung durch den Leiter des IEP, Prof. Jopp und die Projektleiterin Ljudmyla Melnyk vom IEP kam Umland, der beim Institute for Euro-Atlantic Cooperation (IEAC) in Kiew arbeitet, zunächst auf die aktuelle Lage und ihre Entstehung zu sprechen. Der Politologe und Historiker warf zunächst trotz der kritischen Lage strukturell einen eher optimistischen Blick auf die innenpolitische Lage des großen Landes: Seit dem "Euro-Majdan" von 2013/14 seien die herrschenden korrupten Oligarchen in eine Sandwich-Situation geraten zwischen dem Druck der lokalen Zivilgesellschaft und dem der internationalen Geberorganisationen (EU, Weltbank, etc.), die nach dem Rückgang der Auslandsinvestitionen eine immer wichtigere Rolle spielten. Der Reformdruck werde daher unabhängig von den Wahlen im nächsten Jahr nicht nachlassen.
Von dieser Prämisse aus und der Berücksichtigung der geopolitischen Entwicklung formulierte Umland das seiner Ansicht nach wahrscheinlichste Szenario: Das sich zwischen den Machtblöcken herausbildende "Zwischeneuropa" mit seinen außer der Ukraine eher kleineren Staaten (Moldova, Georgien) werde weiterhin eine Grauzone bilden, die sich auch in eine potentielle Kriegszone wandeln könne. Grund sei, dass kein Akteur der russischen Macht widerstehe und Russland als Hegemon in dieser Region bereit ist, militärisch aktiv zu sein. Ein Diskutant benannte diese "Grauzone" als "frozen conflict", was Umland auf die Entwicklung des Krieges in der Ostukraine bezogen noch als positive Entwicklung betrachtete.
Als ein apokalyptisches Szenario erwähnte Umland das Misslingen des Baus der Brücke von Kertsch als direktem russischem Zugang zur Krim, der bei russischen Strategen die Idee aufkommen lassen könnte, ein Gebiet von etwa 500 km zwischen Mariupol und der Krim zu erobern. Andere Szenarien wie der "great bargain", also ein großer Ausgleich zwischen dem Westen und Russland, der etwa den Verzicht der Ukraine auf EU und NATO beinhalte, sieht Umland weniger erwartbar. Mittlerweile ist auch der Sonderstatus in den Beziehungen zu den USA kaum noch wahrscheinlich. Für am meisten unterschätzt hält Umland die Möglichkeit des EU-Beitritts nach den Lissaboner Verträgen und dem Assoziierungsabkommen.
Umland folgerte aus seiner Analyse, dass wohl nur "baby steps", kleine Schritte in dem Grauzonenszenario möglich sein werden, etwa eine Sicherheitsgarantie für Auslandsinvestitionen und Blauhelme im Osten der Ukraine. Die lebhafte Diskussion nach dem Vortrag sprach für dessen Thesen, wenn auch der Begriff des Szenarios methodisch hinterfragt wurde.
Ende Dezember 2017 leitete die EU-Kommission gegen Polen ein Verfahren nach Artikel 7 des EU-Vertrags ein: Weil "infolge der Justizreformen in Polen die Justiz des Landes nun unter der politischen Kontrolle der regierenden Mehrheit [steht]." Es bestehe "die eindeutige Gefahr einer schwerwiegenden Verletzung der in Artikel 2 EV verankerten gemeinsamen Werte"; auch sei die Durchsetzung europäischen Rechts und europäischer Investitionen gefährdet. Weiterhin erhebt die Kommission Klage gegen Polen vor dem Gerichtshof der EU.
Wie konnte es soweit kommen, was geht in Polen vor, seit die Partei "Prawo i Sprawiedliwość (PiS; Recht und Gerechtigkeit) im Oktober 2015 mit nur 18% der Stimmen aller Wahlberechtigten die Regierung stellt? In dem sehr empfehlenswerten Buch "Polska first" sind informative und differenzierte Beiträge zur Gegenwart und jüngsten Geschichte Polens versammelt, die ein plastisches Bild jener politischen und gesellschaftlichen Landschaft entwerfen, in der unter Führung des Parteivorsitzenden Jarosław Kaczyński das EU-Land sich so weit von den Grundwerten der EU entfernt hat.
POLSKA first...
