Fortsetzung
Annas/Paulus
Der Inhalt der schmalen Deutschen Berichte lässt sich bei den 8 Textzeugen in einen Kernbestand von 35 kurzen Episoden einteilen, einige Quellen zeigen noch zusätzlich weitere Episoden als "Sondergut" auf. Die sprachlich-dialektalen Abweichungen der Texte lassen nach Ansicht der EditorIn keine Hierarchie der Textzeugen zu, ja eröffnen die Möglichkeit auch mündlicher Verbreitungsformen der Episoden. Entstanden sind die Deutschen Berichte nach Ansicht der HerausgeberIn wohl in lateinischer Sprache am ungarischen Königshof in Budapest – möglicherweise waren dort
"bereits seit längerer Zeit Informationen über einen schwierigen Bündnispartner gesammelt worden, die im Falle einer krisenhaften Zuspitzung der diplomatischen Beziehungen aktualisiert und der entsprechenden politischen Situation angepasst werden konnten. Schriftliche Berichte und mündliche Interventionen aus der Walachei und Siebenbürgen mögen hier ebenso wie in Buda frei zirkulierende Meldungen und Dokumente aus der königlichen Kanzlei eine Rolle gespielt haben." (91)
Ausführlicher gehen die Herausgeber/in auf die Verbreitung der Textzeugen ein. Eine entscheidende Rolle spielten hierbei alpenländische Klöster wie Melk, Augsburg, Tegernsee mit ihrem frühhumanistischen historiographischen und enzyklopädischen Interesse an Osteuropa und besonders auch an der türkischen Entwicklung. Die in Fragen kommenden Anhänger dieses Interesses können sogar durch Namen wie Johannes Schlitpacher oder Sigismund Meisterlin und Johannes von Mediasch dokumentarisch näher präzisiert und somit aus den Quellen die Umstände, in denen die Textzeugen entstanden, näher beleuchtet werden. Wenn auch viele Zusammenhänge nur durch Vermutungen und Schlüsse sich ergeben, so wird dennoch ein plausibles Szenario entworfen, in dem Möglichkeiten und Bedingungen der Verbreitung der Deutschen Berichte plastisch werden. Insbesondere liefern die famae und Gerüchte um die Grausamkeiten Vlads in Briefen, diplomatischer Post, Stadtchroniken außerhalb der Berichte solche Hinweise. An deren Verbreitung dürften auch siebenbürgische Mönche wie jener Johannes von Mediasch oder Michael Helta beteiligt gewesen sein. Kloster Melk diente hierbei mit seiner im Süden ausstrahlenden Reformagenda quasi als "zweiter kommunikativer Transmissionsriemen (neben Wien)" der "frühen Ost-Westvermittlung draculanischer Erzählungen", die bis ins Elsass reichten. (110)
Zu bedenken ist bei der textlichen Gestaltung auch ihr literarischer Charkater. Es handelt sich um 'Geschichten', die Vorbilder benutzen wie etwa aus der Bibel oder antiken Herrscherbiographien. Zentral ist hier das Motiv der herrscherlichen Grausamkeit, das in der Antike die Viten von Nero oder Maxentius hervorhoben, die explizit in den Deutschen Berichten genannt werden. Auch die Bibel kennt das Motiv. In christlicher Tradition heben die Märtyrerlegenden die von den Glaubenszeugen erlittenen Grausamkeiten hervor. Ungelöst bleibt bei diesen Überlegungen das genaue Verhältnis von historischer Substanz und rhetorisch-literarischer Traditionsübernahmen in den Deutschen Berichten.
Was die frühen Manuskriptentstehungen angehen, lassen sich 2 Etappen
unterscheiden: zunächst die Manuskripte der Berichte zu Lebzeiten Dracols um
1462/3 bis Beginn der 1470er Jahre, danach jene, die nach seinem Tod 1476 einsetzt und mit dem ersten nachweisbaren Druck der Geschicht Dracole waide (1488) in Nürnberg bei Marx Ayrer (mit einer Porträtillustration!) einen neuen Rezeptionsstrang eröffnet. Die Drucke
fügten den Episoden oft einen christlich-moralisierenden Schluss hinzu, nahmen damit Vlad in die Reihe der anti-osmanischen Verteidiger des christlichen Abendlandes auf. Zugleich hatten sie
Anteil an akademisch-historiographischem Interesse, das die Entwicklung auf dem Balkan und die Türkenkriege verfolgte und die Aktivitäten des walachischen Fürsten als politisch
Handelndem festhielt. Ein Exemplar des Drucks lässt sich etwa bei dem Polyhistor Hartmann Schedel nachweisen.
Vor die nun folgende eigentliche Edition der Deutschen Berichte (192-218) haben die HerausgeberIn eine Beschreibung der 8 Handschriften gestellt, in der vielfach auf die bisher reich entfalteten Kenntnisse zurückgegriffen werden kann. Sie entschieden sich für die Colmarer Handschrift (C) als Leithandschrift, da diese "nicht nur zeitnah, d.h. wohl wenige Jahre nach der Verhaftung Vlads (Jahresende 1462) entstanden [ist] und somit zu den ältesten Überlieferungsträgern zählt, sondern [...] inhaltlich bezüglich Episodenabfolge 1 bis 35 und -vollständigkeit einen Textbestand behielt, der zwischen den weiteren sieben Überlieferungen eine vermittelnde Stellung einnimmt." (189) Ebenso sind die Londoner (L) und die zweite St. Galler Handschrift (S2) im Volltext gedruckt; die Abweichungen in den anderen Textzeugen werden als Varianten in Anmerkungen gegeben. Angeschlossen an die Edition ist ein historischer Kommentar zu den einzelnen, insgesamt 43 Episoden, der noch einmal die historischen, literarischen, sprachlichen Besonderheiten zusammenfasst. So lässt sich das Buch auch modular lesen – zuerst die Edition, dann vielleicht die Handschriftenbeschreibungen oder zunächst der historische Kommentar oder linear anfangs die ausführlichen historischen und narrativ-linguistischen Analysen.
In jedem Fall ist der Gewinn außerordentlich angesichts der enormen Ausbreitung von Detailkenntnissen und des weiten Blicks auf die Kontexte der Entstehung, Verbreitung und frühe Rezeption der Deutschen Berichte zu Vlad III. Drăculea. Das Buch reiht sich bestens ein in die Arbeiten am Corpus Draculianum wegen seines Reichtums an Information, seinen die Vorstellung erweiternden Spekulationen auf der Basis von gesicherten Quellen, seinen zum Thema gehörigen Funden. Alles in allem eine sehr gründliche und anregende Einsicht in die Forschung zur spätmittelalterlichen Țepeș-Rezeption, die den Boden legt für den entsprechenden Band des Corpus Draculianum.
Gabriele Annas, Christof Paulus:
Geschichte und Geschichten. Studien zu den ‚Deutschen Berichten‘ über Vlad III. Drăculea
Harrassowitz Verlag Wiesbaden 2020 (Monumenta Germaniae Historica. Studien und Texte, 67), 269 Seiten
ISBN 978-3-447-11390-8