Vergessen, verdrängt, verschwunden
Die Publikation der 11. Tagung des Balkanromanistenverbands
Das Verschwinden der Sprachen nimmt Thede Kahl zum Anlass, die Projekte VLACH und LAZAR vorzustellen, die Audioaufnahmen von Sprechern bedrohter Sprachen auf dem Balkan archivieren und für die Forschung bereit stellen. Das Istro-Vlachische ist bedroht, das Meglen-Vlachische zerstreut nur vorhanden, das Aromunische noch am stärksten in der Republik Makedonien, Albanien und Griechenland sowie in den benachbarten Zielländern der Auswanderung. Dies impliziert Situationen von Minderheiten und ihrer Identität, die oft auch über die Sprache definiert wird, was Rudolf Windisch in seinem Beitrag über diesen Zusammenhang von Identität und Sprache/Ethnie aspektreich reflektiert. Aufschlussreich hinsichtlich der größten balkanromanischen Sprache - dem Rumänischen - ist Alexandru Cizeks Aufsatz über deren Gräzismen und Turzismen, die auf der Basis der großen Darstellung der Turzismen von Emil Suciu (2009/10) interessante Einsichten in die Sprachbewegung der vergangenen Jahrhunderte ermöglichen. Luminiţa Fassel zeigt an der Geschichte ihrer Dissertation in der Universitätslandschaft vor 1989 die Wandlungen des lateinischen Neutrums im Rumänischen. Johannes Kramer verfolgt mit den Zuschreibungen zu den Wandlungen des Griechischen seit der Antike welche Unterschiede zu der rumänischen Situation zu beobachten sind.
Dass die auf dem Balkan vielfach anzutreffenden Mischsituationen von Sprachen auch als kreatives Moment positiv gesehen werden können, zeigt Robert Lukenda in seiner Beschäftigung mit der avantgardistischen Literatur in Slowenien, die auf drei Nationalsprachen und diverse Dialekte zurückgreifen kann.
Vor diesem für Sprachforscher immer wieder faszinierenden linguistischen Panorama spielt das historische Leben der Balkanromania als Kulturkreis. Diverse AutorInnen gehen verschiedenen Formen und Gestalten des Vergessens und Verdrängens nach. Edda Binder-Ijima folgt etwa den diversen Ausprägungen der Idee einer Balkanunion und zeigt die Wirkmächtigkeit dieser naheliegenden Utopie unter diversen Regimes und in verschiedenen Epochen. Fast vergessen ist auch der außergewöhnliche rumänische Autor und Diplomat Matila Ghyka, den Ilina Gregori anschaulich als modernen "homme complet" präsentiert, der Schriftsteller, Mathematiker, Ästhetiker, Seefahrer und anderes war. Seine Wirkung beruht besonders auf seiner Darstellung der "Nombre d'Or" des goldenen Schnitts, die Künstler wie Paul Valéry, Salvador Dali und Peter Brook begeisterte. Weitere behandelte Autoren sind der aus der Bukowina stammende Manfred Winkler (Renate Windisch-Middendorf), der nach einem längeren Autenthalt in Temeswar nach Israel ging, wo er als hebräischer wie deutschschsprachiger Lyriker aber auch als Bildhauer hervortrat. Wenig bekannt dürften auch die Werke der rumänischen Königin Elisabeth sein, die unter dem Pseudonym Carmen Sylva viel zur Vermittlung der rumänischen Kultur im Deutschland des späten 19. Jahrhunderts beitrug (Silvia Irina Zimmermann). Einen Beitrag zur Kenntnis der siebenbürgischen Situation im Reformationszeitalter steuert Anita Andrea Széll mit der Darstellung von Gaspar Heltais "Hundert Fabeln" dar: Der deutschsprachige Priester schrieb nur auf Ungarisch. In einem spanischsprachigen Beitrag verweist Laura Eugenia Tudoras auf den seinerzeit Aufsehen erregenden Roman "Dieu est né en exil" von Vintila Horia. Dieses Buch brachte 1960 dem Autor den Prix Concourt ein, den er aber aufgrund seiner öffentlich gemachten Legionärsvergangenheit nicht annehmen konnte. Architekturhistorisch erinnert Miruna Stroe an die ersten Plattenbauten ("Kvartal") der stalinistischen Epoche in Rumänien im Vergleich zu den berühmten Wiener Höfen der 1920er Jahren.
Zwei Aufsätze kommen von Horst Fassel (1942-2017), dem kürzlich verstorbenen Banater Germanisten, der lange an der Universität Iaşi arbeitete, bevor er nach Deutschland kam und zuletzt als Geschäftsführer des Instituts für donauschwäbische Geschichte und Landeskunde in Tübingen wirkte. Mit den Themen des im Ersten Weltkriegs von den deutschen Besatzern in Bukarest gegründeten Carol-Verlags und seiner Buchproduktion und der Untersuchung der Dramatik Vasile Alecsandris und ihrer möglichen aktuellen Relevanz in der Mehrsprachigkeit und Sprachmischung erweist sich Fassel noch einmal als wichtiger Forscher zur Präsenz des Deutschen jenseits der Karpaten. Die Herausgeber haben den anregenden und die Bedeutung der Balkanromanistik spiegelnden Sammelband dem Andenken an Horst Fassel gewidmet.
"Vergessen, verdrängt, verschwunden". Aufgegebene Kulturen, Beziehungen und Orientierungen in der Balkanromania. Hg. v. Thede Kahl, Mario Kreuter, Christina Vogel. Frank&Timme Berlin 2018 (= Forum: Rumänien, Bd. 35), 359 Seiten, ISBN 978-3-7329-0255-2