Hatzfeld - Jimbolia
Fortsetzung
Wer waren diese KolonistInnen und wie erging es ihnen in Hatzfeld? Diesen Fragen widmet sich Karl-Peter Krauss' "mikrogeographischer Blick auf die Familie und ihre Struktur" (77) anhand von größeren statistischen Datenmengen. Dabei tun sich interessante Einblicke in einzelne Familien und ihre langjährigen Entwicklungen auf. Wie Fata bereits anmerkt, ist es zunächst eine erschreckend hohe Mortalitätsrate, die die Neusiedler in der ungewohnten Umgebung trifft. Die Säuglings- und Kindersterblichkeit ist enorm, wenige erreichen nur das Erwachsenenalter. Dies bessert sich nach ungefähr 3 Jahren, wenn auch Epidemien wie Cholera noch im 19. Jahrhundert die Region heimsuchen. Ergebnis sind selbst für heutige Verhältnisse ungewöhnliche "Patchworkfamilien" aus Stiefeltern und -kindern, weil nach dem Tod von Elternteilen sehr schnell zur Versorgung der Familie neue EhepartnerInnen gesucht wurden. So entstehen große Patchworks von leiblichen und Stiefgeschwistern – nicht selten aus 3 oder gar 4 Ehen, wobei nach dem Tod von Eltern(teilen) oft die Kinder in andere Familien gegeben werden. Solche Familienstrukturen waren allerdings in Südosteuropa nicht unüblich. Auch lässt sich bei den Hatzfelder SiedlerInnen die "Hajnal-Linie" bestätigen, wonach östlich einer ungefähren Linie von Petersburg bis Triest auf der östlichen Seite ein niedrigeres Heitratsalter als westlich davon feststellbar ist. Die Hatzfelder SiedlerInnen haben dies sehr schnell übernommen. Dass die von Fata angenommene Orientierungen an einer "guten Ordnung" oft an der Realität zerschellen, kann auch Krauss mit Beispielen aus sehr drastisch und anschaulich beschriebenen Ehegerichtsfällen belegen. So bieten seine Ausführungen mit ihrem sowohl statistischen wie fallweisen Erörterungen sehr spannende Perspektiven auf die Realität der ersten Hatzfelder SiedlerInnen.
Fast eine eigene Monographie bildet der Beitrag von Josef Wolf unter dem Titel "Umkehrung der Homogenität", in dem bis in die Gegenwart die ethnische Diversifizierung von Hatzfeld akribisch untersucht wird. Bereits am Beginn stellt der Autor klar, dass das Banat nicht nur von deutschen SiedlerInnen als neue Heimat ausgesucht wurde, sondern dass die "ethnische und konfessionelle Überlagerung das Ergebnis zeitlich geschichteter Migrationsvorgänge" von Zuwanderern unterschiedlicher Herkunft war (S. 137). Zunächst als sehr homogen mit sprachlich unterschiedlichen SiedlerInnen aus dem Südwesten Deutschlands und Lothringen besiedelte Doppelgemeinde angelegt (98% der EinwohnerInnen aus dem "Reich"), waren es die von Wolf in das Zentrum seiner Thematik gerückten sozialen und besitzrechtlichen Umbrüche, auf die Kolonisation und Innenkolonisation als Migrationen reagierten bzw. diese auch verursachten. Die Bevölkerungszahl verdoppelte sich bis 1785 auf 3025 und noch einmal bis 1855. Nach dem Zweiten Weltkrieg stieg sie infolge von Industrialisierung auf zeitweise über 15000 BewohnerInnen an. 1870 betrug der Anteil der Deutschen noch 82%, 1910 wegen Auswanderung nur noch 74%, 1966 36% und gegenwärtig 2011 2,9%. Wolf kommt es zunächst auf die berufliche Struktur der Gemeinde an, in der sich auch Handwerker und einige Kaufleute niederließen. Hatzfeld erwarb auch früh Marktrechte. Im Laufe der Jahrzehnte differenzierte sich zudem die zunächst gleiche Ausgangslage in unterschiedliche Vermögensschichten der Bauern, was ebenfalls neue Migrationen innerhalb des Banats oder nach außen verursachte.
