Fortsetzung Kaltenbrunner, Altkalendarismus
Und in der Frage des Kalenders wurde 1924 entschieden, den moderneren, 13 Tage voraus liegenden Kalender des Papstes Gregor XIII. zu übernehmen, der seit 1582 die Diskrepanz des Kalenders zur astronomischen Realität verringerte. Vor allem für die Berechnung des wichtigsten orthodoxen Festes – Ostern – war diese Berechnung entscheidend, für die Bauern hingen damit auch Saatbeginn und weitere Datierungen zusammen. Und für einige war auch das Weihwasser, das nicht am alten Epiphanietag 19. Januar gesegnet wird, nicht heilig: "Seit vier Jahren haben wir keine Eucharistie mit Weihwasser, das an dem Epiphaniasfest geweiht wird, empfangen. Wir haben keine Geduld mehr", schreibt 1929 ein Gläubiger an den Bischof von Hotin. Das Weihwasser verliere seine heiligen Eigenschaften, wenn die Boboteaza (Wassertaufe) nicht nach dem alten Kalender gefeiert werde und die Bauern müssten ohne Weihwasser auskommen. (102/3)
Die Kirche versuchte durchaus, der Bevölkerung den Sinn der Reform etwa durch eine 100000-Kalender-Aktion deutlich zu machen. Aber die Texte waren wenig zugänglich geschrieben und konnten nicht überzeugen. Darin wurde die Reform als "Verbesserung" des Kalenders dargestellt (wie sie die von der Autorin nicht erwähnte meletianische Reform von 1923 vorschlug). Wenig überzeugend agierten einzelne Eparchien, wenn Zugeständnisse an die Ablehnung gemacht wurden, die etwa in Iași das Gerücht beförderten, die Festlegung des wichtigen Pilgertermins zum Grab der Hl. Parascheva erfolge 1926 ausnahmsweise nach dem alten Kalender.
Die Autorin bettet die Modernisierungsentscheidung ein in die detaillierte Beschreibung und Dokumentation der durchaus konfliktreichen klerikalen Situation in Bessarabien Anfang der 1920er Jahre mit den erwähnten Sekten, einem vielfach wenig spirituellen Klosterleben armer, kaum gebildeter Mönche und Nonnen, Dorfpriestern, die die Ablehnung der Gemeinde erlebten, Bischöfen, die für oder gegen die Neuerungen der Bukarester Zentrale auftraten, einer bäuerlichen Bevölkerung, die aus Traditionalismus und Aberglauben sich gegen die Änderungen auflehnte. Diese strukturellen Analysen folgen nicht der strikten Chronologie, sondern springen zur Präzisierung der Strukturen auch über die Jahre, so dass immer wieder neue Schichten des Phänomens aufgedeckt werden, um neue Anläufe zum Verständnis des historischen Altkalendarismus zu unternehmen. Allerdings geht in dieser Darstellungsweise der Bezug zu der maßgeblichen Entscheidung in der Zentrale der BOR, der Heiligen Synode, etwas unter: So werden die Texte der Reform nicht zusammenhängend diskutiert, sondern primär die Interaktionen zwischen Gemeinden, Staat, Parteien, Klerus erörtert. Insofern ist das Verständnis etwa der punktuellen Rücknahme der Reform 1926 in ihrer Begründung von Kirchenseite erschwert, was möglicherweise an der mangelnden Zugänglichkeit kirchlicher Quellen liegt.
