Fortsetzung Walachei
Aus Ovids überraschender Metapher von den Vogelschwärmen gleich agierenden Kriegern der nordischen und asiatischen Völker kann die Autorin ein weiteres Strukturmerkmal des Walachei-Bildes verfolgen, wie es etwa im Mittelalter die Nibelungensage, aber auch andere Texte transportierten. In der Epoche der umherziehenden Völker und dem Zerfall des Römischen Reichs wurde der untere Donauraum zu einer Terra incognita: 1000 Jahre lang gibt es fast keine Zeugnisse über das Geschehen während der sog. "Völkerwanderung", als die Hunnen, Petschenegen, Komanen, Goten u.a. kurzzeitige Reiche errichteten und wieder aufgaben. Im Nibelungenlied bestimmt die Ähnlichkeit zu den seit der Antike beschriebenen Reitervölkern aus Asien auch die Wahrnehmung der Bewohner hinter den Karpaten. Sie werden den Hunnen und Mongolen angenähert, vor allem wegen ihrer Kriegstaktik des Schwarms. Das Befremden bei den Kontakten wird noch durch die Schlacht von Nikopolis 1396 bestärkt, als walachische Kämpfer desertieren und den Nimbus der Unzuverlässlichkeit in den Auseinandersetzungen mit dem Osmanischen Reich für den Westen zu bestätigen scheinen. Schlupp widmet weitere sehr gewinnbringende Analysen auch der frühen Kartographie, in der vom bustäblichen "weißen Fleck" bis zur allmählichen Kenntnisnahme und Verortung der Walachei interessante historische Phänomene zu beobachten sind. Darüberhinaus prägte der religiöse Gegensatz von Orthodoxie und Katholizismus bzw. Reformation das Walachei-Bild, in das auch die Verbreitung des Vlad Țepeș-Komplexes hineinspielte.
In der Neuzeit war es vor allem das Reisezeitalter und die Aufklärung seit dem 17. Jahrhundert, die bestimmte Bilder und Kenntnisse über die Walachei im Westen transportierten. Militärisch besonders brisant gelegen zwischen "Abendland" und Osmanischem Reich wurde die unter Donau zur Zwischen- und Durchgangszone auf dem Weg nach Konstantinopel und als Gegenstand von Reisebeschreibungen näher an den Westen gebracht. Kritisch wurde nun der Zustand der unbekannten, exotischen, fremden Walachei beäugt, als "zurückgeblieben", "unterentwickelt", "rückständig" – eben "unaufgeklärt". Ursache war natürlich in den Augen der Voltaire, Cara u.a. der osmanische Despotismus, der das Aufkommen des Landes verhinderte. Hier kam auch die altbekannte Leere und Wüstheit des Landstrichs wieder zur Sprache. Immerhin geriet im Zeitalter der "Türkenkriege" die Walachei in den Fokus der westeuropäischen Debatten und hatte entscheidenden Anteil am Entstehen der Ost-West-Differenz, die es vorher so nicht gegeben hatte: "Osteuropa" wurde "erfunden" als Gegensatz zur "fortgeschrittenen" Westzivilisation, wobei auch der Vampirglauben, die orthodoxe Religion, die Zugehörigkeit zum Osmanischen Reich zu Buche schlugen. Die Autorin geht diesen Debatten mit ihren nicht zur Sprache gebrachten Voraussetzungen in der argumentativ erfreulich breiten Darlegung des Gegensatzes von Voltaires Überlegungen und ihrer satirischen Infragestellung bei dem thüringischen Autor Johann Karl Wezel nach, der in seinem Roman "Belphegor" auch die Walachei zum Handlungsort machte.
Mit der Okzidentialisierung der Walachei nach der Schwächung des osmanischen Einflusses und der Stärkung des Französischen nach einer Phase der Dominanz des Russischen wird die neue Wahrnehmung der Walachei auch als Modernisierung begriffen – natürlich vor dem Hintergrund der "Zurückgebliebenheit" der Region. Neben dem Topos der "Wüstheit" gewinnt der implizierte der "Wildheit" in Verbindung mit den dem Balkan zugeschriebenen Attributen an Bedeutung. Auch hier findet die Autorin neben dem einschlägigen Karl May überraschende Aussagen bei Karl Marx, der sich intensiv mit den osteuropäischen und balkanischen politischen Entwicklungen beschäftigte. Marx lehnte bekanntlich den Einfluss Russlands vehement ab und sah auch keinen "zivilisatorischen" des Zarenreichs auf die unter osmanischer Hoheit stehenden Länder. Die Donaufürstentümer standen im 19. Jahrhundert fast permanent im Fokus der internationalen Diskussionen und auch kriegerischen Auseinandersetzungen wie dem Krim-Krieg 1853-1856 und dem Berliner Kongress 1878 .
Mit Bram Stokers "Dracula" (1897) findet Schlupp den Übergang zu Themen der Gegenwartsliteratur, in der wie etwa bei Herta Müller oder sogar Wolfgang Herrndorfs Bestseller "Tschick" die Walachei (die als eigenes Territorium mit der Vereinigung zum rumänischen Königreich 1878 eigentlich aufhörte zu bestehen) als Sehnsuchtsort für unbestimmte Wünsche und Phantasien auftreten kann. Auch hier erweist sich Schlupps Phantasie und Beobachtungsgabe äusserst ergiebig zur Auffindung der Merkmale des Niemandslandes Walachei in der Literatur. Ihre Studie stellt ein sehr erfreuliches Beispiel einer ebenso materialreichen wie reflektierten Auseinandersetzung mit der Sprache und Rhetorik djeser rumänischen Landschaft dar.
Ana-Maria Schlupp: Walachei. Zur Herausbildung eines literarischen Topos. transcript Verlag Bielefeld 2020, 325 Seiten, 22 Abb., ISBN 978-3-8376-4783-9