Fortsetzung Schlechter
Bevor sich die Autorin der minuziösen Analyse des Nachlasses widmete, ergab sich durch Zufall im Jahr 2007 die Möglichkeit zum Zeitzeugeninterview mit dem bei der "Umsiedlung" jungen Medizinstudenten, aber als "SS-Gebietsarzt" in Albota eingesetzten Helmut Ritter, der wohl der letzte noch lebende Repräsentant der "Übersiedlungsverwaltung" war. Er war bereits 1939/40 bei der "Umsiedlung" von Deutschen in Ostpolen nach der Teilung zwischen Hitler-Deutschland und der Sowjetunion eingesetzt worden. Das Kapitel zu diesem Interview zeigt in den Verschleierungen des Arztes zugleich die Vereinfachungen, Naivitäten und Fehlannahmen jener Erinnerungsroutinen auf, deren Unzulänglichkeiten die Autorin zu ihrer Fragestellung und akribischen Spurensuche veranlassten. Sie selbst muss durch ihre intensive Quellenkritik erkennen, dass das "Zeitzeugen"-Interview nur die Camouflage zu einer Tätigkeit bot, die nahe an der Ermordung von Kranken durch "Euthanasie" angesiedelt sein konnte. Vor allem klären das Interview und archivalische Quellen über die strukturellen und verwaltungstechnischen Aufgaben der Ärzte und des Krankenpersonals bei der Erfassung von Kranken während der "Übersiedlung" auf. Es bietet einen Einblick in die Organisation der SS-Ärzteschaft und führt auf Spuren ihrer möglichen, vertuschten Beteiligung an Euthanasie-Morden. Die ohne dieses Wissen nur flapsig wirkende Formulierung des Arztes von der "Jagd nach Kranken" (105-117) gewinnt im Lichte der herangezogenen Quellen und Forschungsarbeiten ihre womöglich konkrete Bedeutung. Ebenso erhält die propagandistisch gedachte Behauptung, aus Bessarabien seien nur gesunde Volksdeutsche ins Reich gekommen, eine weitere, fatale Bedeutung.
Aus einem Bericht des Arztes, der in bearbeiteter Form auch seinerzeit in einer NS-Schrift über die "Umsiedlung" veröffentlicht worden war, folgert die Autorin, "dass die Aufgabe des Gebietsarztes nicht nur war, die Hilfsbedürftigen gesund über die Grenze [nach Rumänien] zu bringen, sondern dass vor allem deren bürokratische Erfassung im Vordergrund stand." (115) Mit Euthanasie will der Arzt aber nichts zu tun gehabt, sondern von dieser erst sehr viel später gehört haben. In den Schilderungen wird allerdings deutlich, dass die Familien bemüht waren, ihre kranken Kinder bei sich zu behalten und nicht der Behandlung durch die SS-Organisation oder den NS-Schwestern zu überlassen.
Kapitel II des Bandes (131-379) ist der NS-Schwesteroberin Dorothee Rakow und den in ihrem überlieferten Nachlass befindlichen Quellendokumenten gewidmet, deren Weg bis zur Übergabe an die Autorin durch die von schweren Zweifeln an den Aussagen ihrer Mutter zu ihrer Tätigkeit als NS-Schwester belasteten Tochter minuziös dargestellt wird und der individuell-persönlichen Objektivierung als Herangehensweise entspricht. Die Tochter hatte sich jahrelang um wissenschaftliches Interesse und eine Bearbeitung des einzigartigen Nachlasses bemüht und selbst ihre Fragen und Zweifel ausformuliert.