Es lässt sich an der mehrperspektivischen Diskussion von zahlreichen Akten der Siguranța und der Jandarmerie aber extensiv nachvollziehen, wie die Ablehnung der Kalenderreform in den Widerstand und die Ausbildung eigener kirchlicher Strukturen umschlägt. Es sind aufschlussreiche Einblicke in die Realität von Priestern und Dorfgemeinden in Bessarabien, die oft aus den behördlichen Überwachungsakten rekonstruiert werden. Das Dorf Albineț mit seinem Kirchenbau durch die Altkalendaristen und der Suche nach einem Priester dient hier als Beispiel. Darüber hinaus verfolgt die Autorin einzelne Biographien von involvierten Priestern bis zum Berg Athos oder jener des Leipziger Protestanten Serafim Lade, der zur Orthodoxie übergetreten war und nach Aufenthalt in der Sowjetunion in der Exil-Kirche Bischof wurde und einmal auch für 3 Tage Bessarabien besuchte, um die russische orthodoxe Kirche zu unterstützen, aber fälschlicherweise lange als heimlicher Anführer der Altkalendarist*innen galt.
An den Fehleinschätzungen hatten auch die medialen Repräsentationen der "Stilisten" in der Öffentlichkeit der Bukarester Presse Anteil, in denen insbesondere auf die blutigen Vorfälle in Albineț 1935 reagiert und oft zum ersten Mal das Phänomen des Altkalendarismus wahrgenommen wurde. In diesen Presseartikeln findet die Autorin zahlreiche Aspekte der Problematik in nuce: Zensurpraktiken, politische Beeinflussung und Tendenzen, Ursachenforschung mit widersprüchlichen Zuschreibungen an kommunistische, ukrainische, russische, nationaltzaranistische oder ausländische Gruppen als Verursacher, geringe empirische Datenlage. Die Siguranța sah "materielle" Unterstützung durch die Klöster des Berg Athos in Griechenland gegeben, wohin verfolgte altkalendarische Mönche und Priester flüchteten und von wo durch Broschüren und Entsendung von Priestern für die altkalendarische Sache geworben wurde (politisch-ideologisch hielt die Siguranța Moskau für die Macht hinter dem Altkalendarismus.) Für eine begrenzte internationale Öffentlichkeit sorgte 1930 eine Beschwerde beim Völkerbund in Genf der Russischen Kirche (ROKA) in Chișinău gegen die rumänische Regierung wegen Verletzung von Minderheitenrechten, in der der örtliche Vertreter des ROKA-Chefs Lade, Vladimir Poleacov, ein aus der Sowjetunion geflüchteter Priester, eine Rolle spielte. Er galt den Behörden als Anführer der Altkalendarist*innen und wurde wiederholt angeklagt und ihm die Ausübung des Priesteramtes untersagt. Reale Unterstützung macht die Autorin allerdings im politischen Feld bei der antisemitischen Partei LANC aus. Die in Iași gegründete Partei des pathologischen Antisemiten Al.C.Cuza, Jura-Professor in Iași und Schwiegervater von Codreanu, dessen Legion sich 1927 von Cuza trennte, hatte in Bălți ihren bessarabischen Schwerpunkt und es gelang ihr über "eine loyale wechselseitige Unterstützung" (171) mit den Altkalendaristen in 10 Jahren auf über 20% der Wählerstimmen in Bessarabien zu gelangen. Interessanterweise beschränkte sich das Interesse der Partei am Altkalendarismus nur auf die Regionen, wo dieser stark war; selbst in Bessarabien zeigte sie in weniger protestaffinen Regionen nur mäßigen Einsatz für die Altkalendarist*innen. Allerdings befeuerte die Partei in den frühen 1930er Jahren die wachsende antistaatliche Haltung des Altkalendarismus und den Ausbau ihrer Organisation. Darin vermeinten andere hingegen eine klare "kommunistische" Stoßrichtung zu erkennen.