Ebenso entscheidend wurde die Tatsache, dass nach 1790 die Veränderung der Rechtsform die Kolonisierung von der staatlichen zur privatwirtschaftlichen Angelegenheit machte und Dörfer und Land verkauft werden konnten, was einen entscheidenden Faktor in der Geschichte nicht nur von Hatzfeld darstellte. Mit der gräflichen Privatgrundherrschaft Csekonics kam Hatzfeld zu einer ökonomisch erfolgreichen Adelsfamilie, die mit dem Bau von zwei Schlössern die Gemeinde auch architektonisch prägte. Die Kammerdomäne der Csekonics mit mehreren Dörfern bedeutete auch die Entwicklung in Richtung auf eine ländliche Kleinstadt. Die Csekonics wurden eine der reichsten Familien Ungarns. Auch durch Mühlen, Ziegel- und Hutfabrikation wuchs der Anteil der Arbeiterschicht in Hatzfeld Ende des 19. Jahrhunderts an.
Diese zentralen Ergebnisse reichert Wolf sehr überzeugend mit den Daten von sozialen und soziologischen Strukturen etwa des Sprachgebrauchs an, die zeigen, wie die Assimilation der "Schwaben" an die ungarische Gesellschaft im 19. Jahrhundert relativ natürlich auch die Übernahme der ungarischen Sprache bedeuten konnte und so Hatzfeld 1899 zu Zsombolya wurde. Zugleich trugen die kleineren Minderheiten wie Juden, Roma, Serben und Kroaten, Ungarn, Rumänen zur sprachlichen Diversifizierung bei. Auch das Vereinswesen reagierte im Laufe der Jahre auf konfessionelle, ethnische, sprachliche, soziale Unterschiede. Dabei zeigte sich die Herausbildung einer bäuerlich-bürgerlichen Leitungsschicht, die die zur Kleinstadt anwachsende Gemeinde prägte und sich oft an der ungarischen Umgebung orientierte. Migration bestimmte auch die Industrialisierung des Ortes als etwa die Ziegelproduktion der Firma Bohn einen ganzen Stadtteil Furtok entstehen ließ, der ganz anders geprägt war als der Rest.
Kommen zahlreiche Fakten der sozialen Differenzierung im Zeitverlauf zur Sprache, so ist ihre chronologische nicht immer leicht zu verfolgen. Jedenfalls bleiben die Grundzüge erkennbar wie auch die beiden großen Brüche: Zerfall der k.u.k.-Monarchie und Übergang an Serbien – erst 1924 an Rumänien – und der Zweite Weltkrieg mit der nachfolgenden Etablierung des kommunistischen Systems. Diese Brüche verursachten Migration und abrupten Wandel – am Ende war Hatzfeld von einem schwäbisch-bäuerlichen Dorf zu einer rumänischen Kleinstadt mit Industrieanteil verändert worden.
Mit diesen wichtigen soziostrukturellen Daten im Hinterkopf fragt Olivia Spiridon im nächsten Kapitel nach den Repräsentationen dieses kleinstädtischen Gefüges in den Medien der Zeit. Für die Entwicklung von Zsomboly oder Jimbolia waren Zeitungen durchaus eine Notwendigkeit. Dies erkannte auch 1882 Rudolf Wunder, Sohn eines Druckereibesitzers in Weißkirchen, der die wichtige Wochenzeitung Hatzfelder Zeitung gründete, die bis 1941 erschien, bevor sie von der nazistischen Deutschen Volksgruppe verboten wurde. Nebn ihr gab es auch weitere kurzlebigere Zeitungsprojekte, aber auch literarische und historiographische Auseinandersetzungen mit der kleinen Industriestadt und ihrer wechselnden Grenznähe. Wunder fand bei seiner Ankunft den Südungarischen Bauern und die Hatzfelder Sonntags-Zeitung vor, letztere war aber bereits eingestellt. Spiridon listet die Reihe der meist kurzlebigen Konkurrenzblätter der Hatzfelder Zeitung auf, ebenso special interest-Blätter wie Volks-Kalender. Sie zeigt detailliert die dynamische Entwicklung im Banater Medienmarkt nach Mitte des 19. Jahrhunderts, in dem Wunder sich etablieren konnte. Zudem finden Zeitungsgründungen über den Medienmarkt hinaus im Zusammenhang mit anderen lokalen und regionalen ökonomischen Strukturen statt, deren Förderung meist erklärtes Ziel der Zeitungen ist. So sind Medienmacher auch Drucker, Gewerbetreibende, Lehrer, Kaufleute, etc. Ebenfalls stellt Spiridon deren