Zunächst nähert sich die Autorin durch einen ausführlichen tabellarischen "Lebenslauf" der NS-Schwester Rakow an, die gebürtig aus Soldin (Pommern) sich nach zahlreichen Stellenwechseln als Sekretärin in Berlin ihren Wunsch, Krankenschwester zu werden, erfüllte und in mehreren Einrichtungen arbeitete, bis sie 1930 ihre Ausbildung an der Nervenklinik Kiel beendet, 1933 an einer Privatnervenklinik in Dresden arbeitete und nach einer Stelle als Gemeindeschwester in Pommern 1935 der NS-Schwesterschaft beitritt und bald in Berlin höhere Funktionen erfüllt. Sie hatte bis dahin offensichtlich die Maßgabe der "Vorsorge statt Fürsorge" (169) übernommen und sich mit dem "Erbgesundheitsgesetz" von 1934 bekannt gemacht. In einem Referat zu einer Tagung schrieb sie: "Das manisch depressive Irresein ist auf erbliche Belastung zurückzuführen und fällt unter das Sterilisierungsgesetz." (170) Rakow macht Karriere innerhalb der NS-Schwesterschaft und wird 1939 Oberin und Stellvertreterin der "Generaloberin" Käthe Böttger. Sie ist seit 1937 NSDAP-Mitglied (was sie ihrer Tochter später verheimlicht) und besucht nach dem Überfall auf Polen dort ein "Judenghetto". Bei einer Veranstaltung schreibt sie Jungschwestern "soldatische Haltung, hart gegen sich selbst, die mit weitem Blick, eisernem Willen und höchster Entschlusskraft an der Gestaltung dessen arbeiten, was der Führer von uns verlangt" zu. (180; 227) Zu den Aufgaben der Schwestern gehören "Sondereinsätze" wie Kindertransporte ins Sudetenland (möglicherweise zu einer Heil- und Pflegeanstalt, die in diesem Zeitraum als Sammelort für die Euthanasie-"Aktion T4" diente).
Rakow führte im Herbst 1940 eine Gruppe von Schwestern über Wien auf der Donau nach Semlin und Galați, wo diese bei der "Umsiedlung" der Bessarabien- und Dobrudscha-Deutschen für die Kranken- und Säuglingsbetreuung zuständig sind. Später wird sie auch noch in der Bukowina tätig, ein Einsatz, den sie aber wegen Erkrankung nach 2 Wochen abbricht.
Worum es Schlechter geht, ist die Suche nach Spuren, die aus dem Material des Nachlasses Hinweise auf den Verbleib von verschwundenen Umsiedlern/Kranken geben können. So legt diese an kriminalistischen Vorbildern geschulte Methode (die Autorin verfolgt auch einen aktuellen Mordprozess an mehreren PatientInnen in der Oldenburger Klinik mit Aufmerksamkeit, 77-89) detailliert das Material aus Briefen, Berichten, Akten, vor allem aber auch Fotografien vor und sucht in 26 Spurensondierungen in Biografie und Bessarabien-Einsatz (207-368) die widersprüchlichen/dunklen/rätselhaften Stellen hervorzuheben, die Rückschlüsse auf das Geschehen unter der glatt polierten Oberfläche der NS-"Volksgemeinschaft" erlauben. Dies steht vor besonderen Schwierigkeiten, da natürlich ein Großteil der Dokumente die humanitäre Arbeit an den Gesunden oder Nicht-Behinderten oder Kindern und Säuglingen belegt und entsprechend nur "konventionelle" Arbeit von Pflegepersonal sichtbar macht. Aber was geschah mit den "erbkranken" "Volksdeutschen"? Mit den "Behinderten"? Den rassistisch Unerwünschten? Es finden sich durchaus Belege dafür, dass die NS-Schwestern in die Beseitigungsmaschinerie der NS-Euthanasie involviert waren und dies wohl auch für die Oberin Dorothee Rakow gilt. So fällt der Autorin Blick auf die Milchküche, in der Säuglinge separiert von den Eltern mit Milchpulver versorgt werden und sich eine frühe Selektion vorstellen lässt, wie sie in anderen Lagern geschah. Ein anderer Vorgang gab ebenfalls eine solche Gelegenheit, bzw. diente als Vorwand für die Ermordung: die "Entlausung". Der SS-Arzt hatte in dem Interview mit der Autorin bei Konfrontation mit einem Foto eines "Entlausungsbusses" sichtbar erschrocken ausgerufen: "Davon hab' ich nichts gewußt!" (270; 492) Auffällig ist vor allem auch, dass in dem reichen Material der Oberin Rakow nie der Personenkreis derjenigen erwähnt wird, den die von der Oberin ideologisch unterstützte Euthanasie umfasste (ihre Zustimmung zu dem Euthanasie-Propagandafilm "Ich klage an" ist explizit; 236-239; 373). In den Leerstellen und semantischen Camouflagen deutet sich an, was mit jenen Kranken geschehen sein konnte, die Bessarabien nachweislich verließen, aber nie an den Zielorten der "Umsiedlung" ankamen. Diese Vorgänge liefen zeitlich erstaunlich parallel zu der "Aktion T4", an deren vorläufigen offiziellen Ende auch Oberin Rakow aus der Struktur der NS-Schwesterschaft ausstieg: Sie heiratete überraschend nach einer Antwort auf eine Zeitungsanzeige (230-235), legte aber ihre Zustimmung zum Regime nie ab, sondern suchte später diese der Tochter gegenüber zu verheimlichen.