Unübersehbar spitzte sich jedenfalls in den 1930er Jahren der Konflikt
zwischen Kirche, Staat auf der einen Seite und der Bewegung der Altkalendarist*innen deutlich zu. 1934 gab es in einem Dorf bei Vaslui in der Moldau bei Zusammenstößen von 80 Gendarmen, die einen
Mönch verhaften sollten, und 400 Altkalendarist*innen 3 Tote auf Seiten der Bauern. 2 Jahre später kam es bei Albineț an einem Festtag der Stilist*innen ebenfalls zu Auseinandersetzungen mit 4
Toten. Diese aufsehenerregenden Fälle veranlassen die Autorin, die großen politischen Veränderungen in Rumänien zu fokussieren, wo von 1934-37 eine nationalliberale Regierung mit dem
Innenminister Ion Inculeț, dem früheren Präsidenten des kurzlebigen bessarabischen Staatsrates von 1917/18, durch den die Vereinigung Bessarabiens mit Rumänien beschlossen wurde, das Problem der nicht
nur auf diesem Feld wachsenden Gewalt in den Griff zu bekommen. Patriarch Miron Cristea (1934 selbst Ministerpräsident) hatte nach wenig wirksamen Bitten an das Kultusministerium wiederholt das
Innenministerium um Hilfe gegen die Altkalendarist*innen und ihre Organisation gebeten. Die blutigen Vorfälle veranlassten zunächst eine der Jandarmerie nahegelegte Deeskalationsstrategie, um dann doch stärker auf Repression zu setzen. 1936, als erstmals ein stilistischer
Gesamtkongress aus Moldau und Bessarabien geplant wurde, konnte diese Massenveranstaltung verhindert werden. Priester und Anführer der Altkalendarist*innen wurden verhaftet. Bei einer
Demonstation wurden 4 Stilisten in Piatra Neamț in der Moldau getötet. Insgesamt nahm die Jandarmerie 388 Stilisten in Untersuchungshaft, 104 wurden in Klöstern interniert, 80 Kirchen und
Gebetshäuser wurden geschlossen. Bevor die Studie mit einem Blick auf das sich
abschottende Alltagsleben und die Zusammensetzung der altkalendaristischen Gemeinschaften schließt, geht Kaltenbrunner auf die 3
Klöster im Süden Rumäniens ein, die als Internierungsgefängnisse dienten. Patriarch Cristea hatte, ohne die Zustimmung der kirchlichen Stellen einzuholen, entschieden, dass die verurteilten
Altkalendarist*innen dort isoliert gefangengehalten werden sollten. Mit dieser Zerschlagung der organisierten Struktur des Altkalendarismus war dessen Geschichte aber nicht beendet. Allerdings
konnte trotz zahlenmäßigem Erstarken die Stärke und der Einfluss der Bewegung nicht mehr erreicht werden. Sie beschränkte sich vor allem auf passiven Widerstand. Ihre weitere
Geschichte fand dann vor allem wegen des Zweiten Weltkrieges keine so intensive öffentliche Beachtung mehr wie in den 1920er und '30er Jahren.
Andreea Kaltenbrunners Studie analysiert sehr überzeugend weitgehend unbekannt gebliebene religionssoziologische und politische Verhältnisse im Gefolge des Anschlusses Bessarabiens an Groß-Rumänien auf breiter Quellenkenntnis und in erfreulich ausführlicher Darstellung. Nicht zuletzt wirft dies auch ein Licht auf sog. "Wieder-Vereinigungen" - wiederholt verweist die Autorin auf fehlende oder schwache Überzeugungsansätze und fehlende Sensibilität für Traditionen und Untscherschiede. Dass die Ostertage heute nur selten auf ein gemeinsames Datum fallen, geht auf die meletianische Reform von 1923 in der orthodoxen Kirche zurück: Sie belässt die fixen Festtage bei der gregorianischen Berechnung, aber Ostern und daran anknüpfende Zyklen werden nach julianischem Kalender gefeiert.
Andreea Kaltenbrunner: Für den Glauben, gegen den Staat. Der Altkalendarismus in Rumänien (1924-1936).
De Gruyter Oldenbourg, Berlin 2021 (Südosteuropäische Arbeiten 166)
422 Seiten
ISBN 978-3-11-078542-5