Verwobenheit mit dem gesellschaftlichen Leben heraus und analysiert daher auch das gesellige Leben mit seinen "Casinos" und Vereinsbildungen, Festen und Feiertagen, philanthropischen und kulturellen Ambitionen. So wird die Zeitung im Laufe der Jahrzehnte zur wichtigen Quelle der sozialen Aktivitäten einer sich entwickelnden Kleinstadtgesellschaft, die durch Erinnerungstexte das Selbstbild der Gemeinde prägt. Als liberal-patriotisches Blatt nahmen Nationalitätenfragen oder die Reflexion als "deutsche Minderheit" zunächst kaum Platz in der Berichterstattung ein, während über den Verein zur Pflege der ungarischen Sprache durchaus berichtet wird. Zu beobachten ist im Laufe der Zeit eine Zweisprachigkeit, wenn etwa die amtlichen Mitteilungen auf Ungarisch abgedruckt werden oder ein Journalist des ungarischen Blattes zum Chefredakteur der Hatzfelder Zeitung wird und der neue Chefredakteur auch in einer ungarischen Lokalzeitung schreibt.
Mit dem gebürtigen Hatzfelder Dichter und Journalisten Peter Jung trat nach dem Ersten Weltkrieg ein Chefredakteur an, der der veränderten Lage Hatzfelds im serbischen und dann ab 1924 im rumänischen Staat Rechnung trug und die Themen seiner "Stammesbrüder" journalistisch aufarbeitete. Es sind Schlaglichter auf die tumultösen Folgen des Untergangs der Habsburg-Monarchie, in denen Jung jetzt die ethnische Komponente hervorhebt und das Blatt den Untertitel "Deutschvölkische Zeitung" erhält. Allerdings sollte in der Gestalt des Ex-Offiziers und Politikers Karl von Möller erst die Ausrichtung auf die rassistische und nazistische Bewegung in Deutschland auch im Banat durchschlagen. von Möller war in Temeswar 1921 Gründer der Deutsch-Schwäbischen Volksgemeinschaft, Senator im Bukarester Parlament, der 1931 in Hatzfeld lebte und mit dem Roman Grenzen wandern eine der emblematischen Formeln für die Ereignisse nach 1918 geprägt hatte. Im gleichen Jahr war er Chefredakteur der Hatzfelder Zeitung, wurde aber bald von Jung wieder abgelöst, was ausführliche Pressefehden auslöste, an denen sich der steigende Einfluss des Nationalsozialismus in den deutschen Minderheiten Rumäniens widerspiegelte. Der christlich-konservative Jung erwies sich als hartnäckiger Kritiker dieser Entwicklung. Schließt Spiridon ihren Beitrag mit einem Ausblick auf die literarische Präsenz von Hatzfeld in der Literatur des kommunistischen Rumäniens (über Die Hatzfelder Sieben oder Gedichte von Horst Samson und Prosa von Herta Müller), so wird deutlich, dass seit dem 19. Jahrhundert eine dörflich-kleinstädtische Öffentlichkeit sich in Zeitungen, Literatur, Geselligkeit herausgebildet hatte, die in ihren überlieferten Kommunikationsformen entscheidend zum "Bild" von Hatzfeld und seiner Entwicklung beitrug.
Nicht zuletzt mit dem Ergebnis des Ersten Weltkriegs war aus dem ungarischen Zsombolya/Hatzfeld ein Grenzort geworden, der zunächst bis 1924 im Nordosten Serbiens (Džombolj) lag und danach im äußersten Südwesten Rumänien hart an der Grenze zum Königreich der Serben, Kroaten und Slowenen (SHS-Staat, später Jugoslawien). Diese vorher ungewohnte Grenzlage nimmt Matthias Beer in seinem Beitrag zum Anlass, über Grenze allgemein und ihre facettenreiche Bedeutung für Hatzfeld zu reflektieren. Die äußeren Daten der Entwicklung Jimbolias/Hatzfelds zusammenfassend verweist Beer auf die migrationenauslösenden Zäsuren der kurzen, aber "ereignisreichen und prägenden" (S. 338) serbischen Periode mit dem Übergang an Rumänien sowie der Beteiligung der Banater Schwaben in der Waffen-SS am Zweiten Weltkrieg und den Folgen der "Flucht, Evakuierung und Deportation" 339, später auch der Aussiedlung der schwäbischen Bevölkerung während des kommunistischen Regimes. Mit der weiteren Zäsur des Sturzes des Regimes 1989 erfolgte dann der endgültige "Exodus" bis in die Gegenwart.
