Den zweiten Teil des Bandes mit dem Titel „Literature in the Plural“ eröffnet Mircea A. Diaconus Auseinandersetzung mit der Polyterritorialität des literarischen Rumäniens, die in der Vielzahl der sprachlichen Minderheiten und der Präsenz des Rumänischen in den Nachbarländern das Intersektionale dieser Literatur unübersehbar machen. Hier wird noch einmal besonders deutlich, wie sehr solche Fragen nach dem Verständnis etwa des Ungarischen oder Deutschen innerhalb der „rumänischen“ Literatur, aber auch der Situation des Rumänischen in Serbien oder der Republik Moldova geeignet sind, die nationalliterarische Perspektive zu unterminieren. Wie kompliziert die Dinge liegen, macht schon Diaconus Hinweis deutlich, dass die ungarische Literatur aus Rumänien in Ungarn selbst nur wenig Beachtung findet. Offener fasst Imre Jozsef Balazs deren komplexen Status, indem er kein System unterlegt, sondern das Bild des „whirlpools“ vorschlägt, um das Fluide jeder Zuschreibung zu kennzeichnen. In den drei beispielhaft herangezogenen Romanen ungarischsprachiger Autoren aus Siebenbürgen (Bodor, Lang, Szilagyi) wird Zugehörigkeit in Personennamen hinterfragt, diffuse Territorialität evoziert oder ein imaginäres transilvanisches Bestiarium inszeniert.
Tut sich mit dem Beitrag von Balazs ein systematischer Unterbruch in der Chronologie auf, so wird dieser mit den beiden Beiträgen von Paul Cernat und Ovidiu Morar zur rumänischen Avantgarde wieder geschlossen. Morar hebt die bewusste Entfernung der „étranjuifs“ - der jüdischen Avantgardisten - von nationalen Denkweisen angesichts des wachsenden Antisemitismus und ihrer politischen Orientierung zur sozialistischen Politik hervor. Die Avantgarde erscheint als eine Gruppe, die geradezu die inter- und transnationale Intersektionalität angestrebt habe – was allerdings die Frage aufwirft, inwieweit gerade die Herleitung aus ethnischen oder nationalen Kontexten hier angebracht ist. Denn bei allen äußeren Umständen ist die ästhetische Begründung von DADA, Futurismus, Surrealismus und Konstruktivismus nicht zu übersehen.
Avantgarde ist vor allem ästhetisch „international“ - da wirkt die Rückführung auf rumänisch-jüdische Kontexte selektiv. Wenn Cernat das von den Herausgebern für ihr Projekt favorisierte Bild der surrealistischen vases communicantes bemüht, so geschieht dies keineswegs, um die internationale Avantgardebewegung in ihrer Beziehung zur rumänischen zu bezeichnen, sondern um deren sicher weitgehend zutreffend als „links“ charakterisierte politische Ausrichtung als keinesfalls notwendige der „Moderne“ zu qualifizieren. Vielmehr zeige auch die 'konservative Revolution' oder die „arrière-garde“ alle Zeichen jenes den Avantgarden zugeschriebenen Aufbruchs und Veränderungswillens der Modernen. Auch diese Umgehung der ästhetischen Konzepte der Avantgarde scheint von der eigentlichen Fragestellung der Intersektionalität einer weltweit präsenten literarisch-künstlerischen Bewegung wegzuführen. Es wäre eher zu fragen, weshalb die rumänischen VertreterInnen dieser Bewegung kaum eine größere Aufmerksamkeit außerhalb Rumäniens erlangten. Hingegen ist das Trio Eliade-Cioran-Ionescu trotz oder gerade wegen seiner rechtsextremen Vergangenheit mittlerweile weltweit bekannt. Ihren Aufstieg beschreibt Mihai Iovănel im ersten Beitrag des dritten Buchteils "Over Deep Time, Across Long Space" als „Spiel”,in dem das Trio es auf unterschiedliche Weise zu weltweiter Beachtung brachte und somit scheinbar die fehlende Welthaltigkeit rumänischer Literatur konterkarierte. Allerdings wirkt die Metapher vom „Spiel“ um den Aufstieg in die „Spitzenklasse“ der Weltkultur etwas abgehoben von den realen Biografien und ihren sehr unterschiedlichenProblemstellungen. Mitherausgeber Mircea Martin führt in der Chronologie folgend die Ära des „Sozialistischen Realismus“ als eine aufgezwungene, bizarr-widersprüchliche und anti-ästhetische „Ökumene“ von Berlin bis Peking vor – eine trotz ihrer propagierten „Internationalität“ wenig produktive, in Rumänien von 1948 bis in die '60er Jahre von der Partei aufokroyierte Vorgabe. Bogdan Ștefanescu nimmt Martins Ausführungen auf, um die Folgen nach dem Fall des Kommunismus für die Gesellschaften und Kulturen des untergegangenen Sowjetimperiums anhand des Begriffs der „Leere“ (void) zu resümieren. Er tut dies in der Perspektive einer Strukturähnlichkeit der Situation der postkommunistischen zu den postkolonialen Gesellschaften.„I further submit, that all these countries instantiate the same postcolonial situation, namely a widespread sense of lack and emptiness that comes from viewing one's culture as irreparably traumatized by an alien and malignant modernity.” (255) Von dieser „nodal convergence of postcolonial discourses“ aus verfolgt Ștefănescu allerdings sein Thema zurück bis zur Hegemonie westlicher Kultur seit Dimitrie Cantemir, um nachzuweisen, dass innerhalb des globalen Systems der Kultur sich Intersektionen auch ohne direkten Kontakt herstellen. Dies trifft in gewisser Weise auch auf die überraschende Rezeption der US-amerikanischen „Beat“-Generation durch die optzeciștii - allen voran Mircea Cărtărescu, aber auch Florin Iaru, Traian T. Coșovei, Mariana Marin, Alexandru Mușina – zu, deren Übernahme von Motiven, Topoi, Schreibweisen von Allen Ginsberg oder Lawrence Ferlinghetti Teodora Dumitru kritisch auf ihren Beitrag zur komplexen Widerständigkeit gegen das System oder als postmoderne Variante einer Rezeption liest.