In einem ausführlichen Gespräch hebt der in Warschau lehrende Politikwissenschaftler Klaus Bachmann hervor, dass die de facto-Entmachtung des Verfassungsgerichts ein weiterer Schritte auf dem Weg hin zu einer Präsidialverfassung sei: Die PiS habe konsequent nach dem Wahlsieg "einen großen Teil des Staatshaushaltes an potentielle PiS-Wähler verteil[t]" und gehofft, mit hohen Unterstützerzahlen die Verfassung zu verändern. Dies funktioniere aber bisher noch nicht ganz. Zugleich werden vor allem Richterstellen, Ämter in der Wahlkommission,Positionen in den Staatsmedien und Anzeigen in Medien unter Rücksicht auf Unterstützer der PiS vergeben. (Aus der polnischen Perspektive fällt ein besonderes Licht auch auf die Justiz"reformen", die die rumänische Regierung derzeit anstrebt, um die Staatsanwälte und Korruptionsverfolger dem Justizminister zu unterstellen - mit eindeutiger Absicht.)
Die Journalistin Kajo Puto benennt als grundlegende kulturelle Spaltung die zwischen dem traditionellen Polen und dem europäischen Polen, also zwischen dem romantischen Mythos von der ewigen Opfer- und zugleich Erlösernation und dem optimistischen Narrativ vom Erfolg der Bildung, der sozialen Bewegungen, der aufgeklärten Politik mit den europäischen Nachbarn. In diesen Gegensatz lässt sich auch die Frage der Abtreibung einbinden, wie Baumann klar macht: "Die üblichen Kriterien, aufgrund derer man das Wahlverhalten vorhersagen kann, spielen in Polen eigentlich keine Rolle. [...] Diese ganzen Fragen, die rechts und links unterscheiden, kann man in Polen ersetzen durch die Frage: Bist du für oder gegen die Abtreibung? Dann weiß man im Prinzip, für wen derjenige stimmt."
Was in den Jahren der ökonomischen "Schocktherapie" einer neoliberalen Marktwirtschaft mit dem Ziel, der EU und der NATO anzugehören, vielfach verdeckt blieb, kam nach Erreichung dieser Ziele als Kritik an der früheren Verklärung des Westens an die Oberfläche. Nationale Denkweisen, soziale Frustrationen, der Streit um Abtreibung und Frauenemanzipation, die geopolitische Nähe zu Putins Russland, der Absturz der Präsidentenmaschine mit dem Tod des Zwillingsbruders von Kaczyński, die lange vom früheren Premierminister Donald Tusk vertretene Europabegeisterung - indem die PiS bei all diesen Themen und Ereignissen an das traditionelle Polen appellierte und Stadt gegen Land ausspielte, ist es ihr gelungen, die Meinungs- und Parlamentsvorherrschaft zu erringen. Aus Europa-Orientierung wurde Kritik an "Nachahmungspolitik", aus dem Dialog mit den Nachbarn wurde Kritik an einer vermeintlichen "Unterwerfung".
Interessant sind auch die Motive, aus denen heraus Kaczyński heraus agiert. Früher selbst mit seinem Zwillingsbruder in der Gewerkschaft Solidarność aktiv, behauptet er heute, dass bei den Verhandlungen am Runden Tisch seinerzeit die Errungenschaften der Solidarność verspielt wurden, dass keine konsequente "Dekommunisierung" statt gefunden hätte. Und zudem sei der Flugzeugabsturz bei Smoleńsk ein Mordanschlag auf seinen Bruder gewesen. Der FAZ-Korrespondent Konrad Schuller hebt in einem Psychogramm Kaczyńskis dessen Vorliebe für Machiavelli und Carl Schmitt(!) hervor.
Welche widersprüchlichen Bewegungen in der von Kaczyński gesteuerten "De-Europäisierung" notwendig sind, macht Piotr Buras deutlich, indem er aufzeigt, wie die früheren außenpolitischen Optionen des Landes durch die PiS in die Sackgasse geführt wurden. Eindeutig ist auch das Bild der PiS-Anhängerschaft nicht. So hat die Zahlung von monatlich 500 Euro für junge Familien mit Kindern große Zustimmung gefunden.
Es hat bisher durchaus Widerstand gegen den antidemokratischen und anti-europäischen Kurs der PiS-Regierung gegeben, eine Verschärfung des Abtreibungsrechts wurde verhindert, der PiS-Präsident Duda legte ein Veto gegen Teile der Justiz"reformen" ein. Dennoch bleibt die politische Zukunft Polens ungewiss und mit ihr auch die der EU, der anzugehören einst das alle einigende große Ziel Polens war. Der Politologe Baumann meint: "Meine größte Befürchtung im Blick auf die weitere Entwicklung in Polen: nicht, dass jemand hier eine Diktatur einführen will - sondern dass sie eingeführt wird, ohne dass es jemand will."