Ausgehend von zwei Zeitzeugenaussagen analysiert Beer die Zäsuren 1919/24 und 1944, die mit einer Grenzveränderung und (Zwangs)Migrationen verbunden waren. "Dabei wird bewusst auf die Doppeldeutigkeit des Begriffes Grenzerfahrungen gesetzt – Erfahrungen mit der Grenze und grenzwertige, d.h. existenzielle Erfahrungen." 343 Erstere werden mit der Grenze von 1919 und der Grenzkorrektur von 1924 verbunden, letztere vor allem mit den Ereignissen 1944/45. Detailliert kommen die Umstände zur Sprache, unter denen Hatzfeld serbisch wurde und dann 1924 rumänisch. Unter Heranziehung auch von Pressequellen zeichnet Beer die Grenzerfahrungen nach, die Hatzfeld, nun um sein Hinterland beraubt, in die Krise brachte und die Mehrheitsbevölkerung sich als Minderheit im Königreich Rumänien verstand – früh anfällig für die nationalistisch-rassistische Propaganda der "Erneuerungsbewegung". In Jimbolia/Hatzfeld wurde die erste Nazi-Ortsgruppe des Banats gegründet. Am Beispiel eines Zeitzeugen wird dann die These von den "existenziellen Grenzerfahrungen" 1944/45 illustriert. Josef Koch erlebte als Kind die Veränderungen durch die Teilnahme der Jungen am Krieg in der Waffen-SS und die Verhaftungen und Deportationen gleich nach dem rumänischen Frontwechsel und nach dem Ende des Krieges. Kochs Mutter wurde nach Dnjepropetrowsk deportiert, wo sie 1947 verstarb. Der Vater kam 1945 aus dem Krieg zurück und wurde sowohl mit der Furcht vor Interniereung als auch mit den Enteignungen konfrontiert, fand aber Arbeit bei den rumänischen Eisenbahnen (CFR). Der Band, der mit der Erinnerung an die (mehrfach verunmöglichten) Gründungsjubiläen begann, schließt mit dem Beginn der sich im Kommunismus verstärkenden Kettenmigration in die BRD als allmähliche Rückwanderung der Nachkommen der einst Eingewanderten.
Beers Versuch der Kurzschließung von Grenzerfahrungen und grenzwertigen Erfahrungen bleibt wie die Mehrzahl der anderen theoretischen
Ansätze des Bandes ("gute Ordnung", soziale Funktionalisierung von Migration, Aushandeln von Repräsentation) eher offen. Dies hat den Vorteil, dass kein abschließender oder dominierender Ansatz
die Analysen prägt, andererseits kann die Funktion solcher Theoretisierungen angesichts der historischen Fakten und Entwicklungen hinterfragt werden.
Im Fazit bietet der äußerst empfehlenswerte Band opulente, quellengestützte Darstellungen zu einem besonderen und zugleich symptomatischen Fall der Siedlungsgeschichte des Banat. Die Konzentration auf Hatzfeld erweist sich als tragfähig, die Kenntnisgewinne sind außerordentlich. Wenn es sich auch nicht um eine komplette Geschichte von Hatzfeld handelt, so stellt das Buch dennoch die ausführlichste und zugleich eine erfreulich lesbare Darstellung der Geschichte und Strukturmerkmale dieser Ansiedlung dar. Reich illustriert und solide hergestellt wird er in der Zukunft für die Forschung und alle Interessierten unentbehrlich bleiben.
Reinhard Johler (Hg.): Hatzfeld. Ordnungen im Wandel.
Cosmopolitan Art Timișoara / Schiller Verlag Hermannstadt, Bonn 2020
413 Seiten, zahlreiche Abbildungen
ISBN 978-606-988-052-4