Hervorzuheben ist an dem Band der opulente Einsatz von Fotografien, vor allem aus dem Nachlass der NS-Schwester. Kriminalistisch werden Spuren in den Abbildungen gesucht, wie mit der Lupe Vergrößerungen gezeigt, um Details hervorzuheben, die vielleicht eher verborgen bleiben sollten - etwa, wenn es um die Abzeichen an den Mützen des Arztes geht oder um die kaum hinterfragten "Aussagen" von Landkarten.
Wenn auch die Forschung bis zur Publikation von Schlechters Ergebnissen deren ursprüngliche Fragestellung überholte (Maria Fiebrandt veröffentlichte 2014 ihre Studie über "Auslese aus der Siedlungsgemeinschaft", die die rassistischen Auswahlkriterien der Volksdeutschen Mittelstelle für die Ansiedlung und den Verbleib von Kranken anhand von in Polen aufgefundenen Krankenakten thematisiert), so besteht der große Gewinn des Bandes darin, dass anhand des akribisch edierten Nachlasses der NS-Oberin ein unerwarteter Blick auf die "Umsiedlung" und ihre Problematik geworfen wird. Die "Spurensuche" in Biografie, Nachlass, Kontext und vor allem auch in den zahlreichen Fotografien macht die Tätigkeit der ideologisch indoktrinierten Schwestern plastisch und erweitert das konkrete Wissen um die Abläufe enorm. Der Band erfüllt damit zwei Funktionen: Darstellung der Forschungen zum Umgang mit Kranken während der "Umsiedlungen" aus Bessarabien und Bukowina sowie Edition des Nachlasses der NS-Schwester Dorothee Rakow, der so zu weiteren Forschungen herangezogen werden kann. Zahlreiche Briefe und ein Tagebuch sind dort transkribiert. Das umfangreiche Material bietet Anschlussmöglichkeiten in verschiedene thematische Richtungen wie Frauen im Nationalsozialismus, Euthanasie, Pflegeinstitutionen im NS, Rezeption des Propagandafilms "Ich klage an", Umgang von Institutionen mit der Vergangenheit, etc.
Hervorzuheben ist auch der umfangreiche Anhang, in dem Abkürzungsverzeichnis, ein Namen- und ein geografisches Verzeichnis zur Spurensuche sowie alphabetisches Register und Literaturangaben die Brauchbarkeit des Bandes erhöhen. Fehler sind lediglich in der Schreibweise mancher Ortsnamen mit diakritischen Zeichen zu finden sowie die (womöglich aus der Sekundäriteratur übernommene) Bezeichnung des rumänisch 1941 eroberten "Transnistrien" als (heutige) "Pridnestrowskaja Moldawskaja Respublika" (98 A.; 692).
Susanne Schlechter: Verschwundene Umsiedler aus Bessarabien. Eine Spurensuche.
deGruyterOldenbourg Berlin 2023
(Schriften des Bundesinstitutes für Kultur und Geschichte der Deutschen im östlichen Europa, Band 84)
745 Seiten, zahlr. Abb.
ISBN 978-3-11-113587-8