POLSKA first. Über die polnische Krise. Hg. v. Andreas Rostek. edition.fotoTAPETA_Flugschrift. Berlin 2018, ISBN 978-3-940524-70-6, 240 Seiten
Junge Visionen für Europa
Europa? EU? Nachhaltigkeit? Identität? Das sollen Themen sein, die junge Leute aufrütteln, begeistern, nicht schlafen lassen? Kaum zu erwarten. Und doch ist es so: Seit einem Jahr treffen sich junge Wissenschaftler, NGO-Aktive, Interessierte aus EU-Institutionen, zivilgesellschaftlich Engagierte u.a., um über diese Begriffe und ihre Inhalte, über die Zukunft und die Realität Europas nachzudenken. Warum? Weil sie eine Vision formulieren wollen für ihre Generation, in der Europa im Zentrum steht. Und sie machen das nicht aus dem Blauen heraus, sondern investieren eine Menge Energie, Know How, Nachdenken und Diskussionen in die Erarbeitung einer tragfähigen Zukunftsperspektive für Europa.
Es sind junge Leute wie Constanze Aka (IEP), Manuel Gath vom Think Tank Das Progressive Centrum oder Tatjana Kuhn vom Centre International de Formation Européenne (CIFE), Timo Stockhorst von den Jungen Europäischen Föderalisten Saar, die Studentin Franziska Petri, die nach Studium und diversen Berufserfahrungen wissen, wie Diskurse, Strategien, Inhalte, Politik bewegt und jongliert werden können, damit am Ende etwas herauskommt, sich etwas bewegt hat. Und der Hauptantrieb ist natürlich, dass sie für Europa brennen, dass die jetzige Situation sie umtreibt.
Entstanden ist das Ganze im idyllischen Otzenhausen im nördlichen Saarland – an der dortigen altehrwürdigen Europäischen Akademie (EAO), die bereits seit 1954 die Europa-Kompetenz des damals noch autonomen Saargebietes in den folgenden Jahrzehnten wesentlich mitprägte. Zwischen Frankreich, Luxemburg und Deutschland gelegen befand sich hier einst die politische Mitte des westlichen Teils des Erdteils, in dem die Idee seiner Vereinigung geboren wurde. Studiendirektor Sebastian Zeitzmann von der EAO weist darauf hin, dass es ein "Kick-off-Workshop" im April 2017 war, der engagierte junge Europainteressierte aus unterschiedlichen Initiativen und Berufsfeldern zusammenführte, um ihre Vision zu entwickeln. Dieser Beginn selbst wurde angestoßen von dem Berliner Institut für europäische Politik (IEP), das durch seinen Leiter Prof. Jopp das Projekt #ALTEU initiierte, um zahlreiche Initiativen mit ihren Überlegungen zur Zukunft Europas zu fokussieren.
Auf der Abschlusskonferenz in Berlin im Deutschen Architekturzentrum (DAZ) wurden im Dezember 2017 die Formulierungen der Vision in ihren Teilaspekten diskutiert, u.a. mit der früheren saarländischen Europaabgeordneten Doris Pack (CDU), Susanne Wixforth vom DGB, dem Bundestagsabgeordneten Marcus Faber (FDP), Prof. Gabriele Abels (Univ. Tübingen) und Prof. Björn Hacker (Berlin).
Ein „Vision Slam“ fasste einige Hauptaspekte zusammen: Unter „Lebenssicherheit“ wird eine völlig neue Sicht auf die menschlichen Aktivitäten verstanden, die sehr viel mehr sich als Teil von Natur und Umwelt verstehen und unter Infragestellung von Lebensstandard entscheidend auf Lebensqualität in Arbeitswelt, sozialer Umwelt und Politik setzen müssten. Unter „Identität“ werden Forderungen nach der Umsetzung von Anstrengungen zu einer europäischen Öffentlichkeit, nach Partizipation, Solidarität formuliert. Hier ist auch der Ort, über die kulturellen Differenzierungen in Europa nachzudenken und wie sie jedes Konstrukt einer „Union“ bereichern, wenn kulturelle Kommunikation auf EU-Ebene gefördert wird. Unter „Nachhaltigkeit“ wurde vielleicht am weitestgehenden der Übergang von einer Wegwerfgesellschaft zu einer Kreislaufökonomie gefordert. „Außenpolitik“ fordert die Sichtbarkeit der EU nach innen und außen durch Installierung eines Außenministeriums, die Formierung von „Grünhelmen“ als Möglichkeit humanitär oder militärisch einzugreifen.
In den Diskussionen zeigte sich ebenso das Potenzial dieser Vision zur Wiederbelebung der europäischen Idee als politische Handlungskraft wie natürlich auch Defizite in der Bezugnahme auf reale Probleme, deren Lösung erst die Vision ermöglichen würden, zu Tage traten.
Es lohnt sich jedenfalls, sich ernsthaft mit diesen neuen Visionen für Europa auseinanderzusetzen.