Aber auch hier taucht wie ein „bucklicht Männlein“ wieder die offensichtlich spezifisch 'rumänische', im planetaren Kontext allerdings wenig ergiebige Frage nach 'eigen' und 'fremd' auf. Sollte bereits die Diskussion um die internationale Avantgardebewegung oder die Entdeckung der Polyterritorialität der „Mikroliteratur“ die geringe Relevanz dieser Perspektive herausgearbeitet haben, so unternimmt Doris Mironescu eine Neukonzeption des Raumes der Exilliteratur am Beispiel von Herta Müller, Norman Manea und Andrei Codrescu, in der die Neuerungen der Theorieproduktion ihr gelungenes Echo finden. Mironescu zeigt überzeugend, dass die Fragen der „state centric epistemology“ zu keiner Lösung führen, sondern die Komplexität des exilischen Raumes eine neue Formulierung in der Gegenwart erfordert. Er findet sie in den spezifischen Raumallegorien der exilierten AutorInnen wie den Gegenständen und ihren Gehäusen in Müllers Atempause, Maneas Erinnerungsräumen oder Codrescus Metamorphosen der Keramik als Ort der Darstellung von Erinnerungen. Den Band abschließend widmet sich unter Rückgriff auf Cărtărescus u.a. Rezeption der Beat-Lyrik Mihaela Ursu der evidenten Funktion von Übersetzungen für die Realität der nodalen Intersektionen. Sie verweist auf den Anteil von Übersetzungen am "nationalen" Projekt des jungen Staates Rumänien - eine Beschränkung der Übersetzungsfunktion, die sich erst gegen Ende des kommunistischen Regimes löste und zu einer Perspektive auf Translationen als unverzichtbaren Teil des planetaren Literatursystems führt. Ursu entgeht dabei nicht, dass die Zahlen ein deutliches Gefälle aufweisen, an dessen unterem Sockel das Rumänische sich befindet, auf das Übersetzungen aus dem Englischen und Französischen geradezu einstürzen - den umgekehrten Weg finden weniger Texte.
Mit diesen translatologischen Perspektiven endet der vielseitige und umfassende Band, zu dem abschließend hier noch einige Bemerkungen anzubringen sind. Hervorzuheben ist, dass die Breite der Anlage des Projekts im Ergebnis einen Gang durch die rumänische Literaturgeschichte unter der Perspektive ihres Verhältnisses zur "Welt" ermöglicht. Dabei treten eine Fülle von neuen oder auch nur vergessenen oder übersehenen Aspekten der rumänischen Literatur ans Licht. Der Ansatz soll zudem auch die rumänische Literatur als Teil eines System von nodalen Intersektionen eines planetaren Literaturverhältnissen profilieren, was insgesamt gesehen auch durchaus gelingt.
Theoretisch allerdings bleibt das Problem ungelöst, welche Funktion die Annahme von der planetarischen Literatur erfüllt: Wie einige AutorInnen kritisch anmerken, ist das Ungleichgewicht in der Wahrnehmung rumänischer Literatur nicht durch dieses offensichtlich vor allem in der englischsprachigen Welt entstandene Theoriegebäude in der Realität aufzuheben. Andererseits bedienen einige BeiträgerInnen bis in die Gegenwart das in der Anlage des Bandes kritisierte, in der Phase der Nationalstaatsgründung formulierte Theorem von der "leeren" "Imitation" "fremder" Formen, statt die durch die planetare Reichweite des Literatursystems gebotene Relativierung jedweder nationalen Geschichtsschreibung als produktives Moment der Profilierung der Literatur rumänischer Sprache zu verstehen. Dies gilt insbesondere da, wo transnationale oder kosmopolitische ästhetische Bewegungen auf nationale Zuschreibungen verzichteten.
Alles in allem betritt die rumänische Philologie mit diesem in Englisch verfassten voluminösen Band eine inter-, trans- und postnationale Ebene der Theoriebildung, die absehbar ihre Auswirkungen auf die Literaturgeschichtsschreibung und die Auseinandersetzung mit der "Welt" und der "rumänischen Literatur" haben wird. Dieser Meilenstein der Philologie aus Rumänien zeigt überzeugend, wie sehr auch die rumänische Literatur aus ihrer Auseinandersetzung mit der "Welt" schöpft(e) und dass eine Abschottung von diesen Einflüssen in keiner Phase der Geschichte vollständig sein konnte.
Romanian Literature as World Literature. Edited by Mircea Martin, Christian Moraru and Andrei Terian. New York, London, Oxford: Bloomsbury Academic 2018 (Literatures as World Literature), 357 Seiten, ISBN 978-1-5013-2791-9